$0047

Manchmal ist sein Pflichtbewusstsein echt krankhaft. Was kann schon passieren? Steht hier irgendwo John rum und kritzelt einen Mahnbalken in unsere Personalakte, wenn wir uns die Datei kurz anschauen? Nein, wir sind einmal um die halbe Welt gegondelt, haben das Gesetz gebrochen, durch den ganzen Schlafentzug wer weiß wie viele Falten riskiert - jetzt muss ein Blick auf lIvings Erbe drin sein.

»Komm schon, nur ganz kurz!«

Der Beifahrer hält seine Hände schützend über die Tastatur.

»Keine Chance.«

Erst mal Humor testen.

»Du willst es doch auch, du Stück!«

Nick lacht zwar, nimmt seine Scheiß-Grapscher aber keinen Zentimeter weg.

»Willst du nicht wissen, was Irving dazu gebracht hat, sein Einsiedlerloch zu verlassen? Denk mal drüber nach: Warum ist Obi-Wan aus seiner Hütte gekrochen?«

Der saß. Schon fängt Nick an, sich übers Kinn zu reiben - klares Zeichen dafür, dass er die Optionen durchspielt. Erstaunlich, wie schnell sich sein Widerstand heute brechen lässt. Muss die Aussicht darauf sein, bald nach Hause zu kommen. Zögernd nimmt er die Hände von der Tastatur weg.

»Okay, aber nur kurz. Ich habe hier drinnen irgendwie ein komisches Gefühl.«

Und? Jetzt mach schon. Mit ein paar sicheren Tastendrücken öffnet er die Datei THE_ BUG; stimmt, er hat ja Übung von seinem Nasa-Einsatz. Das muss auch noch besprochen werden. Noch einmal Enter, dann gibt das System sein Geheimnis preis. Und es sieht nicht nett aus. Gar nicht nett, sondern nach etwas, das unschuldige Leute in den Knast bringt. Das Datensichtgerät flackert unter der unerwartet hohen Ladung. Grobe Bitmap-Grafiken blitzen auf, schwarz-weiß, oder eher: schwarz-grün. Linien, Dreiecke, NAND-Gatter. Muss ein Schaltplan sein. Nick schaltet mit der Leertaste auf das nächste Bild. Wieder Schaltpläne, noch detaillierter. Klick, weiter. Noch ein Schaltplan. Klick. Noch ein ... nein, eine Straßenkarte oder so. Wirre horizontale und vertikale Linien, als ob ein Kind wahllos an einem Etch-a- Sketch rumgedreht hätte, diesem roten Teil mit den zwei Knöpfen dran, mit dem man wunderbare gerade Linien zeichnen konnte - aber niemals Diagonalen.

»Chip-Layouts«, diagnostiziert der Beifahrer knapp. Auf seiner Stirn kräuseln sich Sorgenfalten zusammen, wie die ersten Wellen vor dem Sturm. Er schaltet einen Gang hoch, drückt im Sekundentakt auf Space, immer schneller, bis alle Grafiken nur noch vorbeirasen. War da am Schluss noch Text? Leertaste, Leertaste, Leertaste. Escape. Nick reißt die Hände von der Tastatur weg, als ob er auf eine heiße Herdplatte gefasst hätte. Zu heiß, vielleicht hat er Recht. Wir sollten langsam hier rauskommen.

»Soweit zu THE_BUG-und jetzt?«

»Jetzt, mein Freund ...«

Er redet nicht weiter, sondern stößt sich vom Schreibtisch ab - mit etwas zu viel Schwung. Der Drehstuhl rattert ungebremst Richtung Series/1 zu, fährt auf einen Kabelstrang auf, und zack. Nick muss das Bein hektisch ausfahren, um nicht umzukippen. Tja, Übermut. Er lacht etwas verlegen und setzt nochmal an.

»Jetzt, mein Freund, werde ich dir die Medienpower dieses voll einsatzbereiten Computers demonstrieren.«

Er macht eine Handbewegung wie einer dieser abgewichsten Moderatoren im Einkaufsfernsehen und zeigt auf einen kleinen schwarzen Schlitz im Gehäuse des Rechners.

»Ich präsentiere: ein Diskettenlaufwerk. Und zwar eines der ersten, glaube ich.«

»Sehr cool. Fünfeinviertel Zoll?«

»Aber bitte.«

Nick tut angewidert.

»So einen neumodischen Kram gab es Mitte der Siebziger noch nicht. Nein, satte acht Zoll.«

Er zieht den schwarzen Plastiklappen kurz raus dem Laufwerk. Unspektakulär, genau wie die alten Disketten für den Commodore 64, nur halt ein bisschen größer, eher wie eine Vinyl-Single. Dass sie nicht beschriftet ist, macht ihn bestimmt jetzt schon rasend. In diesem Punkt war er schon immer total penibel: Immer wenn ich früher mit meinem Stapel Floppys der Marke Elephant anrückte, mäkelte er rum, ich solle doch wenigstens mal Zahlen draufkleben.

»sonst findest du doch nichts wieder«.

Dabei ließen sich die Disks doch ganz leicht auseinanderhalten: Die mit Impossible Mission drauf zum Beispiel war daran zu erkennen, dass der kleine Schlitz, der verhinderte, dass man die Seite überspielt, mit einem goldenen Aufkleber zugepappt war - alle anderen mit einem schwarzen. Was ist daran unordentlich? Er hatte seine Schätze natürlich durchnummeriert und extra ein Verwaltungsprogramm für seine Cracks geschrieben. Selbst im Gesetzesbruch noch ordentlich, so ist er, der Beifahrer.

»Passt Irvings Lebenswerk da drauf?«, erkundige ich mich.

»Denke schon, ist ja nur eine einzige Datei.«

Nick rollt den Stuhl, diesmal vorsichtig, wieder zum Terminal zurück.

»Auf die Achtzoller passen maximal 606 Kilobyte, und THE_BUG hat ...«

Weiteres Tastaturklickern.

