$0007
Major Tom heißt in Wirklichkeit nicht Major Tom, sondern John, und ist seit zwei Jahren unser Chef. Wir nennen ihn deshalb Major Tom, weil er aussieht wie ein Astronaut und Nick und ich die letzten Menschen auf diesem Felsen im Weltraum sind, denen dabei zuerst »Space Oddity« von Bowie einfällt. John gehört jedenfalls zu diesen amerikanischen Übermenschen, die mit jeder Körperzelle Perfektion ausstrahlen. Ihre Zähne strahlen wie weiße Orgelpfeifen und stecken in einer Kinnlade, die breit ist wie ein Bagger. Ihr Brustkorb füllt das Business-Hemd aus, als würde ein Fass darunterstecken. Sie laufen den Halbmarathon in weniger als anderthalb Stunden und drücken locker 150 Kilo auf der Bank. Doch was besonders ärgerlich ist: Sie weigern sich einfach, ins Klischee des dumpfen Quarterbacks zu passen, sondern reißen nebenher noch Astrophysik summa cum laude runter. All das trifft - wenn der spärliche Kollegen-Tratsch stimmt - auf Major Tom zu. Aber eigentlich wissen wir nichts über ihn. Weder wie alt er ist noch wie er mit Nachnamen heißt oder wo er wohnt. Hat er überhaupt ein Zuhause? Außer in Flughafen-Lounges, Mietbüros oder Rechenzentren haben wir ihn jedenfalls noch nie getroffen. Er schwebt wie ein echter Astronaut über den Dingen. Das hat natürlich Methode. Denn viele Klienten der Datacorp sind Agencies - Behörden, Geheimdienste und staatliche Forschungs-laboratorien. Die behandeln ihre Mitarbeiter ja seit jeher nach dem Champignon-Prinzip: Keep them in the dark and feed them shit. Halt sie im Dunkeln und gib ihnen Scheiße zu fressen. Je weniger sie wissen, umso besser. Genau diesen Kurs fährt die Datacorp. Keine Namen, keine Adressverzeichnisse, kein Organigramm. Bei allen Aufträgen beleuchten sie nur ein klitzekleines Stück Weg vor dir, sodass du gerade nicht über ein Hindernis stolperst, aber der Rest immer schön im Dunkeln bleibt. Bevor ihn die Databorgs assimiliert haben, vertrat Nick sogar mal kurzfristig die Theorie, dass der Laden der CIA oder NSA gehört. Fest steht, dass John immer für eine Überraschung gut ist, gerade was die Immobilien angeht. Die Datacorp hat nämlich nach dem Ende des Kalten Krieges weltweit Liegenschaften der U.S. Army aufgekauft und umgebaut. Da werden dann Daten, Speichermedien und alte Maschinen eingemottet, für den Fall, dass es nicht reicht, die alten Systeme auf neuen zu simulieren. Um Lochkarten auszulesen, brauchst du halt einen Lochkartenleser, da hilft auch die beste Emulation nicht. Eine Zeit lang ging sogar das Gerücht in der Firma rum, Major Tom würde in einem alten Fernsehturm residieren, was natürlich für einen Astronauten mehr als angemessen wäre, sich aber dann als Bullshit erwiesen hat. Wo er wirklich wohnt, weiß niemand. Aber sicher nicht hier, oder? 2,5 Kilometer Entfernung bis zum Ziel, steht am rechten oberen Rand des Navi-Displays. Das kann nicht stimmen. Kaum etwas passt hier weniger hin als eine Niederlassung des globalen Konzerns Datacorp. Der Wagen pflügt sich durch tiefe Wasserrinnen, die Millionen von Lkw in Laufe der Jahrzehnte in die Straße gedrückt haben. Links und rechts ziehen Lagerhallen vorbei, Verladerampen und Logistikkathedralen. Vor Manu's Grill, dessen Apostroph im Namensschild mindestens so fett ist