LEVEL 33
Die Begeisterung für manche Sachen im Leben verläuft wie eine Welle: Singen in Gesellschaft, Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag - und Wandern zum Beispiel. Da fängt die Begeisterungskurve ganz weit links oben an, wenn man noch ein Kind ist, rauscht während der Pubertät in den Keller und erholt sich erst ab 30 wieder langsam. Genauso läuft es halt mit dem Wandern: Das lässt sich zu Grundschulzeiten erst mal ganz gut an, wenn man im Osterurlaub mit den Eltern nach Meran fährt. Da muss man einfach wandern, das gehört dazu wie Manner, Almdudler und Papas Hinweis, dass der Abstieg ja viel anstrengender sei als der Aufstieg - übrigens wieder ein Punkt für unsere Liste ewiger Elternweisheiten. Dann wird man irgendwann 14 und hat keine Lust mehr, die Beine zu bewegen. Diese Einstellung schlägt ins Extreme um, sobald man den Führerschein in der Tasche hat. Bei uns erreichte sie ihren Höhepunkt in dem Moment, als wir die 250 Meter vom Oberstufen-Aufenthaltsraum bis zur Spielkiste mit dem Auto gefahren sind, und zwar jeder mit seinem eigenen Wagen. Eine Fahrgemeinschaft zu gründen war fast noch undenkbarer, als freiwillig zu wandern. Irgendwann, Mitte zwanzig, kam dann der Umschwung auf leisen Sohlen. Er begann mit dem Satz: »Da sind wir doch in zehn Minuten oben!«
Fast beiläufig ließ Nick diese Worte fallen, als sei nichts dabei. Das war, als wir in Oregon gerade an einem Berg namens Black Butte vorbeifuhren, der sich leider nicht wie »Butt«, also Hintern, ausspricht, sondern ganz Pseudofranzösisch »Bjuht« und auch eher ein Hügel als ein Berg ist. Von der Straße aus sah er jedenfalls völlig läppisch aus. Wir schätzten, dass es bis zum Fuß des Hügels zweihundert Meter sind; dann kam ein kleines Wäldchen und eine kleine Passage mit Felsen, alles nicht besonders steil. Trotzdem kalkulierte ich lieber vorsichtig: »Zehn Minuten? Mindestens eine halbe Stunde!«
»Quatsch«, erwiderte Nick bestimmt. In diesem Moment war die Sache klar: Es ging um die Ehre. Meine Schätzung gegen seine. Ohne zu zögern, machte ich eine Vollbremsung, wir stiegen aus und marschierten los. Einfach so, ohne Wasser oder Essen, mit unseren ausgelatschten Chucks. Es würde ja nur zehn oder eben dreißig Minuten dauern. Nach einer halben Stunde ging es das erste Mal leicht bergauf; zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine derart winzige Entfernung zurückgelegt, dass man das Nummernschild unseres Autos in der Ferne noch erkennen konnte. Wir taten kollektiv so, als hätten wir nichts bemerkt, und begannen mit dem Aufstieg - und zwar schnurstracks geradeaus, einfach den Berg hoch, Felsen über Felsen, ohne regelmäßig zu atmen oder so was.
»Serpentinen sind was für Verlierer«, meinte Nick, und da hier ein Kumpel-Wettkampf im Gange war, mussten wir uns wohl oder übel dran halten. Als wir nach zwei Stunden den Gipfel erreichten, hatten wir das Gefühl, jede Sekunde Blut husten zu müssen. Wir knieten auf dem Boden und röchelten in unseren klatschnassen T-Shirts zehn Minuten vor uns hin, bevor wir wieder sprechen konnten.
»Guck mal Alter«, sagte Nick, und zog ein kleines Einweckglas unter einem Steinhaufen hervor, der den Gipfel markierte. Darin lagen ein Stift, eine Packung Kondome sowie ein Notizblock, in dem die Gipfelstürmer vor uns ihre Gedanken niedergelegt hatten. Nick blätterte das Büchlein durch, bis er den letzten Eintrag fand. In einer krakeligen Kinderschrift stand da nur: „a nice 30 minute climb. tom«