LEVEL 34

Vor manche Entscheidungen im Leben sollte man nicht gestellt werden, zum Beispiel vor diese: wandern - oder mit Menschen an einem Touristeninformationsschalter sprechen. Doch genau an diesem Scheideweg stand ich heute Morgen nach dem Frühstück. Sollte ich die ganzen langen zwanzig Kilometer bis nach Black Ridge wirklich zu Fuß gehen? Da meine Wanderbegeisterung noch nicht wieder den rechten Berg der U-Kurve erreicht hatte, entschloss ich mich dagegen. Das allerdings würde bedeuten, mir eine Fahrgelegenheit zu suchen, und dafür würde ich mit jemandem sprechen müssen. Schweren Herzens trottete ich zum Infoschalter. Die Pflicht-Kommunikation lief erfreulich knapp ab: Die Dame am Auskunftsschalter, der natürlich auch im Flughafengebäude untergebracht ist, erklärte mir, dass es nur Gruppenausflüge zum Rand des Eises gäbe. Ich beschloss, in diesem Fall doch lieber zu wandern. Gott sei Dank fand sich dann doch noch ein Beförderungsmittel ohne eingebauten Redezwang: Als ich noch mal kurz auf mein Hotelzimmer ging, um mich umzuziehen, lag auf dem Schreibtisch die Visitenkarte eines Herrn namens Âke Andersson, der seine Taxidienste anbot. Ich wählte sofort seine vierstellige Telefonnummer und war überrascht, an diesem Morgen der erste Kunde zu sein. Herr Andersson versprach am Telefon, mich für umgerechnet 30 Dollar bis auf ungefähr zehn Kilometer an mein Ziel heranzufahren. Damit wäre die Wanderung auf einen Spaziergang verkürzt. Jetzt, gerade mal zehn Minuten später, steht Herr Andersson schon vor mir auf dem Hotelparkplatz, neben ihm ein dunkelgrüner Toyota Landcruiser, an den so ziemlich alles rangeklatscht wurde, was der Tuning-Markt hergibt: Dachgepäckträger mit zwei zusätzlichen Ersatzreifen drauf, Prallschutz gegen Kühe vorne, elektrische Winde, Luftansaugstutzen für Fahrten durch tiefes Wasser. Angesichts der Paris-Dakar-Ausrüstung bekomme ich wieder einen kurzen Du-wirst-mit-deinen- Timberlands-sterben- Flash.

»Hello, my name is Âke«, stellt sich Herr Andersson vor. Er strahlt diese ungekünstelte Freundlichkeit aus, die es nur auf dem Dorf gibt. Im Gegensatz zu seinem Wagen sieht der schlaksige Einsneunzig-Mann nicht besonders geländegängig aus: Seine dünnen Beine stecken in einem Paar hellgelber Gummistiefel; dazu trägt er eine Anglerweste, auf die ungefähr siebzehn Taschen verschiedener Größe aufgenäht sind. Alles in allem wirkt er wie jemand, der gleich im Garten Unkraut zupfen oder eben Angeln gehen will. Ich schätze ihn auf fünfunddreissig, vielleicht auch vierzig, hinter dem dichten Hippiebart lässt sich das nur schwer erkennen. Wir steigen ein, und mein Chauffeur braucht ganze drei Versuche, bis er mit ungelenken Bewegungen das Zündschloss entriegelt hat. Als er meinen skeptischen Blick bemerkt, stottert er irgendetwas davon, dass der Wagen eigentlich seinem Bruder gehöre und der auch »all those embarassing after market parts« angebracht habe. Meine Survival-Panik legt sich wieder ein bisschen. Wie jeder gute Taxifahrer hat auch Âke nach wenigen Minuten meinen Gesprächsbedarf - also null - sofort erfasst. Nachdem ich auf seine Testfrage »Wanna see the icecap, right?« nur ein kurzes »Yap« geantwortet habe, stellte er alle Kommunikationsversuche ein. Seitdem schunkeln wir schweigend über die Buckelpiste. die am Nordende von Kangerlussuaq rausführt. Der Regen von gestern hat die Spurrillen in tiefe Seen verwandelt, und Âke muss ständig vom rechten Rand der Straße zum linken pendeln, um den Wagen nicht festzufahren. Nach einer halben Stunde steigt er kurz aus und fummelt mit ernster Mine unter der Motorhaube rum, wirkt dabei aber so tüddelig, als hätte er das noch nie zuvor gemacht.

