#50 T-1: 16:52
Meine Augen brauchen ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ohne seine Füße zu heben, torkelt Nick auf die nächstgelegene Wand zu. Seine Schritte wirbeln Schwärme von Staubmäusen auf und lassen sie über den ölverschmierten Betonboden tanzen. Nachdem er die Wellblechwand erreicht hat, lehnt er sich dagegen und geht in die Hocke. Dann fischt er ein zerknülltes Stück Papier aus seiner Tasche und fängt an, es von einer Hand in die andere zu werfen, immer wieder. Dabei stiert er zur Ausgangstür, die vor zehn Sekunden ins Schloss gefallen ist. Unsere Dienstreise war leider doch nicht so schnell vorbei, wie wir dachten. Genau!
»Gesprengte Ketten«, so hieß der Film, in dem Steve McQueen ständig aus einem Gefangenenlager ausbricht, wieder von den Nazis eingefangen wird und sich dann in seine Zelle setzt und einen Baseball gegen die Wand wirft, ganz seelenruhig, weil er weiß, dass es nur eine Frage der Zeit in, bis ihm endgültig die Flucht gelingt. Klar, der Beifahrer spielt gerade McQueen nach. Nur dass er nicht so verschmitzt zuversichtlich guckt. Die Übergabe des Satellitenprogramms bei der Bodenstation lief völlig geräuschlos ab, zumindest das, was wir aus dem Van heraus erkennen konnten. Ein echtes Zaun-Abenteuer, wie wir selbst es nicht unspektakulärer hingekriegt hätten. John humpelte mit den Ausdrucken einfach zum Wachhäuschen hin. Es gab einen kurzen Wortwechsel mit dem G.I., dann machte er kehrt und stapfte mit so einem verkrampft höflichen Lächeln im Gesicht zu uns zurück. Wahrscheinlich haben sie ihn für einen irren Penner gehalten oder so, mit dem ganzen Blut an seiner Stirn. Kaum war John wieder im Wagen, ging die Hektik weiter. Er prügelte den Lieferwagen zurück auf die Schnellstraße, pflaumte dabei nonstop irgendwen am Telefon an. Klar: Er musste auf die Tube drücken, denn hinter uns würde in dieser Sekunde eine Kettenreaktion losgehen: Der Wachmann würde die Papiere seinem Vorgesetzten in der Bodenstation übergeben. Der wiederum wüsste nicht weiter und würde beim NRO Hauptquartier anfragen, was es damit auf sich hat. Dort würde man aus allen Wolken fallen und sofort Großalarm geben schließlich geht es darum, eine verheerende Kollision in der Umlaufbahn abzuwenden. Die Wachleute von der Bodenstation würden ausschwärmen, um den Erpresser in dem Lieferwagen noch zu fassen. John musste also zusehen, da möglichst schnell wegzukommen. Ich folge Nicks Fußstapfen durch die Halle und sinke neben ihm auf den Boden, links natürlich, auf der Fahrerseite. Nachdem John ausreichend Meilen zwischen uns und die Bodenstation gebracht hatte, war die Sache leider noch nicht ausgestanden - aber was anderes haben wir auch nicht erwartet. Zwei Stunden lang jagte er den Van noch über die Highways. Wir hatten beide keine Kraft mehr, um zu verfolgen, wohin. Selbst der Beifahrer begnügte sich damit, mit glasigen Augen vor sich hinzubrüten. Angehalten haben wir schließlich vor einem alten Flughafen, weit draußen auf dem Land, mitten in einem dieser riesigen Lavafelder, die hier oben ganze Countys bedecken. Die Mondlandschaft drum herum war so schwarz, dass wir die Piste zuerst gar nicht erkannt haben. Das ist jetzt also unsere Endstation. Wo der Flughafen liegt? Keine Ahnung. Die Sonne stand während der ganzen Fahrt auf Nicks Seite - also im Osten, wir könnten also fast an der kanadischen Grenze sein. Vielleicht ist das eine dieser geheimen Pisten, von denen Nick immer erzählt, wo nachts Schmuggler aus Kanada landen, um Ecstasy und Gras für god's own country auszuladen. John musste extra ein altes Tor aufschließen, um auf das Gelände fahren zu können. Viel Betrieb scheint hier nicht zu sein. Der Van holperte über aufgesprungenen Asphalt, vorbei an ein paar windschiefen Schuppen. Auf den ersten Blick sah alles völlig abgefuckt und verlassen aus. Auf den zweiten allerdings waren die Spuren der Datacorp sofort zu erkennen. Während uns John wie Kühe quer über das Gelände scheuchte, konnten wir sehen, dass an den Ecken der angerosteten Hangars Kameras installiert sind. Und an den Türen hängen Codeschlösser - nicht der Achtziger-Scheiß wie in der Botschaft, sondern die modernste Bauart, mit Edelstahlblende. Da kann man nicht einfach mal gucken, welche Tasten am meisten abgewetzt sind, und die Zahlenkombi raten. Endgültige Endstation war schließlich vor einem alten Flugzeughangar. John tippte - mit verdeckter Hand-den Code neben der Tür ein, dann machte er eine galante Handbewegung, so, als wollte er uns in die Vielflieger-Wartelounge am Flughafen einladen.