»Nicht mal die Hälfte. Es kann also losgehen.«

Enter. Wir erledigen den letzten Teil unseres Auftrag: Irvings digitales Erbe, die Datei THE_BUG, wandert Byte für Byte von den Waschmaschinen zum Diskettenlaufwerk rüber. Und ganz nebenbei erfüllen wir uns einen Lebenstraum: Die Helden werden gleich mit einer Diskette in der Hand in den Sonnenuntergang reiten, yeah! Eigentlich müsste das Diskettenlaufwerk jetzt laufen, tut es wohl auch, nur hört man nichts davon, weil die IBM-Festplatten alles niederdröhnen. Ich halte das Ohr an das Gehäuse des Series/1. Doch, ein Schrittmotor gurgelt. Nick faltet die Hände und stützt sich zufrieden mit den Ellenbogen auf die Armlehnen seines Bürostuhls. Mir bleibt nur der Platz am Boden, aber egal, ab jetzt können wir die Klamotten ja abranzen lassen. Die Mission ist fast erfüllt. Ausnahmsweise schmeißt sich Nick das Cape von Captain Obvious über und verkündet das Offensichtliche.

»Jetzt heißt es warten.«

$0048

Wie jetzt - »zu dritt«? Wovon redet er? Kriegen die ein Kind oder was? Sie kriegen. Wir sitzen in einem Raketensilo im Nordwesten der Vereinigten Staaten und Nick teilt mir mit, dass Sabina schwanger ist. Einfach so. Als ob es keinen besseren Ort dafür gäbe. Haut das einfach raus, der Idiot.

»Ach übrigens, Sabina und ich sind bald nicht mehr alleine.«

Zehn Worte, mehr war ihm die Nachricht nicht wert. Hättest ja wenigstens vorher mal was andeuten können, Alter. Flash, Kinder. Auf dieser Dienstreise ist ja schon viel passiert, was noch vor ein paar Tagen wie eine völlig abgespacete Spinnerei erschien, aber das ist echt eine Nummer zu groß. Kinder. Das gehörte zu den Sachen, die unerreichbar weit weg hinterm Y2K-Schleier schlummerten, jenseits der magischen Grenze des Jahres 2000, hinter der auch unsere Vorstellung endete. Was würden wir mit Ende zwanzig, Anfang dreißig machen? Keine Ahnung. Kinder, vielleicht - aber eben nur vielleicht! Was sagt man in so einem Fall?

»Und wie ist das passiert?«, haspele ich. Wow, was für eine Frage ... Der Beifahrer grinst.

»Wie genau willst du es denn wissen?«

Stimmt, wie wäre es mit gar nicht? Obwohl: Vielleicht doch ein bisschen, schließlich war ja Sabina beteiligt. Nein, doch besser nicht. Nachher werde ich Patenonkel oder so, und dann darf man über so was schon erst recht nicht mehr nachdenken. Gedanken-Domestos drüber und das Ganze nochmal recht höflich.

»Hast Recht, blöde Frage. Ich meine natürlich - Glückwunsch.«

Ich stehe auf und laufe mit der ausgestreckten Hand auf ihn zu. Nick bleibt zunächst sitzen, springt dann etwas ungelenk auf, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihm auf den Rücken zu hauen. Wir liegen uns eine heterosexuelle Nanosekunde im Arm, danach kehrt jeder wieder erleichtert auf seinen Posten zurück. Was wird denn im Film in solchen Situationen immer gefragt? Genau.

»Was wird es denn?«, erkundige ich mich. Nick zuckt mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ist noch zu früh.«

»Ja, Mensch ...«

Wann ist die verdammte Datei endlich auf die verdammte Diskette überspielt?

»... das ist ja toll ...«

Mehr Floskeln, ich brauche mehr Floskeln.

»... und was macht ihr jetzt?«

Der Beifahrer guckt noch fragender.

»Wie - machen? Wir machen weiter wie bisher. Ist außerdem ja noch ein halbes Jahr hin und so. Kein Grund zur Panik.«

Genau, ist ja noch Ewigkeiten hin. Noch reichlich Zeit, sich ein paar bessere Fragen auszudenken. Gottseidank: Nick dreht sich zum Terminal um, um mir zu signalisieren, dass ich mir keine weiteren Pseudofragen abdrücken muss. Er weiß, was sich gehört. Nickybaby wird Vater. Der Hammer. Macht er aber bestimmt ordentlich. So ein guter Mensch wie er ist, zieht er das Vaterding sicher vorbildlich durch. Und sie kriegen bestimmt einen Sohn. Mensch, was wird er stolz sein. Und Sabina, die kickt dann in der richtigen MILF-Liga. Ich beneide ihn, mehr als ohnehin schon. Er kann dann all diese tollen Vatersachen machen, zum Beispiel im Italienurlaub an der Tanke ein Burago-Auto springen lassen, natürlich einen Lamborghini Countach oder welche Kiste im Quartett gerade alle anderen verbläst. Oder er kann vormachen, wie man so ein Windrad faltet, das den ganzen Strand langfährt, bis es irgendwann in der Gischt landet und aufweicht. Schön. Da lohnt es sich, nach Hause zu kommen.

