#20 T-4: 23:33
Krissi, wir werden dich vermissen! Jemand hat die Worte mit einem roten Filzstift sorgfältig quer über die Seite geschrieben, in sauberer Mädchen-Schreibschrift, mit kleinen Herzchen statt Punkten auf den »I«s. Rührend, genau wie der Rest der Einträge. Wir wünschen dir alles Gute bei deinem großen Abenteuer! Dein Onkel Eberhard. Oder: Krissi: Rock Amiland! Noch bevor ich mir den Rest durchlesen kann, blättert das Mädchen weiter. Sie hat ihre Füße am Rand des Sitzpolsters abgestellt und ihren Kapuzenpulli über die Beine gezogen, sodass sie jetzt wie eine rote Mumie aussieht. Dazu trägt sie das volle Öko-Ornat: hennarot gefärbte Haare, Freundschaftsbändchen am blassen Handgelenk, so 'nen Indio-Ring. Das bisschen, was man von ihrer Figur erkennen kann, sieht okay aus. Wenn nur nicht dieses herbe Gesicht wäre. Die fiesen Klassenkameraden drüben in den Staaten werden sie hinter vorgehaltener Hand ein »Butterface« nennen. Das leitet sich aus dem ziemlich gemeinen Satz ab: »She looks good - but her face!«
Mist, sie hat bemerkt, dass ich rübergucke! Zur Strafe feuert sie aus dem Augenwinkel einen Alter-Sack-was-ist-dein-Problem-Blick ab. Schon gut, ich starre ja schort wieder nach vorne. Warum geben einem solche Gören ständig das Gefühl, dass die eigene Existenz eine Zumutung ist? Sie sieht wie siebzehn aus, vielleicht auch achtzehn. Genauso alt wie wir, als wir das erste Mal rübergeflogen sind, direkt nach dem Abi. Junge, das Reisebüro hat uns in den beschissensten Flug gesetzt, den es gab: Start in Amsterdam, danach noch zweimal umsteigen. Doch das spielte keine Rolle. Hauptsache, wir konnten nach drüben, ins gelobte Land, wo all die Sachen herkamen, die wir cool fanden. Nick hatte schon Monate vorher eine perfekte Route ausbaldowert, auf der wir bei allen wichtigen »Sehenswürdigkeiten« vorbeikommen würden, wie er sagte. Dass die nicht im Baedeker stehen würden, war klar. Bei unserem ersten Ziel waren wir uns noch einig: Wir mussten einfach die ehemaligen Büros der Spielefirma Epyx finden, die unsere Brotkastenwelt seinerzeit mit Brettern wie Summer Games und Impossible Mission auf den Kopf gestellt hatte. Auch Ziel zwei ging von mir aus noch klar: die Klippe, von der aus Luke und Ben Kenobi auf den Raumhafen Mos Eisley runtergucken. Die Szene hatte Lucas irgendwo im Tal des Todes gedreht, meinte der Beifahrer. Und drittens, da wurde es mir schon etwas zu viel, musste der Militär-Nerd Nick natürlich noch an die Stelle in der kalifornischen Wüste, wo 1971 eine Lockheed Blackbird abgestürzt war, einer dieser schwarzen Hyperschallaufklärer, mit denen man beim Quartett auf dem Schulhof immer abräumen konnte. Alle drei Aktionen endeten mit gloriosen Reinfällen, und zwar
a) vor einem Zaun,
b) im absoluten Nirgendwo oder
c) an einem Ort, wo es im Schatten 40 Grad heiß gewesen wäre
- wenn es denn welchen gegeben hätte. Bei manchen Sehensunwürdigkeiten kamen sogar a), b) und c) zusammen, was den Beifahrer natürlich erst recht dazu anstachelte, die Aktion für »endgeil« zu erklären. Weil die »Forschungsreise« - so hatte Nick das Desaster verklausuliert - derart erfolgreich war, haben wir sie ab dann jedes Jahr wiederholt, natürlich immer mit anderen popkulturellen Perlen auf der Agenda. Waren nicht immer leicht zu finanzieren, diese Zaun-Abenteuer. Damit die Kohle für die nächste Forschungsreise zusammenkam, mussten wir manchmal monatelang nur Hansa-Pils trinken und Schnelle Teller von Jokisch runterwürgen. Aber für das große Ziel galt es, Opfer zu bringen. Irgendwann sind aus den Forschungsreisen dann Dienstreisen geworden, die waren nicht mehr so lustig. Ein langes »Ääääääh« kommt von links. Nick rutscht stöhnend noch ein Stückchen