»It's leaking steering fluid, you know«, erklärt er in seinem gebrochenem Englisch. Die Wartung dauert fünf Minuten, dann lässt er den Wagen wieder an und versucht, doch noch ein bisschen Konversation zu machen. Er erzählt davon, dass die Straße, auf der wir gerade fahren, angeblich von Volkswagen angelegt wurde, um auf diesem Weg Wagen zum Testen aufs ewige Eis zu bringen. Irgendjemand will nachts am Flughafen größere Fahrzeugkolonnen gesichtet haben, sagt Herr Andersson. Ausgerechnet Volkswagen ... In diesem Moment zeichnen sich in der Ferne die ersten Ausläufer der Gletscher ab, und mir wird klar, dass diese Geschichte Seemannsgarn sein muss. Der Eisrand sieht aus wie in einem Cartoon: eine steile, etwa haushohe weiße Mauer, ohne Ausläufer oder flache Stelle, an der man hochfahren könnte - als ob jemand eine dicke Eisscheibe auf das Land gelegt hätte. Kein Wagen der Welt kommt da einfach so rauf - und schon gar keiner aus Wolfsburg. Als Âke meine interessierten Blicke sieht, sagt er: »Don't try to touch the ice. Big chunks can fall off any time, you know.«

Er klingt echt besorgt.

»Okay«, quittiere ich extraknapp. Nach einer guten Dreiviertelstunde hält mein Fahrer an und schaltet den Motor ab. Vor uns macht die Straße einen Knick nach Osten, mein Ziel liegt nördlich, also geradeaus.

»That's it«, sagt Âke und lächelt. Jetzt ist es kurz vor zehn. Wir verabreden, dass er mich heute Abend gegen sechs an dieser Stelle wieder abholt; den vollen Fahrpreis hatte er schon vor dem Beginn der Fahrt kassiert. Ich schüttele ihm kurz die Hand und trete hinaus in den gleißenden Sonnenschein. Das ist er also: mein erster Schritt allein in der Fremde, in einer unwirklichen Welt. Bis auf die übliche Grundangst könnte der Tag nicht perfekter sein: Vom Fjord weht eine leichte Brise herauf, die Sonne brutzelt vom wolkenlosen Himmel herunter und trocknet die letzten Spuren des gestrigen Gewitters. Alle Befürchtungen, nicht polartauglich genug gekleidet zu sein, waren unbegründet; es ist sogar warm genug, um die Jacke auszuziehen.

»Fliegerwetter!« hätte unser Lateinlehrer Doktor Stein dazu gesagt, der alte Flakhelfer. Hinter meinem Rücken röhrt der Motor des Landcruisers kurz auf, Âke brüllt aus dem halboffenen Fenster noch »see you tonight« rüber, dann schaukelt sein Wagen auch schon wieder die Schlammpiste zurück in Richtung Kanger. Ich setze die Sonnenbrille auf und marschiere los. Jetzt eine Mundorgel ! In der Unterstufe war kein Klassenausflug komplett ohne dieses kleine rote Heftchen mit Wanderliedern. Es gehörte einfach in jeden Rucksack, samt zwei Landjäger-Würstchen und einer halb ausgelaufenen Capri-Sonne. Mein Gott, wie haben wir das gehasst, irgendwelchen Pfadfindermist singen zu müssen, obwohl wir eigentlich nur darüber diskutieren wollten, ob Darth Vader der Vater von Luke Skywalker ist oder wie viel »U/Min« der Lamborghini Countach schafft. Aber jetzt und hier würde ich meinen letzten Dollar für eine Mundorgel geben, nur um dieses Lied singen zu können, wo es »Harung« statt »Hering« heißt, damit sich die Zeile auf »Erfahrung« reimt, und in dem mindestens zweihundert »Fi-de-ra-la-la« vorkommen. Unwillkürlich beginne ich die Melodie vor mich hinzupfeifen, während das feuchte Moos unter meinen Sohlen quietscht. Heute könnte gut und gerne der beste Tag in diesem Jahr werden, vielleicht sogar in diesem Jahrzehnt. Selten zuvor auf dieser Reise schien das Morgenlicht so hell; die Zukunft liegt wie eine Eidechse auf einem warmen Stein und aalt sich in der Sonne. Nick, der Job, Deutschland - alles ist unendlich weit weg. Achtung, jetzt nur nicht den Refrain verpatzen: »Fi-de-ra-Ia-la-la-la «, mit Betonung auf den letzten zwei »la«, Ich komme mir vor wie Tim der Reporter auf dem Weg zu seinem nächsten Abenteuer, auf eine diffuse Art pfiffig . Grönland ist um diese Jahreszeit wie gemacht für Indoor-Menschen: Es gibt keinen Baum und keinen Strauch, der höher als bis zum Knie reicht. Wenn ein Hügel den Weg versperrt, ist er meist so flach, dass man einfach darüber hinwegspazieren kann; Felsen, um die man einen Bogen machen muss, sind selten. Die meiste Zeit laufe ich durch weite Täler, die über und über mit arktischen Blaubeeren bewachsen sind. Sanft - das ist das Wort. Die Landschaft ist sanft, und wären da nicht die verdammten Mücken, könnte man sagen: perfekt. Für meinen letzten Besorgniskauf, den Kompass, habe ich bislang noch keine Verwendung gefunden. Da nichts den Ausblick verstellt, lässt es sich leicht navigieren: Man geht einfach geradeaus. Ab und zu reicht ein Blick auf die Wanderkarte, um die Position zwischen den verschiedenen »Points« zu bestimmen, mit denen die Amis die Anhöhen markiert haben. Ansonsten findet man sich wie im Märchen zurecht: rechts vorbei an dem Hügel mit der Felsenglatze, dann weiter den kleinen Fluss entlang und durch das kleine Tal mit den Birken.