wie die Fritten drinnen, herrscht gähnende Leere; alle Lkw-Parkplätze sind noch frei. Ein selbst gemaltes Schild im Fenster bewirbt einen »Kraftfahrer-Teller« für 3,50 Euro. Weiter weg vom Silicon Valley kann man auf diesem Planeten eigentlich nicht sein. Und trotzdem zeigt das Navi nur noch einen Kilometer an. Der Puls am Hals drückt gegen den Sicherheitsgurt. Noch 500 Meter, 300, 150, 50. Endlich, eine freie Fläche mit Kopfsteinpflaster. Vor den Scheinwerfern rasen Regentropfen vorbei, dahinter ist nichts zu erkennen. Ich stelle den Motor ab. Jetzt nur noch in den beigen Staubmantel zwängen, ohne dabei vom Fahrersitz aufzustehen. Minutenlanges Gewürge. Gottseidank ist niemand in der Nähe, der mein Gespaste mitansehen muss. Die Luft draußen fühlt sich an, als würde man in einen Keller runtersteigen. Klamm und modrig. Die Warnblinkanlage blitzt zweimal auf, bestätigt, dass der Wagen verriegelt ist. Nachdem das Licht im Fond verglüht ist, lässt sich zum ersten Mal das Ziel erkennen: ein dunkler Umriss, ein dreistöckiges Haus zwischen hohen Bäumen, deren Äste fast bis auf den Boden runterhängen. Hier wohnt er also, der große Boss. Und lädt mich in sein Reich ein, auf einen Tee bei Dr. Borsig, einen Scotch, Proteinshake oder was auch immer. Selbst für einen Sozialallergiker eine nette Aussicht. Unter den Sohlen knirscht es. Eine Villa mit Park und Kiesauffahrt, das hat Klasse. Ist aber gleichzeitig auch ein bisschen altbacken, zu John hätte eher so ein Bungalow gepasst wie der von Camerons Dad in »Ferris macht blau« - so ein Glaskasten im Wald. Oder der Fernsehturm halt. Eine nackte Glühbirne wackelt im Wind über dem Eingang. Vor dem eigentlichen Haus steht vorne ein kleinen Haus, mit Giebeldächlein aus rostbraunen Ziegeln obendrauf. Überraschend romantisch. Überhaupt passt der ganze Bau nullkommanull hierher, irgendwas stimmt mit dem Stil nicht. Die vielen kleine Erker und Anbauten sehen eher nach Pater Browns Pfarrhaus aus. Major Tom vom Hightech-Konzern Datacorp - ein Freund des britischen Landhausstils ? Ich klopfe mir an der ersten Treppenstufe die Kiesel von der Schuhsohle runter, dann nehme ich die restlichen zwei mit einem dynamischen Schwung - für den Fall, dass jemand durch den Spion schaut. Auf dem Klingelschild steht kein Name, natürlich. Es ist aus dunkelbraunem Bakelit und sieht nach Führerbunker aus. Irgendwie alles schmuddelig hier. Unter dem Handlauf der Treppe und überall da, wo kein Wind hinkommt, zieht sich der Grünspan den Putz runter. Ich drücke die Klingel. Drinnen plärrt ein Summer. Für seine Verhältnisse öffnet John die Tür schnell; er ist bekannt dafür, seine Mitarbeiter warten zu lassen.
»Kee, come in.«
Er versucht, zur Begrüßung ein freundliches Gesicht aufzusetzen, doch an dem Tempo, mit dem er sich umdreht, um in den nächsten Raum zu stürzen, merkt man, dass er nicht bei der Sache ist. Vielleicht wartet jemand am Telefon, oder - was für eine unvorstellbare Normalität - seine Frau! Schon beim ersten Zimmer wird klar: wieder Fehlanzeige. Auch das kann nicht Johns Zuhause sein. Zu geschmacklos, zu leer. Der Raum ist bis zur Decke mit dunkler Eiche verkleidet, an der Decke hängt ein wirklich widerlicher Oma-Kristallleuchter. John bemerkt meinen Blick.