$0049

2:00 pm steht am Rand des Bildschirms, als Nick die Diskette aus dem Laufwerk zieht. Genau zwei Uhr. Komisch, wenn in Filmen oder Games die Uhrzeit eingeblendet wird, sind das immer krumme Zahlen. Zum Beispiel: PENTAGON, 8:37 UHR. Natürlich Buchstabe für Buchstaben aufgebaut, mit einem abgeschmackten Tastaturpiepsen dazu. Oder: CIA-HAUPTQUARTIER, 11:29 UHR. Zur vollen Stunde passiert in Filmen nie was. Jetzt bleibt nur noch eins zu tun: Wir müssen diesen seltsamen Befehl von Major Tom ausführen und das Original von THE_BUG auf den alten Festplatten löschen. Was ist der Punkt bei der Aktion? Die Chancen, dass jemand diesen Ort lokalisiert, zwei Codeschlösser knackt und dann noch ein System ll bedienen kann, sind gleich Null. Vorher bricht der ganze Bau hier zusammen, das kann ohnehin nicht mehr lange dauern. Doch der brave Angestellte des Monats führt den Befehl seines Vorgesetzten natürlich aus - obwohl er Bauchschmerzen dabei hat, das sieht man ihm an. Eine so wertvolle Information wie THE_BUG nur einem einzigen Medium anzuvertrauen, obendrein einer ollen Acht-Zoll-Diskette, ist purer Leichtsinn. Es gibt ja nicht mehr viele Regeln, die heutzutage immer und überall gelten. Bis auf diese eine: Mach immer eine Sicherheitskopie, du Idiot! Nick kneift die Augen zusammen, als er den Löschbefehl bestätigt. Klick. Ab jetzt lebt THE_BUG nur noch auf einer hauchdünnen Magnetschicht, die zwischen zwei Plastikfolien eingeklemmt ist. Ein sehr zerbrechliches Zuhause: Wir dürfen nicht hinfallen, die Floppy nicht knicken, nicht an Boxen oder Magneten vorbeigehen, müssen Temperaturunterschiede vermeiden, Feuchtigkeit und so weiter und so fort. Theoretisch dürften wir uns also nicht mehr bewegen. Zurück bleibt ein IBM Series/1 mit einer leergefegten 3330-Festplatten- Station; ab jetzt rotieren die Waschmaschinen umsonst. Wir kleben mit den Gesichtern vor dem Monitor, saugen nochmal das satte Grün auf und sagen dem System still Lebewohl. Logout. Nick steckt die Diskette in ihre Papierhülle.

»Fertig?«

»Fertig«, sage ich. Noch ein letzter Blick durch die Halle, dann setzt sich unsere Freak-Prozession in Bewegung. Vorne der Beifahrer, die allerheiligste Diskette am ausgestrecktem Arm vor sich herbalancierend. dahinter ich, der Assistent mit leeren Händen. So tänzeln wir durch das Atomraketen-Silo. Nach ein paar Metern rollt der erste Lachanfall ran.

»Kannst du nicht wenigstens den Arm runternehmen?«, frage ich.

»Mann, ich habe Angst, mit dem Teil irgendwo dranzustoßen«, presst Nick raus, während er voll konzentriert nach Hindernissen auf dem Boden Ausschau hält. Wie lustig wäre es, ihn jetzt gegen die Wand zu schubsen, aber geht ja leider nicht - potenzielle Todesgefahr für die Floppy. So bleibt uns nichts übrig, als still in uns hineinzugackern. Nick hyperventiliert leicht und fängt an, rumzuquasseln.

»An dieser Stelle müsste aus dem Off Fly me to the Moon oder so einblendet werden, während von unten die ersten Zeilen des Abspanns hochkriechen.«

»Dazu fährt die Kamera hoch unter die Betonkuppel. dann Zoom raus, bis wir nur noch aussehen wie zwei Ameisen auf einem leeren Bürgersteig.«

Das ist genau das Zeug, von dem der Beifahrer nicht genug kriegen kann.

»Ach ja, der Regisseur dankt folgenden Firmen und Organisationen: IBM, der Gemeinde von Batum/Washington ...«

»... und natürlich dem Strategic Air Command für die Nutzung der beeindruckenden Kulissen«, loche ich ein. Großer Lacherfolg. Mit jedem Schritt werden die Füße ein bisschen leichter. Es geht heim, und da wird alles ganz anders sein als vor unserer Abfahrt. Was sich wohl in den letzten paar Tagen getan hat im Dorint? Wahrscheinlich sind wieder neue Studis nebenan oder unten eingezogen, weil einer der Mieter sein Examen gemacht hat. Neue Liebe-Nachbarn-heute-Abend-kann-es-etwas-Iauter-werden-Partywarnungen an der Pinnwand im Flur. Vielleicht ist es wirklich langsam Zeit, da auszuziehen. Als wir bei der Druckschleuse sind, joggen wir schon fast, und Nick schlängelt sich leichtsinnig schnell durch die Öffnung.

»Sieht aus wie bei Das Boot«, ruft er zu mir nach hinten. Zeit für das unvermeidliche Pennäler-Zitat.

»Anblasen, Herr Kaleu!«

Für Nick reicht er. Er schmeißt sich weg, als ob er wieder zwölf wäre.

»Geht doch nichts über einen schönen, langsamen ...«

»Nachmittagsf...«

Lachend traben wir den Endlos-Gang runter. Irgendwie stinkt es auch nur noch halb so schlimm.

»Also, das mit dem Kind - das ist ja echt toll«, stelle ich nochmal klar.

»Ist ja gut. Können wir jetzt wieder über was Normales reden?«, schreit der Beifahrer zurück, »dieses Babygequatsche nervt ja jetzt schon. Kind hier, Kind da!«

Nein, es ist wirklich toll. Aber wie er schon sagt: Es gibt noch viel Zeit, um darüber zu reden. In einem anderen Leben, wenn wir wieder zuhause sind. Abbremsen, rein ins Treppenhaus. Erster Absatz, zweiter Absatz. Nick hechtet die Treppen rauf, als ob er es geradezu drauf anlegt, mit der Diskette hinzufallen. Vielleicht hätte ich doch lieber das Teil nehmen sollen.

»Willst du mit der Floppy hier aufwischen?«, brülle ich hoch.

»Und wenn schon«, schreit der Beifahrer, so laut, dass sich seine Stimme überschlägt. Krach, die schwere Edelstahltür fliegt auf, die Sonne brennt rein. Wir sind endlich wieder raus aus Vaters Höhle. Jetzt bloß nicht nachlassen.

»Wer zuerst am Auto ist, muss das Schleusenbier heute Abend zahlen«, schlage ich vor.

»Ock«, keucht Nick. Das eingebildete Minenfeld ist gottseidank verschwunden. Nachdem wir gesehen haben, wie nachlässig Irving mit seinen wertvollen Datenschätzen umgeht, trauen wir ihm so etwas nicht mehr zu. Wir rennen einfach quer über den Schotterplatz, den kürzesten Weg zum Haupttor. Nick baut sogar einen kleinen Schlenker ein, um übermütig eines der Markierungshölzchen aus dem Boden zu treten. Punk!