»Fideralala« pfeife ich und marschiere stramm voran, wahrscheinlich viel zu stramm und total unökonomisch, aber sich jetzt nicht dem Überschwang hinzugeben, wäre einfach zu schade. Leider lässt sich die Skepsis nicht ganz abschalten: Alles läuft so glatt ab, dass es eigentlich nur noch Minuten sein können bis zum erstem Reality Check, bis ich im Treibsand versinke, den es hier wirklich geben soll - oder bis mir ein Moschusochse das Rückgrat herausreißt. Der ist nämlich an diesem nahezu vollkommenen Morgen mein Angstgegner. Auf der Rückseite der Wanderkarte warnt das örtliche Tourismusbüro eindringlich vor dieser Mischung aus Schaf und Ochse. Dem ortsfremden Wanderer legt der einheimische Autor folgende Grundregel ans Herz: »Wenn du die Moschusochsen atmen hörst, bist du zu nah dran.«

Dann nämlich würden sich die Bullen zu einem Kreis formieren und angreifen, ermahnt der Text; ein Sicherheitsabstand von mindestens fünfzig Metern sei deshalb einzuhalten. Aber natürlich hätten die Tiere mehr Angst vor uns als wir vor ihnen und so weiter, blablabla. Aus meiner Warte stellt sich die Sache so dar: Erst wenn der Moschusochse als Wurst auf dem Brot liegt, bist du außer Gefahr. Also mache ich sicherheitshalber jedes Mal einen Riesenbogen. sobald am Horizont auch nur ein schwarzer Punkt zu sehen ist. Nach zwei Stunden kommt mein Ziel ohne großen Paukenschlag in Sicht: eine alte Dew-Station auf dem Gipfel eines Berges, wie erwartet.