»Denkmalschutz, nichts zu machen.«
Nur am »I« von »Denkmal«, das er leicht unter den Gaumen rutschen lässt, hört man, dass er aus den Staaten kommt. Ansonsten ist sein Deutsch wie immer beschämend perfekt, genau wie seine Kleidung. Da schenken er und Nick sich nichts: Die Bügelfalte seiner schwarze Flanellhose fällt wie mit dem Lot gezogen runter auf seine Penny-Loafer. Obenrum inszeniert er mit einem halb offenen - heute lachsfarbenen - Hemd wieder diese typische Lässigkeit, die in der Firma jeder nachzumachen versucht. Der braune Astronauten-Scheitel sitzt, aber die fast schwarzen Pupillen wandern unruhiger als sonst umher. Sollte der große Meister tatsächlich mal nicht nur in Eile, sondern wirklich gestresst sein? Auf den zweiten Blick wirkt sein Gesicht ungewohnt blass.
»Ja, erst mal danke, dass Sie gekommen sind.«
»Kein Problem«, lüge ich frech. Er macht keine Anstalten, mir den Mantel abzunehmen oder die Garderobe zu zeigen, sondern biegt schnurstracks in das nächste Zimmer ab. Damit dürfte das gemeinsame Teeründchen gegessen sein. Auch in diesem Raum stehen keine Möbel, sondern nur ein Billardtisch, der von einer ganzen Batterie absolut nicht Energie sparenden Glühbirnen ausgeleuchtet wird. Die Szene stinkt so sehr nach alter Zeit, dass man erwartet, gleich käme ein Wehrmachtsoffizier mit Knobelbechern reingestürmt, um eine Generalstabskarte mit kleinen Panzern drauf auszurollen. In der Mitte der abgewetzten grünen Filzebene liegt ein schwarzes Gerät, ungefähr doppelt so groß wie der verhasste Tandy.
»Well, here we are.«
Major Tom breitet die Arme aus, als wollte er ein Publikum begrüßen, zieht sie aber schnell wieder zurück, weil er merkt, wie lächerlich die Showbiz-Geste bei ihm aussieht.
»Anyway, I've got something special for you.«
Er reicht den Rechner rüber: sieht aus wie zwei Toshiba-Laptops aus den Neunzigern hintereinandergelegt, oder wie eine tragbare elektrische Schreibmaschine der letzten Generation vor dem Aussterben. Dass John sich nicht die Mühe macht, beim Deutsch zu bleiben, zeigt, wie sehr er unter Strom steht. Wie auf ein Stichwort beginnt im angrenzenden Zimmer ein Telefon zu plärren.
»Sorry.«
John wirft einen genervten Blick gen Himmel, legt den Kopf etwas schief und biegt um die Ecke. Nach zwanzig Sekunden kommt er zurück, und unser Treffen löst sich - wie alle vorherigen - schnell und in allgemeinem Unbehagen auf. Ich fühle mich wie bestellt und nicht abgeholt; an ihm nagt das schlechte Manager-Gewissen, weil er nicht die Chance genutzt hat, mich richtig kennen zu lernen. Quasi als Entschädigung gibt er sich zum Abschied nochmal kurz Mühe, Deutsch zu sprechen: »Ich rufe Sie morgen wegen der Einzelheiten an.«
Beim »an« ist er schon zwei Zimmer weiter und kaum noch zu verstehen. Ein unverschämter deutscher Gastgeber hätte hinzugefügt: »Sie finden ja raus.«
War John jemals nicht in Eile? Ich klemme den Rechner, der bleischwer ist, unter den Mantel und schließe wie ein braves Kind alle Türen hinter mir. Draußen nieselt es jetzt stärker, also heißt es zum Wagen rennen, um nicht nass zu werden. Erst hinter der Autobahnauffahrt gönne ich mir einen langen Blick auf den Kasten, der vor dem Beifahrersitz auf dem Boden liegt. Richtig erkennen kann man ihn nur, wenn beim Überholen die Scheinwerfer des Hintermanns durch den Innenraum streifen. Ansonsten scheint die Oberfläche des Gehäuses das Licht geradezu aufzusaugen. Warum durftest du nicht mit der Post reisen?