»Darf ich Sie bitten zu warten. Ich versichere Ihnen, dass Sie bald Ihre Rückreise antreten können.«
Mittlerweile hatte sich seine Nervosität gelegt. Die Ware war übergeben, das Lösegeld kassiert. Es gab also keinen Grund mehr für weitere Unhöflichkeiten, er konnte uns wieder wie Gäste - und nicht wie Geiseln behandeln.
»Es dauert nicht lange«, wiederholte er, wodurch die Ankündigung noch bedrohlicher klang. Danach ließ er die Tür mit einem satten Schlack ins Schloss fallen und wir waren gefangen im Halbdunkel. Vielleicht will John nur abwarten, bis das Programm den Satelliten wirklich aus seinem Koma aufweckt. Angenommen, das NRO hat die Steuerungssoftware schon hochgefunkt, dann dürfte der Weltuntergang so gut wie abgewendet sein. Sie könnten . die Steuerdüsen zünden, und Keyhole 11/9 würde in sicherer Entfernung an allen anderen Satelliten vorbei auf die gute alte Erde zurasen und verglühen. In ziemlich genau 41 Stunden. Vorausgesetzt, Nick hat wirklich den richtigen Fehler gefunden, was ungefähr so wahrscheinlich ist wie, dass er mal bei einem elektronischen Gerät die Fabrikeinstellung benutzt. Und nun die ehrliche Version. Wir werden uns in ein paar Minuten mit John zu dritt in einen Flieger setzen - und er wird alleine in Deutschland landen. Weil er uns, die lästigen Zeugen, irgendwo über dem Pazifik entsorgt, so wie die Navy damals Bin Laden. Es sei denn, wir kommen hier vorher irgendwie raus. Doch die Chancen stehen schlecht: Der Hangar ist ratzekahl leergeräumt, keine Ausbruchswerkzeuge weit und breit in Sicht. Bis auf eine riesige schwarze Öllache auf dem Boden, gesprenkelt mit weißem Vogeldreck, gibt es nichts, woran das Auge hängen bleiben könnte. Große Flugzeuge würden hier nicht reinpassen; mit drei hintereinander geparkten Autos wäre die Halle schon voll. Die großen Schiebetore für die Flugzeuge hat jemand mit Stahlträgern zugeschweißt, und die Tür, durch die wir reingekommen sind, sieht auch ziemlich massiv aus. Ein Brute-Force-Ausbruch wäre völlig sinnlos. Davon abgesehen geben unsere ausgetrockneten Nerd-Körper ohnehin keine Brute Force mehr her. Ich leere meine Taschen. Zuerst das Telefon. War ja klar, kein Empfang. SENONER Ich zeige Nick das Display. Er schnaubt nur kurz verächtlich und knüllt seine Papierkugel noch fester zusammen, bevor er wieder mit seiner Jonglage beginnt. Ihm scheint alles scheißegal zu sein. Die Apathie erwischt ihn langsam, war ja absehbar. Ich krame in der anderen Tasche, der Game Boy mit der Kamera fällt raus. Irgendwie muss ich grinsen. Dass wir ausgerechnet mit diesem Passagier auf unsere letzte Etappe gehen, ist mehr als angemessen. Gaming 24/7, zocken bis zum Schluss. Ich schiebe den AnSchalter nach rechts. Das typische GameBoy-Geräusch fiept aus den Schlitzen des grauen Gehäuses und schreckt ein paar Tauben auf, die unter der Decke gekauert haben. Sie flattern aufgeregt in eine andere Ecke des Hangars. Wahrscheinlich stinkt es hier drinnen mördermäßig nach Taubenkacke, aber zu riechen ist nichts, weil die Kerosindämpfe, die der Betonboden ausschwitzt, alle Schleimhäute betäuben. In einem fahlen Lichtstrahl, der durch das verdreckte Oberlicht fällt, schwebt eine Feder in Zeitlupe Richtung Boden. Ridley Scott hätte es nicht besser inszenieren können. Nick hält seine Papierkugel fest, um mit seinen blutunterlaufenen Augen einen Blick rüber zu werfen. Der Pawlow'sche Nerd-Reflex hat sein Hirn wachgerüttelt: 8-Bit-Signal, muss Quelle lokalisieren!
»Dassde den noch hast ...«, flüstert er. Seine Stimme klingt wie Reibeisen, kein Wunder, wir haben seit zehn Stunden nichts mehr zu trinken gekriegt.