»Mountain Dew!«, den Witz könnte sich Nick an dieser Stelle sicher nicht verkneifen. Mensch, was hätte der Spaß hier, zwischen all dem Zeug aus dem Kalten Krieg. Nachdem der erste Elterntipp, um die Zeit schneller vorbeigehen zu lassen - was singen - aufgebraucht ist, bleibt nur noch der zweite Klassiker: sich unterhalten. Und, Nick, was war das geilste Zockerlebnis aller Zeiten? Ghostbusters , hm weiß nicht. Oder Green Beret ? Trotz aller Hammerspiele, die uns - warum auch immer - beim Erscheinen wie Erdbeben vorkamen, würde ich sagen: Magnum . Wie lange ist das her, Unterstufe oder schon Mittelstufe? Spielt eigentlich keine Rolle. Jedenfalls war es ein Sommertag wie heute, mitten in den Ferien, mit 30 Grad und Freibadhimmel. Seit Tagen hatte Nicks Mutter ihm in den Ohren gelegen, doch mal »was draußen« zu machen. Und obwohl seine Eltern eigentlich kaum was zu melden hatten, tat er ihr den Gefallen, packte seinen C64 samt Monitor einfach auf einen weißen Garten-Servierwagen und rollte alles auf die Terrasse. Da saßen wir also auf unserer kleinen Nerd-Insel unter der alten Weide, in der Hand einen Apfelsaft - Schorle gab's da noch nicht -, an den Füßen das wasserdichte Rasenmäherstromkabel, und legten letzte Hand an Magnum an, unser erstes selbst geschriebenes Computerspiel. Obwohl selbst geschrieben vielleicht etwas übertrieben war: Die Titelmusik der Fernsehserie hatten wir als SID-Version auf irgendeiner Cracker-Diskette gefunden, genau wie die Schriftarten und die Laufband-Routinen für den Vorspann. Überhaupt der Vorspann: Wie die echten Profis steckten wir da 90 Prozent unserer Energie und die volle Rechnerpower des Brotkastens rein. Ich hatte mit viel Liebe ein Porträt von Tom Selleck gemalt, das wir damals für super getroffen hielten, das aber eigentlich keine Ähnlichkeit mit dem Schauspieler hatte. Als wir letztens noch mal drüber gestolpert sind, fanden wir beide, dass Selleck wie ein Schwarzer drauf aussieht. Nick steuerte jedenfalls diverse Laufbänder bei, die ständig unsere Crackernamen durchnudelten, »Ziggy« für Nick, »Kee« für mich. Als echte Nostalgiker verwenden wir diese Namen noch heute überall, wo so kurze Log-in-Kürzel erlaubt sind. Es war das perfekte Intro, klopften wir uns gegenseitig auf die Schulter, ein Feuerwerk aus Formen, Farben und Bildschirmzuckeln - das würde Eindruck machen in der Community! Nachdem wir für den Startbildschirm ungefähr eine Woche gebraucht hatten, war nicht mehr viel Energie für das eigentliche Spiel übrig, und den ersten und einzigen Level kloppten wir an diesem Nachmittag unter der Weide zusammen. Das banale Gameplay stand schnell fest: Der Spieler sollte ein kleines Magnum-Männchen durch das Anwesen von Robin Masters steuern und dabei Higgybabys Dobermännern aus dem Weg gehen. Da wir alle Sprites hochauflösend gemacht hatten, war nachher für die Hintergrundgrafik kaum noch Speicher übrig, und Magnum und seine Verfolger bewegten sich vor einem Mosaik aus grauen und grünen Symbolen. Besonders schwer war das Game letztendlich auch nicht, da Nick aus Faulheit für beide Dobermänner den gleichen Patrouillierweg programmierte hatte; nach ein paar Minuten wusste man so, wie der Hund läuft, und konnte Magnum mit geschlossenen Augen durch den Garten lotsen. Spielte aber keine Rolle, denn die nächsten Level würden es schon richten; für die nahmen wir uns Großes vor, mit Flashback-Szenen aus Vietnam, Hubschraubern und natürlich noch was mit dem Ferrari. So ein kleiner Fahrsimulator zwischendurch, das wär's doch. Ich glaube, genau eine Hintergrundgrafik habe ich noch gemacht, dann schlief das Projekt ein, weil wir damit beschäftigt waren, jede freie Minute Beachhead II zu zocken. Aber als wir an diesem Nachmittag auf Nicks Terrasse schließlich fertig waren und das Game zum ersten Mal vom Intro bis zum atemberaubenden ersten Level durchspielen konnten, holte Nick sogar seine Mutter rüber, um ihr unser Werk vorzuführen. Sie lächelte etwas unsicher, wahrscheinlich, weil sie insgeheim dachte: »Ist der Magnum nicht ein Weißer?«