»Wenn der Film so richtig abgeschmackt ist, teilt sich am Schluss das Bild auf«, hechelt Nick, »rechts läuft der Abspann weiter und links kommen ein paar Patzer von den Dreharbeiten.«

»Klarer Kandidat: Zwei Jungs krepeln rum, um betrunken zwei Nachttische vor eine Hoteltür zu schieben.«

Und so geht es weiter. Nick macht einen Witz, ich versuche ihn zu überbieten, scheitere, fange ein neues Match an. Wir lachen und rennen, als ob wir schon auf den letzten zehn Metern vor unserer Haustür wären. Nur eines machen wir nicht: nach vorne gucken. Sonst hätten wir ihn sicher viel früher gesehen - diesen kleinen grauen Punkt vor dem bordeauxroten Punkt unseres Rentnermobils.

$004A

Zwei Schritte einatmen, zwei ausatmen, immer schön aus dem Mund, sonst gibt's Seitenstiche. Genau wie es uns Linder damals eingepaukt hat. Linder der Schinder, dieser verdammte Sportnazi. Hat uns alle immer seine »Knochen« genannt und erst aufgegeben, nachdem er alle zerbrochen hatte, selbst die härtesten Knochen. Wenn er dir Hilfestellung gab, am gehassten Stufenbarren, und ganz nah rankam, konntest du seine Fahne riechen. Und ständig angegeben hat er, zum Beispiel damit, wie sehr er seine Frau gestern Abend wieder »genommen« hätte. War damals so alt wie wir heute, an diesem bitteren Punkt angekommen, an dem man merkt, dass Erfahrung immer gegen Energie verliert. Zwei Schritte ein, zwei Schritte aus. Fuck, wie soll das funktionieren? Die Luft reicht nicht mal für einen Schritt. Wir rennen, schneller als jemals in unserem kleinen Leben. Bundesjugendspiele. Das einzige Wort, bei dem Bundes-davor nicht schön klingt. Der Busfahrer ist nicht blöd. Wartet schön in seinem klimatisierten Wagen, bis wir die Arbeit erledigt haben, schlägt sich dann ins Gebüsch und muss uns nur noch einkassieren. Auf einmal stand er da, hinten, auf der Straße. Mit seinem blauen Sakko und der grauen Flanellhose, als ob er sich seit unserer Begegnung auf dem Flughafen nicht mehr umgezogen hätte. Seine Augen waren immer noch tot.

»Hey you!«, hat er gebrüllt. Nick wusste sofort Bescheid und hat kehrt gemacht. Ein Schritt ein, ein Schritt aus. Wir müssen nur schneller rennen als er, das ist alles. Der Boden rast vorbei. Wüste, Steinchen, eine alte Plastiktüte. Umschauen. Was? Das kann nicht sein! Der holt auf - obwohl er Ledersohlen anhat und älter ist. Die ganze lästige Körperverwaltung war umsonst, wir werden die Jocks niemals schlagen. War eigentlich immer klar. Halber Schritt ein, halber Schritt aus - ach, Scheiß auf die Atmung. Bestimmt hat sich Linder längst vor 'nen Zug geworfen, geschieht ihm Recht. Hat Malte bei der irren Hitze damals einfach weiterlaufen lassen, bis ihn die Malteser-Jungs vom Ascheplatz tragen mussten, der Arsch. Nick reißt den Kopfrum. Sein Gesicht ist knallrot, hart am Limit. Du siehst richtig, Alter, der alte Sack holt auf. Früher in der Schule war Nick immer sehr stolz auf seine 100-Meter-Zeit, eigentlich sehr un-nerdmäßig. Oder vielleicht doch nicht un-nerdmäßig.

»Was braucht man im Leben? Strom und eine gute 100-Meter- Zeit«, war einer seiner Standardwitze. Und heute stimmt es sogar mal. Ich ziehe an ihm vorbei, mal kurz raus aus seiner Staubfahne. Schluss mit dem Atemrhythmus. Pumpen, was das Zeug hält. Wenn wir noch eine Meile weitermachen, kackt der Busfahrer vielleicht ab, mit seinen glatten Ledersohlen. Und hinterherfahren kann er uns auch nicht. Zu viele große Steine, selbst für einen Geländewagen. Bloß was dann? Auf dem Sat-Foto war in alle Richtungen nur Wüste zu sehen. Vielleicht sollten wir in einem großen Bogen zurück zur Straße laufen, dann trampen, die Cops holen. Aber was sagen wir denen? Da war dieser Mann, der uns unsere Diskette klauen wollte, die wir im Atomraketensilo mitgenommen haben, in das wir eingebrochen sind. Seitenstechen, ausgerechnet jetzt. Wenn Captain Obvious und sein Beifahrer nur noch ein bisschen durchhalten, bringen sie das Ding sicher nach Hause, kein Problem. Oder, Nick? Blick zurück. Nick? Fuck!

$004C

Es musste ja kommen. Und jetzt ist es da. Letztes Extraleben verspielt, keine zehn Sekunden mehr übrig, um eine Mark nachzuwerfen, kein geheimer Poke in der Hinterhand, der uns den Arsch rettet. Das Ende der Glückssträhne. Wir dachten immer, es käme ganz groß, mit Feuerwerk, FBI und so. Doch am Ende des letzten Tages war es nur ein beschissener kleiner Felsbrocken. Hat Nick einfach das Bein weggerissen. Jetzt liegt er da und schreit. Sein Fuß steht so komisch ab. Nur die blöde Floppy, die hat keinen Kratzer abbekommen. Anstatt sie loszulassen, hat er lieber mit dem Kopf gebremst, der Idiot. Umschauen. Noch ist der Busfahrer nur ein paar Pixel groß. Doch in ein, zwei Minuten hat er garantiert alles aufgeholt, wenn wir hier weiter rumsitzen. Woher wusste er nur, dass wir hier sind? Der GPS-Störsender muss kaputt sein, der Beifahrer hat wahrscheinlich zu oft dran rumgespielt.