weiter die Sitzfläche runter, sodass der Sicherheitsgurt bald unter seinen Achseln sitzt. Dann dreht er seinen Kopf in Zeitlupe zu mir um und schaut aus seinen rot umränderten Sehschlitzen zum Fenster rüber, wo die Krissi sitzt - solche Namen muss man einfach mit Artikel davor aussprechen. Seine Gesichtshaut sieht so fahl aus, als müsste er gleich Bröckchen husten. Nachdem er die Krissi kurz gemustert hat, verzieht er den Mund abfällig und dreht sich mit einem weiteren »Äääääh« wieder zurück. Irgendwie beruhigend zu sehen, dass ihn der Abend doch gerockt hat. Wir starren wieder auf den orangefarbenen Bezug der Rücklehnen vor uns. Super-Arschkarte gezogen: Captain Kranich hat extra für uns mal wieder den ollsten Seelenverkäufer aus dem Museum geholt, um uns damit über den großen Teich zu gondeln. Und ausgerechnet auf unseren Plätzen sind die persönlichen Bildschirme kaputt. Damit sind wir zurückkatapultiert in eine Zeit, in der »Inflight Entertainment« bedeutete, auf einen Tomatensaft zu warten. Währenddessen wird mein Dienstrechner, auf dem alle Folgen von »The Prisoner« lagern, samt Dienstwagen wahrscheinlich gerade auf irgendeinen Abschlepphof verfrachtet. Ich sehe dich - nicht! Oh Gott, ein Transatlantik-Flug ohne persönliches Unterhaltungsprogramm - das ist pure Agonie, ein Verstoß gegen die Genfer Konvention. Selbst Nick, der sonst zu jeder Gelegenheit über die goldenen alten Zeiten des Reisens schwärmt, hält sich erstaunlich bedeckt. Oh, sieh an: Die Krissi schreibt schon die erste Karte an die Daheimgebliebenen. Das wird sie nächste Woche noch einmal machen und die Woche drauf vielleicht auch, doch dann wird sie ihre deutschen Blutsbrüder und -schwestern vergessen und die Freundschaftsbändchen in einen Rest-Mülleimer schmeißen. Wie immer lautet die grausame Strafe dafür, dass nicht ausreichend Technik am Start ist: Wir müssen reden. Okay, ich fange an.
»Was meintest du eigentlich gestern Abend mit den Millionen, die das Tape wert ist?«
»Ach, nix«, brabbelt Nick in sein Knie rein.
»Komm schon, Alter!«
Begleitet von einem »Ääääääh« in Überlänge schiebt er sich langsam hoch.
»Also«, er muss aufstoßen und klopft sich mit der Faust so Opa-mäßig gegen das Brustbein.
»Hier ist meine Theorie - aber nich lachen, okay?«
»Ehrenwort!«
Wow, wenn er schon so fragt, wird seine Theorie richtig weit draußen sein.
»Ich seh die Sache so: Irgendein, äh, Top-Kunde hat der Datacorp das Tape zum Auslesen gegeben.«
Top-Kunde? Also eine Regierung. Mann, wir sind doch unter Garantie raus aus der Firma, wozu noch das vertrauliche Getue? Nachdem er einen großen Schluck Magensäure runtergewürgt hat, fantasiert Nick los.
»Ein paar Ärsche in der Company haben spitzgekriegt, dass die Daten auf dem Tape 'ne Menge wert sind, und dachten: Warum sich mit dem normalen Honorar zufriedengeben, wenn man auch das Doppelte oder Dreifache kassieren kann? Und diese Typen wollen den Kunden jetzt erpressen, so nach dem Motto: Entweder ihr zahlt, oder ihr kriegt eure Daten niemals.«
Wieder ist einer der seltenen Momente da, in denen seine Paranoia fast plausibel klingt.
»... und die haben dann John aus dem Weg geräumt, weil er mit unserer Hilfe den Job sauber durchziehen wollte«, spinne ich weiter. Mit dem üblichen »könnte sein« duckt sich Nick weg, um mir nicht recht geben zu müssen. Jetzt ist es Zeit, mal die ganze Story aus ihm rauszuholen.
»Okay. Und wohin fahren wir jetzt? Wer ist der mysteriöse Mister X mit dem IBM einundfünfzig-zehn im Keller, der uns helfen wird, das Tape auszulesen?«
Nick lockert den Sicherheitsgurt, damit er sich wieder in den Sitz sinken lassen kann.
»Warts ab«, flüstert er.
»Komm schon: Spucks aus!«
Langsam geht mir sein Getue mächtig auf den Sack.