Egal, wir hatten geschafft, was sonst nur die Profis schafften. Zum ersten Mal war ein Spiel nicht nur Rohmaterial zum schnellen Durchzocken, Spriteklauen oder billige Tauschware für den Schulhof. Es war unser Spiel. Aussprechen wollte das natürlich keiner von uns, dafür hätte es viel zu lehrermäßig nach »selbst gemacht ist doch viel besser als der Kormmerzscheiß« geklungen. Trotzdem war da was: Stolz, mindestens genauso viel wie beim hundertfünfzigsten Highscore. Hätten wir das vielleicht weitermachen sollen? Ein Bekannter eines Bekannten hatte schließlich in seinem Keller den ersten Bundesliga Manager programmiert und war danach voll ins Spielebusiness eingestiegen. Wahrscheinlich spielten wir einfach zu gerne, um für die Belohnung eine Woche lang vorm Bildschirm zu sitzen; in die Community-Zeitschrift »64er« haben wir es mit Magnum jedenfalls nicht geschafft. Aber vielleicht gelingt mir ja heute der Sprung in das »Journal of Cold War Studies«, das Nick im Netz immer verschlingt? Der Höhepunkt meiner Forschungsreise zumindest scheint unweigerlich näher zu rücken: Aus der Ferne ist von Black Ridge II erst mal nur eine riesige Radarkuppel zu erkennen, ein weißer Ball mitten auf einem Felsplateau. Um sie herum stehen drei haushohe Autokino-Leinwände oder zumindest etwas, das so aussieht; Unterkünfte oder so lassen sich von hier unten noch nicht ausmachen. Vor lauter Vorfreude lege ich noch einen Schritt zu. Nach weiteren zehn Minuten ist es mit dem gemütlichen Schlendern vorbei: Der gefürchtete Teil, wo es bergauf geht, beginnt, und von einer Minute auf die andere verwandelt sich die liebliche Auenlandschaft in eine feindliche Steinwüste. Plötzlich tun sich zwischen den Hügeln kleine Schluchten auf und zwingen mich, so etwas wie Routenplanung einzuführen: ein paar Hundert Meter links am Fuß des Berges vorbei, dann dem weniger steilen Grat Richtung Gipfel folgen. Mit jedem Höhenmeter wird der Aufstieg steiler, brennen die nach zwei Wochen in Auto und Flugzeug verkümmerten Wadenmuskel heftiger. Obendrein weht jetzt ein scharfer Wind vom Eisrand herüber und zwingt mich, das total uncoole gelbe Cape auszupacken.

»Ja, aber es ist nur eine trockene Kälte«, kann ich die Goretexaner förmlich belehren hören. Irgendwann geht es nur noch im Kriechtempo weiter: Ein paar Meter Kraxeln, nach oben schauen, den Fortschritt begutachten, dann über die nächsten paar Felsbrocken balancieren - bei diesem Rhythmus kommt die Basis nur in Zeitlupe näher. Ich kriege Seitenstechen und muss zweimal ganz anhalten, um Pause zu machen. Schließlich bin ich doch nahe genug an die Station gekommen, um die ersten Baracken zwischen den Radarinstallationen erkennen zu können. Mit ihren schwarzen Fenstern sehen die grauen Zweckbauten wie das Gebiss eines alten Mannes aus. Da drinnen haben sie also dreißig Jahre lang vor ihren Bildschirmen gesessen und langsam durchgedreht, die Radartechniker der Air Force. Wie antike Torwächter müssen sie sich vorgekommen sein, allein im Dunkel der Nacht, nur wach gehalten von dem Wissen, dass sie allein verhindern können, dass sich der Feind in der Dunkelheit der Nacht heranschleicht und ihre Familien auslöscht. Im Netz sind die Berichte der Dew-Veteranen noch heute zu lesen, Geschichten von hirnaustrocknender Langeweile, von ständigen Panikattacken, wenn ein »Unkown« - meist Sportflieger - in die Maschen der Mikrowellen geriet, von Leere und Frustration. Trotzdem sind sie alle froh, dass der blinkende Punkt auf dem Schirm, für den sie hier oben saßen, niemals auftauchte. In den Sechzigern bauten die Russen dann zum ersten Mal Raketen, die so hoch fliegen konnten, dass sie von Bodenradars nicht zu entdecken waren. Sie machten den elektronischen Limes im hohen Norden überflüssig, und die USA beschlossen, die meisten Stationen abzubauen. Wie sinnlos müssen sich die verbleibenden Wächter in der arktischen Einsamkeit vorgekommen sein? Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Dew-Line endgültig demontiert, meist von Spezialfirmen für heikle Aufträge, weil die alten Stationen randvoll mit Giftmüll sind, Arsen und so. Ich bilde mir ein, den Asbest aus dem schönen Rhodesien schon bis nach hier unten riechen zu können. In Wirklichkeit ist die Luft so klar, wie sie nur an einem Punkt sein kann, der in jede Himmelsrichtung 2000 Kilometer von der nächsten Fabrik entfernt ist. Wäre da bloß nicht das lästige Wandern. Langsam kriege ich einen Black-Butte-Flashback: Der Aufstieg nimmt kein Ende; Bergkamm folgt auf Bergkamm, eine gnadenlose Mauer aus Felsen, und ohne einen Kumpel, vor dem man das Gesicht wahren muss, gebe ich mich meiner schlechten Form hin. Ich gönne mir alle paar Meter eine ausgedehnte Atempause und wedele mit meinem durchnässten T-Shirt. Zwei von drei Müsliriegeln habe ich aufgegessen, mein Wasservorrat, eine Flasche Vittel aus dem Flughafenshop, ist ebenfalls schon halbleer. Was ich jetzt bräuchte, wäre ein Motivationskick - zum Beispiel ein Nick, der sagt: »Wer zuerst oben ankommt, ist der bessere Zocker.«