»Komm schon!«

Ich zerre an Nicks T-Shirt, versuche, ihn hochzuhieven. Keine Chance.

»Was ist? Sag was!«

Aber er krümmt sich nur, umklammert sein Fußgelenk. Tränen laufen seine Nasespitze runter, er schreit immer weiter. Totaler Crash. Wahrscheinlich irgendwas gebrochen, das wird nichts mehr. Und jetzt? Nick bäumt sich auf. Er sieht halb tot aus im Gesicht. Überall klebt Staub, auf der rechten Wange auch Blut.

»Hau ab!«, schreit er. Und dann nochmal, so laut er kann.

»Hau ab, Alter!«

Alter? Willkommen zurück. Trotzdem: So geht das nicht. Nicht nochmal, nicht wie damals in der Ziegelei.

»Auf keinen beschissenen Fall!«

Warum ist es auf einmal so laut hier? Nein, die Sache ist klar. Han Solo wird sich nicht einfach so mit seiner Belohnung davonmachen. Wir werden zusammen warten. Ich setze mich in den Staub, hebe seinen Kopf hoch und lege ihn auf meinem Bein ab, damit er's bequemer hat. Seine Tränen ziehen dunkelblaue Linien über die Jeans. Er zittert, kriegt nichts mehr mit. Mach dir keine Sorgen, Alter, mach dir keine Sorgen. Jetzt nur noch selbst dran glauben. Der Busfahrer hat schon wieder ein paar Pixel zugelegt, sieht alles nicht gut aus. Wie viele Jahre ist das jetzt her, dass du bei uns auf die Schule kamst? Zwanzig ungefähr. Ihr wart aus Saarbrücken rübergezogen, was auch das andere Ende der Welt hätte sein können, weil es außerhalb unserer Satellitenstadt lag, also unendlich weit weg. Schnell war klar: Du warst ein Gleichgesinnter, trotz deiner peinlichen Schnellficker-Slipper und den Polohemden unter den Sweatshirts. Ein paar Wochen später lagen wir schon in einem Efeubeet vor einer Studi-Party, auf der sie uns - die kleinen Schüler - natürlich nicht reinlassen wollten, und grölten oberhacke »und wir sind Helden, fur eine Mark«, Und Helden müssen doch zusammenhalten. Eine Ameise klettert den verirrten Weizenhalm neben meiner Hand hoch und genießt die Aussicht. Wenn der Tag nicht so schön wäre. Eine einzige Mini-Wolke schwebt über uns, wie von Derek Meddings an einer Angelschnur aufgehängt. Jetzt kommen sie. Sie kommen, uns zu holen. Und sie werden uns auch finden, Herr Hölzel, haha. Aber zumindest werden sie uns beide finden.

$004D

Der Hubschrauber kam ganz tief rein. Du hast ihn zuerst gesehen, ich hab's nicht gerafft. Erst ein schwarzer Fleck mit einem schwarzen Strich dran, ganz dicht über dem Horizont. Der erste Gedanke: wahrscheinlich nur ein Sprühflugzeug, wie bei »North by Northwest« mit Cary Grant. Habe nie verstanden, warum er sich nicht einfach auf den Boden gelegt hat, als die Maschine ihn niedermähen wollte. Der Pilot hätte doch niemals riskiert, aus Versehen mit dem Fahrwerk den Boden zu berühren, dann wäre er doch gecrasht. Auf einmal war der Helikopter ganz nah, ist direkt über uns rübergedonnert. Wie ein Raubvogel, der die Beute anvisiert, bevor er ihr das Genick bricht. Schatten über dem Kopf - warum ist das so unangenehm? Fast so schlimm wie Schatten unter einem, während man im Meer schwimmt und zwei Wochen vorher zum ersten Mal »Der weiße Hai« gesehen hat. Wahrscheinlich wieder so ein Steinzeit-Scheiß in den Genen, damit man vor Gewitter oder großen Tieren wegrennt. Jetzt dreht er hinten noch eine Runde, um zurückzukommen und uns den Rest zu geben. Wird ihre Verstärkung sein. Wir haben ausgeschissen. Vorne der Heli, hinten der Busfahrer. und wir können nicht weg. Aus seinen verheulten Augen schaut der Beifahrer hoch.

»BellJet Ranger«, keucht er, mehr nicht. Das gleiche Modell wie im Vorspann zu »Colt für alle Fälle«, da, wo Herr Seavers an der Kufe des Hubschraubers hängt. Der klassische Seventies-Helikopter, aber nicht so gut wie der deutsche BO-105. Der kann nämlich sogar auf dem Kopf fliegen. Komisch, man vergisst alles, bloß dieses Quartettwissen vom Schulhof nicht, das sitzt fest. Wenn wir irgendwann daliegen und uns jemand eine warme Milch rüberreicht, dann könnten wir diesen Mist immer noch fehlerfrei runterspulen. Da, jetzt kommt er zurück. Jetzt geht's gleich los. Ein letzter Blick in die andere Richtung: Man kann schon den Gesichtsausdruck des Busfahrers erkennen. Er sieht nicht aus wie einer, der sich freut, gewonnen zu haben, sondern eher, als ob er nicht glauben kann, dass alles so einfach war. Nick packt meine Hand. Er zittert. Turbinenlärm. aufgewirbelter Staub. Zeit für gute Vorsätze. Für den Fall, dass das Unvermeidliche doch nicht passiert und sie in Wirklichkeit nur die Diskette haben wollen. Sabina kriegt einen Blumenstrauß - dafür, dass sie Sabina ist und ich so ein Idiot war. Wir werden über die Sache auf der Kirmes reden und herzlich lachen, nur wir zwei, ohne Nick. Und für einen kurzen Moment wird da wieder diese Sache im Raum stehen, aber wir gehen einfach mit ein paar Geschichten aus der alten Zeit drüber hinweg. Und Andie. Andie bleibt Andie. Vielleicht ruft sie mal wieder an, und vielleicht besuche ich sie sogar bei Jeppesen, wenn die Sache hier ausgestanden ist. Wir sind ja eh schon an der Westküste. Möglich, dass sie in ihrem College-GörenDing nur gefangen ist und darauf wartet, von einem Mann mit Erfahrung befreit zu werden. Andererseits: Andie in der Reihenhaussiedlung - passt nicht. Jedenfalls wird alles ganz anders, wenn es überhaupt noch wird. Warum ist der Hubschrauber auf einmal so leise? Augen auf. Klar, ist gelandet und hat einen schwarzen Punkt ausgespuckt. Dann sind sie eben zu zweit, auch egal. Nick sieht wie ein schlafendes Baby aus, so mit geschlossenen Augen. Er hat aufgehört zu schreien. Sein T-Shirt hebt und senkt sich ganz gleichmäßig, als ob er schläft. Vielleicht ist er ohnmächtig geworden - oder konzentriert er sich nur? Wartet er auf den ersten Schuss, oder das nächste »Hey You«? The Rocksteady Crew? Der schwarze Punkt aus dem Hubschrauber ist ein schwarzer mit einem hellblauen Blob obendrauf geworden.

