#42 T-2: 04:49
Hat er gekokst? Oder vielleicht Speed eingeworfen? Genau, dazu würde sein Verhalten passen: Erst quasselt er hyperselbstbewusst herum, als ob er drei Meter groß und kugelsicher wäre, und im nächsten Moment klingt er jammerig wie ein Selbstmordkandidat. Wahrscheinlich sind daran nur die Medikamente schuld, mit denen sie ihn im Krankenhaus vollgepumpt haben. Erstaunlich, was das Zeug aus einem souveränen, ja übermenschlichen Mann macht. Jedenfalls ist es schwierig, aus Johns wirrem Gefasel herauszuhören, worum es geht, zumal er ständig zwischen Englisch und Deutsch wechselt. Trotzdem hält das Nick nicht davon ab, strebermäßig jeden seiner Sätze mit einem »klar« oder »hm-hm« zu quittieren. Nur eine Sache kommt klar rüber: Die Kacke ist am Dampfen. Einer der Aufklärungssatelliten, die die Amis Anfang der Achtziger hochgeschossen haben, reagiert nicht mehr auf die Kommandos der Bodenstation. Als Zwangsempfänger von Sput-Nicks gesammelten Nasa-Dönekes weiß ich natürlich, dass das ständig passiert und andauernd irgendwelche antiken Satelliten in den Zombie-Modus verfallen. Doch die allermeisten stürzen dann einfach nur ab oder verglühen in der Atmosphäre. Keyhole 11/9 scheint anders zu sein. Das fliegende Teleskop taumelt da oben durch die Dunkelheit und wird in wenigen Stunden mit einem anderen Satelliten zusammenstoßen. John schaut auf seine Uhr, eine teure Breguet.
»Es bleiben nur noch ungefähr zwei Tage, um den Satelliten auf eine sichere Flugbahn zu bringen - sonst droht eine Kollision.«
Nick setzt seine verständnisvolle Das-Ende-der-Welt-ist-nah Miene auf.
»Reden wir hier über einen Event der Klasse Cosmos-Iridium?«
»Im besten Fall ... «, orakelt John und setzt die Flasche an. Seine stecknadelkopfgroßen Pupillen rasen die Decke entlang und bleiben am Rauchdetektor hängen. Nick nutzt die Pause, um mir eine Erklärung zuzuraunen.
»Ende der Nuller ist ein alter russischer Cosmos-Kommunikationssatellit mit einem der Teile von Iridium zusammengestoßen - du weißt schon: Über diese Dinger laufen die Satellitentelefone mit den klobigen Antennen. Jedenfalls hat niemand die Kollision kommen sehen -und Boom«, er schlägt die Fäuste zusammen, »auf einmal waren zweitausend Trümmerteile mehr im Orbit unterwegs, die andere Satelliten oder die ISS in Stücke hätten blasen können. Die Folge wären weitere Kollisionen, die weitere Trümmerteile produzieren, die weitere Kollisionen verursachen, und so weiter.«
Sein Zeigerfinger fährt aus.
»Du musst immer dran denken: Alles, was da oben rumfliegt, ist so schnell wie eine Gewehrkugel; da wirkt ein zehn Zentimeter großer Splitter wie sieben Tonnen Sprengstoff. Und jetzt stell dir mal vor, dass die Trümmer von Keyhole 11/9 einen oder mehrere GPS-Satelliten wegputzen: Sofort wäre alles außer Gefecht gesetzt - Schiffe, Lkw-Flotten, automatische Containerbrücken. Die Erde würde stillstehen.«
John nickt vor sich hin und überfliegt währenddessen die Ausdrucke in seiner Hand: vier Seiten mit kleinen grünen Streifen und ein paar Zahlen aus dem Nadeldrucker, nicht auffälliger als eine Tankquittung. Und diese läppischen vier Seiten sollen die Katastrophe verhindern? John schreckt hoch, als ob ihn jemand aufgeweckt hätte.
»Äh, die Leute vom NRO vermuten, dass es einen Fehler in dem Programm gibt, das die Flugbahn des 11/9 steuert«, fährt John fort, »und da die Software nur noch auf Tape zu bekommen war, wurde die Datacorp -wie sagt man? -approached. Wir sollten die Daten auslesen und den Fehler korrigieren, der dafür sorgt, dass Keyhole die Befehle der Bodenstation ignoriert. Teil eins der Aufgabe haben Sie ja schon mit Bravour erledigt, meine Herren ...«
John ringt sich ein wohlwollendes Lächeln ab. Das ist genau der Motivations-Scheiß, bei dem wir sonst immer das Kotzen kriegen. Da Nick weiter in Chef-Huldigungs starre verharrt, schieße ich quer.
»Wo kam das Tape her?«
Major Tom wirft mir einen feindseligen Blick zu.
»Sagen wir so, die amerikanische Intelligence Community ist schon seit vielen Jahren an einigen Stellen der Bundesrepublik präsent, auch mit Bodenstationen.«
Aha, er hat das Tape also in einer Horchstation an der ehemaligen Zonengrenze aufgetan und wollte es dann rüber zu uns nach Ehemalistan schaffen. Dabei müssen ihn die bösen Jungs von der Datacorp erwischt haben. Wahrscheinlich sollte ihm der Pilot die Kassette abnehmen, es kam zum Kampf -und Crash. John stellt sein leeres Bier auf den Boden und klopft sich mit einer Hand auf den Oberschenkel. das Signal zum Aufbruch.
»Alright. Denken Sie, Sie können den Fehler hier drin finden und zwar bis morgen um zehn?«
Er winkt mit den Ausdrucken.
»Dann haben wir nämlich ein Meeting mit den Herren vom National Reconnaissance Office.«
Nick reckt stolz den Hals hoch.
»Nicht nötig - wir haben das NRO schon angerufen!«
John schießt von seinem Stuhl hoch.
»You did what?«
Sein Schreien gellt durch die vertäfelte Hölle. Stille. Im Zimmer nebenan brummelt der Applaus einer Sportübertragung vor sich hin. Wir haben Scheiße gebaut, aber warum? Jetzt bloß nicht John ansehen, immer schön an seinen Augen vorbeigucken, am besten auf die Stirn. Oh shit, beim Hochspringen muss die Wunde unter dem Pflaster aufgeplatzt sein: Ein kleiner roter Punkt sprießt in der Mitte aus dem weißen Zellstoff.
»... sie sagten, sie kämen uns abholen«, flüstert Nick.
»Sie haben dem NRO gesagt, wo wir sind?«
Johns Stimme überschlägt sich hysterisch. Seine Hand mit den zusammengerollten Ausdrucken zittert unkontrolliert. Nick versucht, die Wogen zu glätten.
»Ja, wir dachten ... «
Doch John hört gar nicht mehr hin. Er humpelt zur Tür rüber und reißt sie mit einem lauten Krachen auf. Er weist mit dem Kinn nach draußen. Doch Nick zögert. So leicht will er sich das Treffen mit den Geheimtypen vom NRO nicht verhageln lassen.
»Ja, aber ...«
In diesem Moment rastet John endgültig aus. Er holt tief Luft und schreit dem Beifahrer so laut er kann ins Gesicht.
»If you don't fucking move you'll never see your wife again! «
Ein kleiner Faden Blut hat den Verband auf seiner Stirn verlassen und zieht sich das Nasenbein runter.