Nach gefühlten anderthalb Stunden steilem Aufstieg, in echt waren es wahrscheinlich nur zwanzig Minuten, lässt die Steigung endlich nach, und anstelle von Felsklumpen liegt jetzt Sportplatzschotter auf dem Weg. Hinter dem nächsten Buckel müsste die Radarstation eigentlich gut zu sehen sein. Das wäre übrigens auch genau die Stelle, wo sonst immer der berühmte Zaun steht, an dem unsere Geheimtrips enden. Nur dass er diesmal nicht kommt. Kein »No Trespassing«- Schild verbietet das Herumstreunen, keine Kameras verderben die Einsamkeit, nichts. Seltsam, wie sichern die den Perimeter gegen Wochenend-Abenteurer wie mich ab? Hier könnte doch jeder raufmarschieren, sich ein Bein brechen und danach die US-Regierung verklagen. Dann auf einmal taucht Black Ridge II hinter dem Bergkamm auf, wie eine Kathedrale vor wolkenlosem Himmel. Wow, allein für diesen Blick hat sich der Trip schon gelohnt. Schon komisch, dass Nick auf dem ersten Kreuzzug, wo es wirklich was zu sehen gibt, nicht dabei ist. Was aus dem Tal noch wie ein Märklin-Städtchen aussah, ähnelt von Nahem dem Spielplatz eines Riesen: Die Autokinoleinwände sind in Wirklichkeit Troposphären-Antennen, jede so hoch wie ein dreistöckiges Haus, mit denen die Horchposten andere Stationen anfunken konnte, die einen halben Kontinent weg waren. Gleich drei der Dinger stehen am Rand der Station. Ich kann immer noch nicht glauben, dass mich niemand aufhält, und suche sorgfältig vor jedem Schritt den Boden ab. Vielleicht haben die ja Stolperdrähte gespannt oder Ammonium-Detektoren verteilt, wie in Iowa. Erst als ich unbehelligt vor dem Betonsockel einer der Antennen stehe, lässt die Anspannung ein bisschen nach. Ich stelle meine Wasserflasche ab. Unglaublich, dass die Antennen immer noch nicht umgefallen sich, so klapprig, wie sie aussehen. Auf der Rückseite stützt nur ein Stahlskelett die riesigen Schüsseln, das wild durcheinander verstrebt ist wie ein Hochspannungsmast. Die Antennenfläche selbst besteht aus glänzenden Metallplatten, die mit dicken Bolzen zusammengenietet sind und das Sonnenlicht so stark zurückwerfen, dass ich trotz Sonnenbrille die Augen zukneifen muss. Wie ein Tourist vor dem Kölner Dom staune ich zum Himmel hinauf, eine Hand in den Rücken gestützt, die andere als Schutz vorm Gesicht. Nach geheimer Hightech sieht die Funkanlage mit ihren dicken Nieten allerdings nicht aus, eher antiquiert, wie die Brücke von Kapitän Nemos Nautilus. Vielleicht dürfen Sachen hier oben in der Arktis einfach nicht zerbrechlich sein. Von der ganzen Elektronik jedenfalls ist nichts mehr zu sehen; entweder die Rückbauteams haben alles abmontiert oder die Leitungen verlaufen unterirdisch. Von der gigantischen Mikrowellen-Schleuder namens Dew-Line zeugen nur noch ein paar Kabelstränge, die über eine kleine Metallbrücke zu einer der Baracken führen. Anstatt unter den zusammengenieteten T-Trägern durchzugehen, mache ich lieber einen kleinen Bogen, um die Schuppen zu inspizieren. Schwer vorzustellen, dass hier mal jemand gelebt hat. Die Verschläge sehen aus wie diese Unterstände, in denen die Autobahnmeisterei Rollsplitt lagert. Klapprig, mit verbogenen Metallplanken verkleidet und matt grau angestrichen. Fenster gibt es an jeder Seite jeweils nur eines, aber die sind so hoch angebracht, dass man vom Boden aus nichts erkennen kann. Warum wächst hier nichts? Selbst in den windgeschützten Ecken der Baracken ist kein Grashalm zu sehen, nicht mal Flechten, nur Schotter. Haben sie den Boden so mit Gift vollgepumpt. oder ist es hier oben einfach nur zu kalt für Unkraut? Jedenfalls sehen die Gassen zwischen den Baracken wie ein frisch geharkter Zen-Garten aus. Überhaupt macht die Station für ein halbes Jahrhundert arktischer Winterstürme einen erstaunlich guten Eindruck. Hier und da blättert der graue Tarnanstrich zwar ab, in einer Antenne fehlen ein paar Segmente, und von einem Öltank hängen lange Rostbärte herunter; davon abgesehen wirkt alles so einsatzbereit, als könnten in zwei Minuten die Chinook-Helikopter, diese fliegenden Bananen, mit der Winterbesatzung einschweben. Selbst die weiße Landemarkierung zwischen den Baracken leuchtet so hell, als sei sie gerade erst aufgepinselt worden. Ah, endlich liegt mal was rum. Hinter einem der Verschläge schauen ein paar Ölfässer hervor. Es gibt nichts Cooleres als Ölfässer, da waren Nick und ich uns schon immer einig. Das ist wie mit dem Lufthansa-Atlas für die Geschäftsleute: Alles schreit »nichts für Kinder!« - und wird dadurch unermesslich interessant. Ölfässer sind der Inbegriff einer stillgelegten Fabrik, und damit des interessantesten Ortes, den sich ein Zehnjähriger vorstellen kann. Lupinen zwischen Backsteinmauern, ölverschmierte Maschinenteile oder - die Vollendung! - eine rostige Grubenbahn, Kein Wort kann diesen Sex fassen, schon gar nicht »lndustriebrache«.