»Du bist was ganz Besonderes.«

Darauf haben meine Eltern immer bestanden, egal, wie sehr ich ihnen das Gegenteil bewiesen habe. Ein viel versprechender, wenig haltender junger Mann. Trotzdem sind sie dabei geblieben.

»Du bist was ganz Besonderes.«

Das ist echt die einzige Sache, die unerledigt bleibt. Wäre schön gewesen, ihnen zu beweisen, dass sie richtig lagen.

$004E

Plötzlich ist der Busfahrer ganz nah, als ob er die letzten Meter geflogen wäre. Als Erstes taucht der Kopf auf, mit dieser lächerlichen Tarnfrisur. Tarnt leider nicht, wenn man läuft, Mann. Bei jedem Schritt hebt die lächerlich rübergekämmte Strähne ab und weht wie ein Wimpelchen über der glänzenden Kopfhaut. Flop, flop, flop. Jetzt einfach mal quer über den Kopf mit der Schneidemaschine drüberziehen und ihn befreien. Dann kommt das dunkelblaue Busfahrer-Sakko, dick wie aus Wolle, er muss irre schwitzen. Jetzt ist er nur noch ein halbes Fußballfeld weg. Schon gut, Linder, ich weiß, heute großes Testspiel, alle Mann abzählen, und wer 'ne ungerade Zahl hat, muss mit nacktem Oberkörper spielen. Mann, was hat Nick das gehasst mit seiner irischen Haut, sah danach immer aus wie ein gekochter Hummer. Noch zwanzig Meter vielleicht, die graue Hose sieht nach Flanell aus, echt wie bei einem Schulbusfahrer. Wie ging der Klassiker nochmal? Genau. Knack, Mikro an: Ich komm gleich nach hinten und mach mit. Hat der Typ am Steuer immer durchgesagt, wenn die bösen Jungs in der letzten Reihe so taten, als würden sie das Siegel vom Nothammer aufbrechen. Genau, und dann noch: Das sind ganz kleine Schräubchen. Da meinte er die Schrauben, mit denen die Haltegriffe an der Decke festgemacht waren. Brüllte er immer ins Mikro, wenn jemand Klimmzüge dran machte. Eigentlich arme Schwänze, die Schulbus-Typen. Gnade gab's trotzdem keine. Jetzt bremst er ab. Ein letztes Mal klatscht die Haarsträhne auf die Glatze, um endgültig kleben zu bleiben. Noch zehn Meter vielleicht. Er schaut mir direkt ins Auge. Mit seinen Pupillen stimmt was nicht, sie sehen komisch aus, tot wie bei Yul Brynner in „Westworld«, wo er den Roboter-Revolverhelden spielt. Zieh, Bübchen! Obwohl das Gesicht des Busfahrers vor Schweiß nur so glänzt, wirkt er nicht angestrengt oder aufgeregt. Eher desinteressiert, als ob es ihm egal wäre, dass er das Rennen gewonnen hat. Dieser leere Blick - das ist es: Für den ist alles nur Durchführung, der ist auch auf einer Dienstreise! Und dann steht er komplett da, mit seiner Uniform von den Stadtwerken. Steht und starrt und ringt gleichzeitig nach Luft. Direkt vor mir parken seine zerkratzten Schuhe; ha, die haben ganz schön was abbekommen. Was ist? Nun komm schon, sag deinen Satz, sag, was du willst. Willst du die Diskette? Sollen wir uns umdrehen, damit du uns ins Genick schießen kannst? Aber er schweigt. Stattdessen streckt er die Hand aus und greift in großem Bogen in die Innentasche, ohne das Gesicht zu verziehen. Jetzt ist es so weit. Papa, ich hab's echt versucht, wirklich. Augen zu. Opa Heinrich, wie oft hast du so was erlebt? Und wie war das damals? Hätte ich gerne noch gefragt. Nick zuckt, er reißt seinen Kopf hoch. Dabei kann er gar nichts sehen, guckt doch in die andere Richtung. Vielleicht besser so. Warum dauert das so lange? Augen auf. Die Hand des Busfahrers tritt ganz langsam den Rückweg aus dem Sakko an: Erst kommt der Rand des Hemdes raus, dann das behaarte Handgelenk, dann sie. Die Glock.