»Kleines Erinnerungsfoto?«, schlage ich vor. Der Beifahrer rückt wortlos ein Stück rüber, damit wir beide drauf sind. Da sitzen wir also. Player One links, Player Two rechts, wie in der alten Zeit, als noch alles gut war. Start. Unsere interne Rangliste bei Games war immer klar, darüber musste kein Wort verloren werden: Platz drei: Spiele, bei denen man abwechselnd zockt. Laaaangweilig. Platz zwei: Spiele, bei denen man zusammen den Gegner fertigmacht, wie Cabal oder Raiden. Hach, herrlich, dieses Teamplay - vor allem, wenn der andere krepierte und man sich alle seine Bomben und Waffen unter den Nagel reißen konnte. Klarer Platz eins: Spiele, bei denen man zusammen den Gegner fertigmachen, sich aber auch gegenseitig zanken kann, wie Double Dragon. Endete immer damit, dass die Computergegner arbeitslos durch die Gegend zuckelten, weil wir vollauf damit beschäftigt waren, uns gegenseitig die Eisenkette über den Schädel zu ziehen.
»Bereit?«, frage ich. Nick antwortet nicht. Er hat den Kopf zwischen seine Arme gesteckt und schluchzt, erst ganz leise, dann immer stärker, bis sein Oberkörper richtig zusammenzuckt. Kein Problem, Alter, ich warte noch 'ne Sekunde. Der Game Boy dudelt vor sich hin. Wir sind an einer Stelle in diesem Leben einfach falsch abgebogen: Wir hätten niemals den Nerd-Pfad verlassen dürfen, den der große Ringrichter für uns vorgesehen hat. Dann säßen wir jetzt schön als SysAd in irgendeiner Versicherung, könnten abends zocken, uns Quaxis reinschieben und das Karrieremachen anderen Menschen überlassen, die im Grunde genommen kreuzunglücklich sind. Leider haben wir uns entschieden, die Global Player zu mimen, und wenn John das nächste Mal die Tür aufmacht, kriegen wir die Rechnung dafür präsentiert. So was passiert, wenn man denkt, dass das Leben ein Game ist. Der Beifahrer fängt sich langsam wieder. Er hat den Kopf gehoben und schmiert sich mit zittriger Hand die Tränen von der Backe. Ich schaue in die andere Richtung, weil er das an meiner Stelle auch tun würde. Ich weiß, Alter, dir ist nur was ins Auge geflogen.
»Nun mach schon«, ranzt er rüber. Ich drehe die kugelige Kamera am Game Boy so um, dass sie uns direkt anstarrt.
»Bereit?«, sage ich.
»Bereit!«, sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter, als ob wir Jungs in einer Bande wären, die gerade heimlich hinterm Spielplatz ihre erste Bierdose gekillt haben und sich furchtbar betrunken fühlen. Ich drücke auf den A-Knopf. Aus dem Game Boy kommt erst ein hohes Fiepen, dann drei Töne. Das Foto ist im Kasten. Wir stecken sofort unsere Köpfe über dem Display zusammen, damit wir in der Scheiß-Dunkelheit irgendwas erkennen können. Auf dem Display sind zwei Panda-Bären zu sehen. Nein: Auf dem Display ist ein Foto von zwei Panda-Bären zu sehen, das dreimal hin und her gefaxt wurde, so schlecht ist die Auflösung der Kamera. Und weil das Licht von so schräg oben kommt, sind von unseren Augen nur die schwarzen Höhlen zu sehen. Deshalb sehen wir aus wie zwei ziemlich verliebte PandaBären. Der Beifahrer fängt zu kichern an, auf diese leicht irre Art, wie sonst, wenn er einen im Tee hat. Ich checke nochmal die Pandas ab und muss mitlachen. Wir sind die Dudes. Nein, scheiß auf den ganzen Ami-Quatsch. Wir sind Freunde. Auf einmal tippt der Beifahrer die Kamera an.
»Das ist doch eine Art von digitalem Aufzeichnungsgerät, oder?«
Blöde Frage, Alter, du kennst die Kiste doch besser als ich. Sicher ist das ein digitales Aufzeichnungsgerät. Der Chip in dem Modul greift die einzelnen Bildpunkte von der Kamera ab und speichert sie als Bits und Bytes. Was soll die Frage? Nick ignoriert meinen leeren Blick und drückt die Zunge so von innen gegen seine rechte Backe, dass eine dicke Beule an der Seite rauswächst.
»Meinst du, du könntest John dazu bringen, uns hier nochmal kurz Gesellschaft zu leisten?«
Er klingt unverbindlich wie ein Kellner, der fragt, ob er noch ein Bier bringen soll. Natürlich! Das meint er ...
»Denke schon«, plausche ich zurück. Nick steht auf.
»Na dann, an die Arbeit.«
Alter, du bist ein Genie.