Natürlich ist man irgendwann groß genug, die Sache nüchtern zu sehen. Jeder weiß, dass Fabriken an sich langweilige Orte sind, wo Menschen Stechkarten in Automaten stecken und banale Dinge verrichten. Dem Nimbus tut das trotzdem keinen Abbruch. Wo ein altes Ölfass liegt, da gibt es ein Geheimnis. Langsam kommt der Puls runter, und ich schlendere zwischen den Baracken hindurch auf das Haupthaus in der Mitte der Station zu. Obendrauf sitzt die Radarkugel, so groß wie ein Heißluftballon, die mit ihren zahllosen dreieckigen Segmenten so aussieht, als habe sie ein wahnsinnig kluger Wissenschaftler erdacht. Endlich ist der verdammte Aufstieg vorbei, runter geht's bestimmt leichter - ganz sicher, Papa. Uhren-Check: Erst eins, für den Rückweg bleibt noch reichlich Zeit, das Rendezvous mit Âke wird kein Problem. Im Überschwang kicke ich ein paar Steinchen weg und gehe so breitbeinig wie Gary Cooper in »High Noon« auf der Gasse zwischen den Antennen entlang, immer meinem eigenen Schatten hinterher. Und was nun? Darüber werde ich nachher nachdenken, jetzt erstmal genießen. Nach zwanzig Metern erreiche ich den Windschatten des ersten Gebäudes, und es wird totenstill. Nur das Knirschen der Steinchen unter meinen Füßen stört die Ruhe. Was ist das? Ich bleibe stehen, und höre noch einmal genau hin. Da, es ist immer noch da, ein ganz leises Pfeifen, so wie der Ton, der um zwei Uhr nachts aus dem Fernseher kam, als es noch einen Sendeschluss gab. Ein Generator vielleicht? Aber die Station ist doch längst abgeschaltet. Ich drehe mich um und versuche etwas zu erkennen. Sekundenlang raubt das grelle Gegenlicht die Sicht. Dann sehe ich, wie es langsam die Bergkuppe heraufkommt. Ich renne los.

Extraleben - Trilogie
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