$004F

Glock18 Select Fire, zwanzig Schuss im Magazin, 400 Dollar, Standardausrüstung der Terroristen, haben wir zehntausendfach geladen, zehntausendfach abgefeuert. Nur dass die hier echt ist. Ein Mann steht vor uns, mit einer geladenen Waffe, einer für uns geladenen Waffe. Das ist das Ende des Straße. Komisch, da hat man das ganze Leben mit Ballern verbracht und sieht zum ersten Mal eine richtige Pistole. War halt doch nur ein Spiel. Das fing schon in der Grundschule an, zu Karneval, mit dem ersten Revolver, von Wicke natürlich, der einzig möglichen Marke. Da kamen diese roten Plastikringe hinten rein, die bei jedem Schuss so richtig schön gestunken haben. Letztens im Keller bei meinen Eltern wieder so ein Teil gefunden. Einmal abgedrückt, zack, und schon meldete die Nase Kindheit. Was für ein Gefühl, der einzige Luke Skywalker auf der Karnevalsfeier mit einem Colt zu sein. Scheiß auf Authentizität, Hauptsache Pistole. Richtig geschossen haben wir nur ein Mal, Jahre später. Nick hatte seinem Alten die Luftpistole aus dem Schlafzimmerschrank geklaut. Wir also gleich rüber zur Ziegelei, losballern, erst auf Dosen, dann auf Vögel. Armes Vieh, warum hat's auch still gesessen. Fiel einfach so von seinem Ast auf den Boden. Das war's. Wir haben uns nicht mal richtig rangetraut an den Kadaver, glotzten nur so von oben runter. Am Kopf des Spatzes hing ein kleiner Blutstropfen, rund, wie eine rote Murmel. Nach zehnmal »Faces of Death« gucken ziemlich enttäuschend, der Tod. Irgendwie haben wir uns trotzdem geschämt. Dann lieber den Feuerknopf drücken, am besten auf die Strg-Taste gelegt. Und was waren das für Kanonen: die Big Fucking Gun 9000 von Doom, der Devastator vom Duke - und dann irgendwann die Glock bei es. Seltsam, in Echt sieht sie ganz anders aus, irgendwie billig, fast wie ein Spielzeug. Keine Hebelchen oder komplizierte Mechanismen, sondern nur mattschwarzes Metall mit ein bisschen Gummi um den Griff. Trotzdem hängt der Arm des Busfahrers schlaff bis zur Hosentasche runter, sodass die Glock auf den Wüstenboden zielt und wir den Lauf nur von oben sehen können. Im Sonnenlicht glänzen Schlieren aus Handfett und Schweiß auf dem Metall. Nun mach schon, zieh den Schlitten zurück, hol die erste Kugel in den Lauf. Mehr Angst geht eh nicht. Doch er macht immer noch nichts, der Busfahrer. Pumpt seinen Brustkorb hektisch mit Luft voll und steht stumm da, mit der Glock Richtung Boden. Eigentlich unverschämt. Kann er nicht wenigstens auf uns zielen und uns bedrohen? Würde wahrscheinlich die Knarre dabei so spießig gerade halten wie die Anfänger auf der Polizeischule - nicht cool wie die Typen bei Tarantino, die immer das Magazin nach außen drehen. Machen die Mafia-Killer in Echt angeblich auch so. Nein, wir sind die Harmlosen, deshalb zielt er nicht auf uns. Bei denen wäre es pure Energieverschwendung, den Arm zu heben. Die haben die Hose so schon voll. Korrekt. Trotzdem eine Demütigung. Nick könnte sich das natürlich wieder zurechtbiegen, von wegen: Hat ja auch sein Gutes, ein Harmloser zu sein.

»Frauen wollen keine bedrohlichen Männer«.

würde er sagen und seinen Finger heben, »sondern jemanden, der beherrschbar wirkt«, Von all seinen schwachsinnigen Weisheiten eine der schwachsinnigsten. Einmal kein Beherrschbarer sein, das wär's. Einer sein, der jetzt aufsteht, die Scheiß-Glock packt, sie dem Idioten auf sein Flanell-Bein biegt und abdrückt. Oder der zumindest was sagt. Doch ich starre nur und versuche leise zu atmen. Der Busfahrer packt sich mit der freien Hand in den Nacken und wischt den Schweiß ab, ohne dass seine Kamera-Pupillen uns aus den Augen lassen. Er stöhnt leise und lehnt den Kopf zur Seite, bis die Halswirbel knacken. Dann steigt er von einem Bein aufs andere. Sein Blick sagt: »Okay, zur Sache.«

Ich packe Nicks Hand. Sie fühlt sich kalt an. Es wäre schön, wenn er jetzt da wäre, so richtig, dass ich ihm noch was sagen könnte. Da! Die Glock setzt sich in Bewegung, Zentimeter für Zentimeter hebt sich der Lauf. Erst ist das Mündungsloch nur ein schmaler Schlitz, dann eine Ellipse. Gleichzeitig öffnet der Busfahrer seine andere Hand, streckt die Finger aus. Will er uns hochhelfen? Nein, er will die Floppy, vielleicht. Und dann? Lieber auf den Boden schauen, dann geht alles vorbei, dann ist er gleich weg. Doch es geht nicht. Ich hebe den Kopf. Das schwarze Loch der Glock tanzt vor uns. Jetzt. Nur noch eine Sekunde, ein Zentimeter. Da, das Metall berührt die Stirn. Kälte. Es ist soweit. Gameover.

$0050

Der Beifahrer bäumt sich auf.

»John!«

Dude, der ist nicht hier. Wir sind am Arsch. Stimmt, das kannst du auf deiner Seite ja nicht sehen. Du musst dich mal umdrehen, hier ist der Busfahrertyp und ...Nein, bloß keine hektischen Bewegungen machen, Mann, der hat doch die Glock, ja genau, die Glock, nur dass es eine echte ist.