»Ich sage: Warts ab«, kläfft Nick zurück. Ach, na klar! Jetzt ist klar, warum er nicht mit den Details rausrückt. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass die Company als Nächstes mich entführt. Und je weniger ich weiß, desto weniger kann ich verraten und desto sicherer ist er. Schlau. Allerdings auch ziemlich abgebrüht. RemainingFlightTime: 8h flimmert über den Röhrenfernseher, den Captain Kranich ungefähr hundert Meter von uns weg im Gang aufgehängt hat. Aber das ist doch kein Grund, sich zu langweilen! Genau das würde Mutter jetzt sagen, genau so, wie sie es auf den zahllosen Urlaubsfahrten Richtung Süden gesagt hat, als Klimatisierung bedeutete, ein Handtuch oben ins - natürlich von Hand runtergekurbelte - Fenster reinzuklemmen. Als in den Kopfstützen von Mama und Papa noch kein Bildschirm eingebaut war und An-Bord-Unterhaltung darin bestand »Ich sehe was, was du nicht siehst« oder „Ich packe meinen Koffer« zu spielen. Was für absolut grauenhafte Zeiten. Wenn gar nichts mehr ging, konnte man sich noch die Anleitungen aus dem Erste-Hilfe-Kissen reinziehen, die hatten echte Splatterqualität, so von wegen: Wenn Hirnmasse austritt, sofort Dreieckstuch drunterlegen. Der Beifahrer ist immer noch voll und ganz mit Aufstoßen beschäftigt. Vielleicht möbelt ihn ja 'ne Runde Auto-Ausfüllen auf? Ich schubse ihn an.
»Bitte vervollständigen Sie diese Reihe: Willie Nelson, Al Jarreau, Bruce ...«
»... Springsteen, dann Kenny Loggins, dann der Dude, den wir nicht kannten, und so weiter, blabla ...«,leiert Nick runter, »schließlich Daryl Hall, Wacko Jacko, der ewig coole Huey Lewis, am Schluss die Feuersirene Cindy Lauper. Ich weiß, Alter, die Reihenfolge der Sänger bei 'We Are The World'. Hatten wir schon tausend Mal.«
Gelangweilt popelt er am Knebelverschluss des Klapptischs rum, bis er aufpoppt und der Tisch auf seine Knie donnert - was ihm allerdings nicht mehr als ein geflüstertes »D'oh« entlockt. Muss ich jetzt etwa über was Ernstes reden? Womöglich über sein Kind? Von selbst erzählt er ja nie was drüber, vielleicht weil er weiß, wie unglaublich brennend solche Babystorys einen kinderlosen Single interessieren. Was nicht heißt, dass ich von der ganzen Sache überhaupt nichts hören will, nein, nein, die Update-Frequenz darf halt nur nicht zu hoch sein. Optimal wären ungefähr sieben bis zehn Jahre - das sind die Abstände, in denen er mich gerne über seine Tochter informieren darf, so nach dem Muster »ist in die Schule gekommen«, »hat Abi gemacht«, »ist schwanger geworden von einem Kneipenbesitzer, der jetzt in Thailand wohnt«.
Der Abstand wäre okay. Sagen würde ich ihm das natürlich nie, denn insgeheim ist er monsterstolz auf den Nachwuchs. Ein paar Wochen nach der Geburt habe ich sogar brav meinen Antrittsbesuch absolviert, das Baby in Augenschein genommen und wohl dosierte »Ganz der Papa / die Mama«-Kommentare abgelassen. Ob Nick meine Show durchschaut hat? Vermutlich schon. Das Baby war ... ein Baby halt. Sabina glühte, als sie es mir rübergereicht hat, damit ich es auch mal halten kann. Ich habe mir natürlich sofort eingebildet, dass ein Hauch von »Es hätte deins sein können« in der Luft lag. Und ja: Es sah ganz niedlich aus, in diesem rosa Anzug mit den kleinen Händen und so. Aber als es anfing, rumzukrähen, war's dann von meiner Warte aus auch genug mit dem Babygucken. Immerhin hat es Nick geschafft, als dritten Namen Gianna durchzudrücken - weiß Gott, was er Sabina dafür im Gegenzug versprechen musste. Sehr cool jedenfalls und noch cooler, wenn sie ein zweites Mädchen bekämen, und er die auch so nennen würde. Dann wären sie die Gianna-Schwestern, hihi. Völlig klar jedenfalls, dass ich das Kind die nächsten achtzehn Jahre nur mit seinem dritten Namen ansprechen werde. Sabina runzelt jetzt schon genervt die Stirn, wenn ich das mache, doch so viel Auflehnung muss drin sein. Jungejunge, noch acht Stunden. Dann landen wir in Denver, auf diesem komischen Flughafen, der aus der Luft aussieht wie ein Haufen Indianerzelte.
»Airport zum schlechten Gewissen« hat Nick ihn mal getauft, weil in den Gängen überall alte Schwarz-Weiß-Fotos von Indianern hängen. Liegt mitten auf der grünen Wiese, oder besser gesagt, auf der braunen Wiese, denn wir haben Hochsommer, und das Weideland im Westen ist um die Jahreszeit völlig verdorrt. Es wird wie immer ein schöner Anflug: später Nachmittag, die Sonne ist schon hinter den Bergen im Westen abgetaucht, sodass die Innenstadt vor der dunklen Wand der Rockies aussieht wie Helms Klamm. Noch acht Stunden, dann wird's brenzlig. Ich mache die Augen zu und versuche zu schlafen.