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Kein Wunder, dass der Taxifahrer Nick misstrauisch anguckt, als der die Spesen-Kreditkarte nach vorne reicht. Die Gegend, in die uns Major Tom geschickt hat, ist echt übel. Erst kamen die Büroparks, das ging noch, dann zogen kleine Fabriken vorbei, auch okay, doch jetzt sind wir in etwas angekommen, das man wohl einen Slum nennt: abbruchreife Wohnblocks entlang einer Schlaglochpiste, jedes in einen Kokon aus über Putz verlegten Telefon-und Stromkabeln eingehüllt. Dazwischen immer wieder brachliegende Grundstücke und kleine Wellblechhütten. Kuala Lumpur wächst nicht, Kuala Lumpur wuchert. Und wir sind bei einem ziemlich üblen Geschwür angekommen. MYR steht neben dem Betrag auf dem Thermoausdruck, der aus dem Buchungsgerät surrt. So heißt wohl also die Währung, malayische Rupien vielleicht? Ich schubse Nick so auffällig an, dass er nicht anders kann, als dem Fahrer noch ein paar MYR Trinkgeld einzutragen, denn hier draußen findet der garantiert keine Rücktour in die City. Der Beifahrer ist nämlich sogar mit dem Geld anderer Leute knickrig. Wir bedanken uns artig und steigen aus. Nach einer halben Stunde in dem fahrenden Kühlschrank trifft uns die Hitze wie ein Faustschlag ins Gesicht - oder zumindest so, wie man sich einen Faustschlag ins Gesicht vorstellt. Die Luft rinnt zähflüssig wie Honig die Bronchien runter, jeder Atemzug wird zur Arbeit. Es riecht nach Abgasen, nassem Asphalt und Kloake. Noch bevor wir uns richtig umgesehen haben, sprießt auf Nicks hellblauem T-Shirt der erste dunkelblaue Fleck am Rücken. Der Gestank kommt von rechts: Zwanzig Meter neben der Straße, hinter einem kleinen Streifen aus Gestrüpp und Bauschutt, liegt ein Kanal, in dem sich braune Brühe Richtung Meer quält. Am anderen Ufer fängt der Dschungel an, der von hier bis nach Myanmar reicht. Flechten erwürgen die Stämme der Bäume in der ersten Reihe, ihre Äste hängen faulend ins Wasser. Dahinter türmt sich eine undurchdringliche Wand aus Palmen auf. Der Soundtrack klingt nach dem Südamerika-Haus im Zoo. Ständig schreit es irgendwo im Dickicht, doch das Tier dazu kann man nie erkennen. Manche Schreie klingen wie das Wimmern der Katzen, die sich nachts auf der Straße vorm Dorint gegenseitig halb tot beißen. lrgendwo da drinnen müssen jedenfalls ziemlich viele Viecher sitzen, von der Blutegelsuppe im Kanal mal ganz abgesehen. Willkommen auf Endor.

»Das muss es sein«, sagt Nick und zeigt auf einen Wohnblock rechts vor uns. Völlig unvorstellbar, dass hier mal ein Wissenschaftler von Weltruhm gewohnt haben soll. Ist er einer schönen Malayin in die Falle gegangen, die ihm seine ganze Kohle abgeknöpft hat, sodass er in dieser Höhle rumvegetieren musste? Wir schlendern etwas unschlüssig auf den Bau zu. Beim Einchecken hatte uns die Dame an der Rezeption unserer Panoramaherberge vor Taschendieben in der City gewarnt. Was für Sicherheitsempfehlungen sie wohl für diese Gegend hätte - und welche Warnungen Ede Zimmermann erst? lrvings Wohnung liegt in einem Gebäude, bei dem die Flure wie ein Balkon an der Außenwand angebracht sind; so kann man schon von der Straße aus sehen, wer in die Wohnungen reingeht. Keine gute Tarnung. Die Treppe zu den oberen Etagen schlängelt sich - auch offen - an der Gebäudeseite hoch. Nach Jahrzehnten feuchter Tropenluft und Smog sieht die ungestrichene Fassade so schwarz aus wie das untere Ende eines Duschvorhangs, der etwas zu lange nicht ausgetauscht wurde. Ich setze den Fuß auf die erste Stufe, ganz vorsichtig, schließlich betreten wir Boden, den sicher noch nie ein TÜV-zertifizierter Baustatiker berührt hat. Viel los ist im Block nicht. Anders als in der City besteht hier nicht die Gefahr, eine Menschenallergie zu kriegen. Auf unserem vorsichtigen Weg in den sechsten Stock begegnet uns nur eine Malayin mit Kopftuch, und auch die schaut so auffällig zur Seite, dass man fast nichts von ihrem Gesicht erkennt. Oben auf dem Flur läuft uns noch ein junger Chinese mit Kopfhörern in den Ohren über den Weg, das war's. Das Domizil der Legende Irving sieht von außen denkbar unlegendär aus: eine fensterlose Betonwand, nur unterbrochen von einer hellgrünen Holztür, die kurz über dem Boden mit kleinen schwarzen Schimmel-Punkten übersät ist. Von Geheimhaltung keine Spur: Irvings Name steht sogar neben der Klingel; er ist auf so einen Aufkleber gekritzelt, mit denen sonst Gefrierbeutel beschriftet werden. Der einzige Unterschied zu den sieben anderen Wohnungen auf dem Flur ist, dass ein Code-Schloss direkt über der Klingel angebracht wurde. Das Edelstahlgehäuse glänzt, als hätte man es erst vor einer Minute an einem deutschen Geldautomaten abgeschraubt. Über der Tastatur glimmt eine eingelassene LED in Unheil verkündendem Rot. Es ist also wieder so weit: Eine weitere grandiose Odyssee endet vor einer geschlossenen Tür. Nick sieht das anscheinend weniger pessimistisch. Er stellt den Grid neben der Tür ab und beugt sich neugierig zum Tastenfeld runter.

»Na, dann woll'n wir mal!«

Ohne zu zögern gibt er die erste Zahl ein: Vier. Dann die nächste: Null. Und noch eine Null. Na klar - die Zahlenkolonne, die direkt hinter Irvings Namen stand, in dem Datensatz aus dem Grid! Wie ging die Reihe nochmal weiter? Der Beifahrer hat sich natürlich jede Ziffer gemerkt. Fröhlich tippt er weiter - noch eine Vier.

»Ich habe übrigens rausgefunden ...« Übrigens bedeutet an dieser Stelle, dass er die letzten zwei Tage im Hinterkopf über nichts anderes nachgedacht hat.

»... was die Zahlen bedeuten. Da hat sich Irving eine ganz simple Eselsbrücke gebaut. Also: Die ersten vier Ziffern - 4004 - stehen natürlich für den ersten Mikrochip ...«

»... der in Serie ging und von Irving mitkonstruiert wurde«, ergänze ich brav.

»Genau, und der wurde am 15. November 1971 auf den Markt gebracht, in altem amerikanischen Datumsformat schreibt man das elf, fünfzehn, einundsiebzig.«

Er tippt die Zahlen ein. 11-15-71 Klack, die LED schaltet von Rot auf Grün um.

»Easy Money.«

Nick grinst und schiebt die Tür mit dem Fuß einen Spalt auf. Easy Money. Natürlich: »Terminator 2«, die Szene, wo der junge John Connor den Geldautomaten mit seinem Atari Portfolio knackt.

Extraleben - Trilogie
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