»John.«

Nochmal sagt er es ganz deutlich. Ich sag dir doch, der ... Plötzlich Hektik. Der Busfahrer zuckt mit seinem ganzen Körper zurück, wie ein Hund, dem man ein Feuerzeug vor die Schnauze gehalten hat. Sein Arm mit der Glock am Ende fällt wieder zurück zu seiner Bundfalte, als ob jemand einen Stein drangehängt hat. Sofort fängt meine Stirn zu glühen an, da, wo eben noch die Mündung klebte. Plötzlich zittert der Lauf. Und auf einmal ist jetzt auch was in seinem Blick: Angst. Umdrehen. Deshalb also. Der schwarze Punkt aus dem Hubschrauber steht vor uns und verdeckt die Sonne. Es ist John. Er hat sich direkt neben Nicks Bein aufgebaut. Der schwarze Klotz seines Oberkörpers hebt und senkt sich, nur viel langsamer als beim Busfahrer. Das Training, natürlich. Gegen die Sonne kann man nichts erkennen. Lacht er? Freut er sich, uns zu sehen? Oder guckt er genervt, weil wir ihn von einem wichtigen Termin abhalten? Blick zurück. Der Busfahrer steht und starrt, nur dass er jetzt ein Mensch ist. Seine Augen rasen zu John, zu uns runter und wieder zurück. Er hat ein Bein nach hinten gesetzt, so, als ob er gleich losrennen will. Die graue Falte an der Wade vibriert leicht. Hinter uns röhrt weiter der Motor des Hubschraubers; der Pilot hält die Drehzahl hoch, wahrscheinlich damit er gleich wieder starten kann. Das hier wird also eine kurze Angelegenheit, keiner will lange verhandeln. Johns Schatten ist zu schmal für ein Sakko, er trägt also nur ein Hemd. Unmöglich, so eine Waffe zu verbergen. Oder: vielleicht im Wadenholster, so wie ... Wer hatte das nochmal? Nein, er ist nicht der Typ für eine Waffe, obwohl ich mir nichts mehr wünsche, als dass er eine hätte. Nicks Kopf sinkt zurück auf mein Bein. Hat wohl wieder ausgecheckt, denkt, die Sache sei gegessen. John macht einen Schritt nach vorne, streckt seine Hand aus. Natürlich, auch ihn interessiert nur eines, die Diskette. Der Schatten seines Arms wandert über den Beifahrer, den Weizenhalm, die Ameise, das Häufchen Elend, das von seinen zwei stolzen Mitarbeitern übrig geblieben ist. Wir müssen eine ziemliche Enttäuschung für ihn sein. What a bunch of wussies. Was für Weicheier. Immer noch keine Reaktion vom Busfahrer. Warum hebt er die Glock nicht wieder hoch? Was ist los? John ist doch unbewaffnet. Nein, natürlich. Der Hubschrauber. Da hat John seine Leute drinsitzen, wahrscheinlich alle mit Präzisionsgewehr im Anschlag, das Zielfernrohr justiert. Deshalb kann er uns auch nicht einpacken, die Kiste ist schon voll, oder »der Quirl«, wie Captain Braddock sagen würde. Direkt vor meinem Gesicht öffnet John seine Hand. Jetzt gibt es keine Optionen mehr. Ganz vorsichtig winde ich die Diskette aus Nicks Hand und reiche sie John rüber. Er nimmt sie sachte hoch und zieht ohne Eile seinen Arm zurück. Ein letzter Blick an uns vorbei zu seinem Gegner, dann beugt er sich zu uns runter und sagt etwas, das wie der schönste Satz der Welt klingt, wie die letzte Zeile eines Schlaflieds: „Sie lassen euch jetzt in Ruhe.«

Extraleben - Trilogie
titlepage.xhtml
1Extraleben01.xhtml
1Extraleben02.html
1Extraleben03.html
1Extraleben04.html
1Extraleben05.html
1Extraleben06.html
1Extraleben07.html
1Extraleben08.html
1Extraleben09.html
1Extraleben10.html
1Extraleben11.html
1Extraleben12.html
1Extraleben13.html
1Extraleben14.html
1Extraleben15.html
1Extraleben16.html
1Extraleben17.html
1Extraleben18.html
1Extraleben19.html
1Extraleben20.html
1Extraleben21.html
1Extraleben22.html
1Extraleben23.html
1Extraleben24.html
1Extraleben25.html
1Extraleben26.html
1Extraleben27.html
1Extraleben28.html
1Extraleben29.html
1Extraleben30.html
1Extraleben31.html
1Extraleben32.html
1Extraleben33.html
1Extraleben34.html
1Extraleben35.html
1Extraleben36.html
1Extraleben37.html
1Extraleben38.html
1Extraleben39.html
1Extraleben40.html
2DerBug01.xhtml
2DerBug02.html
2DerBug03.html
2DerBug04.html
2DerBug05.html
2DerBug06.html
2DerBug07.html
2DerBug08.html
2DerBug09.html
2DerBug10.html
2DerBug11.html
2DerBug12.html
2DerBug13.html
2DerBug14.html
2DerBug15.html
2DerBug16.html
2DerBug17.html
2DerBug18.html
2DerBug19.html
2DerBug20.html
2DerBug21.html
2DerBug22.html
2DerBug23.html
2DerBug24.html
2DerBug25.html
2DerBug26.html
2DerBug27.html
2DerBug28.html
2DerBug29.html
2DerBug30.html
2DerBug31.html
2DerBug32.html
2DerBug33.html
2DerBug34.html
2DerBug35.html
2DerBug36.html
2DerBug37.html
2DerBug38.html
2DerBug39.html
2DerBug40.html
2DerBug41.html
2DerBug42.html
2DerBug43.html
2DerBug44.html
2DerBug45.html
2DerBug46.html
2DerBug47.html
2DerBug48.html
2DerBug49.html
2DerBug50.html
2DerBug51.html
2DerBug52.html
3Endboss01.xhtml
3Endboss02.html
3Endboss03.html
3Endboss04.html
3Endboss05.html
3Endboss06.html
3Endboss07.html
3Endboss08.html
3Endboss09.html
3Endboss10.html
3Endboss11.html
3Endboss12.html
3Endboss13.html
3Endboss14.html
3Endboss15.html
3Endboss16.html
3Endboss17.html
3Endboss18.html
3Endboss19.html
3Endboss20.html
3Endboss21.html
3Endboss22.html
3Endboss23.html
3Endboss24.html
3Endboss25.html
3Endboss26.html
3Endboss27.html
3Endboss28.html
3Endboss29.html
3Endboss30.html
3Endboss31.html
3Endboss32.html
3Endboss33.html
3Endboss34.html
3Endboss35.html
3Endboss36.html
3Endboss37.html
3Endboss38.html
3Endboss39.html
3Endboss40.html
3Endboss41.html
3Endboss42.html
3Endboss43.html
3Endboss44.html
3Endboss45.html
3Endboss46.html
3Endboss47.html
3Endboss48.html
3Endboss49.html
3Endboss50.html
3Endboss51.html
3Endboss52.html
3Endboss53.html
3Endboss54.html
Gillies.html