$0032

Was heißt hier, sie ist nicht da? Andies einziger Job besteht darin, immer da zu sein. Warum also nicht heute? Auf der Uhr des Fernsehers steht, dass es in unserem stinkenden Sumpf jetzt nach zehn ist; minus sechs Stunden nach Deutschland, minus sechs Stunden nach Amerika. Macht kurz nach zehn morgens, normale Bürozeit, sie müsste also an ihrem Schreibtisch sitzen und mit ihren manikürten Krallen den Café Latte im Pappbecher zu ihrem göttlichen Mund führen, der bis auf einen leichten Überbiss wirklich perfekt ist.

»Sorry, Do you want to leave a message?«, krächzt es aus der Leitung. Ich will keine Nachricht hinterlassen, ich will mit der Göttin sprechen. Die Stimme des Mannes am anderen Ende klingt völlig teilnahmslos. Ich frage ihn, ob er für uns einen Flug buchen könne, auf das Kundenkonto der Datacorp.

»Sure«, antwortet der Mann, immer noch völlig regungslos. Ich gebe ihm den Zielflughafen durch; am nächsten an dem Kaff namens Batum ist Seattle dran. Von da dürften es mit dem Auto bis zur Destination X, Vaters Höhle, nur ein paar Stunden sein.

»One moment, plea ...«

Noch vor dem Ende des please hat der Unbekannte den Hörer auf Pause gestellt. Leise zischelt die transkontinentale Leitung vor sich hin; zum ersten Mal seit zwei Jahren fällt mir auf, dass weder bei der Datacorp noch bei einer der Firmen, mit denen sie zusammenarbeitet, Musik in der Telefonwarteschleife läuft. Was könnte man da nehmen? Eine Muzak-Version von Moroders »Electric Dreams« vielleicht, bei der die Melodie von einer Panflöte gespielt wird, so Fußgängerzonen-Peruaner -mäßig? Eine halbe Minute vergeht, dann knackt es und der Mann atmet schwer in die Muschel; immerhin, er ist keine Simulation.

»Listen, um ...«

Es folgt eine Erklärung, die mit vielen »um«, dem amerikanischen »Ah«, durchsetzt ist: Derzeit sei das System abgestürzt und man könne keine Buchungen vornehmen, aber das sei alles kein Thema. In wenigen Stunden wäre alles wieder online, dann würde er sich nochmal bei uns melden, unsere Nummer hätte er ja. Ich sage ihm, dass er sich in frühestens acht Stunden melden soll, wir ab dann aber sofort abfahrt bereit wären. Jeppesen und Computerprobleme? Bei denen sind doch sicher alle System drei-oder vierfach redundant ausgelegt, genau wie bei uns auch. Ha - »uns«! Jetzt hat mich das Kollektiv doch noch assimiliert. Nick, der das Gespräch von seinem Bett aus mitgehört hat, ruft dazwischen: »Sag ihnen, dass wir kein Auto brauchen, okay?«

Nachdem ich Andies unterkühlter Vertretung erklärt habe, dass wir uns selbst einen Wagen mieten werden, ist das Gespräch beendet. Alles ziemlich komisch. Ich erstatte Bericht.

»Wir werden morgen ausgeflogen, wann, sagen sie uns dann. Apropos: Sollten wir uns den Trip nicht erst von John abnicken lassen?«

»Auf jeden Fall«, sagt Nick, während er zum Dienstrechner greift, »ich schreib ihm schon was. Dürfte aber kein Problem sein.«

»Was soll eigentlich der Kram, von wegen dass wir uns selber ein Auto mieten?«

»Ach, nur so.«

Es klopft. Ich sehe dem Beifahrer an, dass er nicht recht weiß, ob er aufmachen soll oder nicht. Wir sitzen etwas unentschlossen da, bis ein dumpfes »Room-Service« durch die Tür dringt. Als Menschen, die ihr Leben überwiegend vor dem Fernseher verbracht haben, wissen wir natürlich, dass das nichts bedeutet und die Bösen immer »Room-Service« sagen, bevor sie reinkommen und dem Helden mit einem im Schuh eingebauten Springmesser in den Bauch treten. Andererseits will sich keiner von uns die Blöße geben und wegen dieser lächerlichen Sofa-Agenten-Weisheit auf sein Heineken verzichten.

»Coming«, ruft Nick und steht auf. Doch so richtig traut er dem Braten noch nicht. Jedenfalls knallt er, sofort nachdem er die Biere in Empfang genommen hat, die Tür wieder zu und dreht das Schloss hektisch bis zum Anschlag. Ich versuche, so ernst wie möglich zu klingen.

»Glaubst du, das reicht?«

»Was - das Schloss? Klar«, sagt er locker. In Wirklichkeit meint er: »Natürlich nicht; aber wenn du den ersten Schritt machst, helfe ich dir, dieses Zimmer in eine Scheiß-Festung zu verwandeln.«

Mann, der Tag war viel zu lang, um jetzt noch rumzuspielen.

»Sollten wir nicht noch was zusätzlich vor die Tür stellen? «

Erleichtert lässt Nick seinen Blick durch den Raum schweifen.

»Den Schreibtisch vielleicht?«

»Okay.«

Wir brauchen geschlagene fünf Minuten, um den schweren Mahagoni-Schreibtisch vor die Tür zu schleifen. Nick klemmt sich dabei zweimal die Finger ein, und der Schnitt an meiner Hand fängt wieder kurz zu bluten an. Nachdem wir fertig sind, begutachten wir den Schutzwall und beschließen, dass das Bollwerk noch nicht dick genug ist. Wir brauchen weitere zehn Minuten, um hinter dem Schreibtisch noch unsere Nachttische aufzubauen. Wenn es jetzt brennt, sind wir Toast. Aber manchmal muss man sich im Leben halt entscheiden.

Extraleben - Trilogie
titlepage.xhtml
1Extraleben01.xhtml
1Extraleben02.html
1Extraleben03.html
1Extraleben04.html
1Extraleben05.html
1Extraleben06.html
1Extraleben07.html
1Extraleben08.html
1Extraleben09.html
1Extraleben10.html
1Extraleben11.html
1Extraleben12.html
1Extraleben13.html
1Extraleben14.html
1Extraleben15.html
1Extraleben16.html
1Extraleben17.html
1Extraleben18.html
1Extraleben19.html
1Extraleben20.html
1Extraleben21.html
1Extraleben22.html
1Extraleben23.html
1Extraleben24.html
1Extraleben25.html
1Extraleben26.html
1Extraleben27.html
1Extraleben28.html
1Extraleben29.html
1Extraleben30.html
1Extraleben31.html
1Extraleben32.html
1Extraleben33.html
1Extraleben34.html
1Extraleben35.html
1Extraleben36.html
1Extraleben37.html
1Extraleben38.html
1Extraleben39.html
1Extraleben40.html
2DerBug01.xhtml
2DerBug02.html
2DerBug03.html
2DerBug04.html
2DerBug05.html
2DerBug06.html
2DerBug07.html
2DerBug08.html
2DerBug09.html
2DerBug10.html
2DerBug11.html
2DerBug12.html
2DerBug13.html
2DerBug14.html
2DerBug15.html
2DerBug16.html
2DerBug17.html
2DerBug18.html
2DerBug19.html
2DerBug20.html
2DerBug21.html
2DerBug22.html
2DerBug23.html
2DerBug24.html
2DerBug25.html
2DerBug26.html
2DerBug27.html
2DerBug28.html
2DerBug29.html
2DerBug30.html
2DerBug31.html
2DerBug32.html
2DerBug33.html
2DerBug34.html
2DerBug35.html
2DerBug36.html
2DerBug37.html
2DerBug38.html
2DerBug39.html
2DerBug40.html
2DerBug41.html
2DerBug42.html
2DerBug43.html
2DerBug44.html
2DerBug45.html
2DerBug46.html
2DerBug47.html
2DerBug48.html
2DerBug49.html
2DerBug50.html
2DerBug51.html
2DerBug52.html
3Endboss01.xhtml
3Endboss02.html
3Endboss03.html
3Endboss04.html
3Endboss05.html
3Endboss06.html
3Endboss07.html
3Endboss08.html
3Endboss09.html
3Endboss10.html
3Endboss11.html
3Endboss12.html
3Endboss13.html
3Endboss14.html
3Endboss15.html
3Endboss16.html
3Endboss17.html
3Endboss18.html
3Endboss19.html
3Endboss20.html
3Endboss21.html
3Endboss22.html
3Endboss23.html
3Endboss24.html
3Endboss25.html
3Endboss26.html
3Endboss27.html
3Endboss28.html
3Endboss29.html
3Endboss30.html
3Endboss31.html
3Endboss32.html
3Endboss33.html
3Endboss34.html
3Endboss35.html
3Endboss36.html
3Endboss37.html
3Endboss38.html
3Endboss39.html
3Endboss40.html
3Endboss41.html
3Endboss42.html
3Endboss43.html
3Endboss44.html
3Endboss45.html
3Endboss46.html
3Endboss47.html
3Endboss48.html
3Endboss49.html
3Endboss50.html
3Endboss51.html
3Endboss52.html
3Endboss53.html
3Endboss54.html
Gillies.html