LEVEL 21
Wie üblich sind wir im Sands Motor Motel nicht allein im Zimmer: Eine Kakerlake, so groß wie eine Untertasse, ist mir heute Morgen auf dem Weg zur Toilette direkt vor die Füße gelaufen. Sehr unappetitlich, vor allem vor dem Frühstück. Weil ich mich ausnahmsweise fit und ausgeschlafen fühle, beschließe ich, dem Motelmanager persönlich von unserem Fund zu berichten. Der freundliche Inder tut erst mal sehr verständig und legt den Kopf etwas schief.
»Oh, you have a mouse in your room?«
»No, we have a cockroach in our room ...«, erkläre ich.
»A what?«, fragt der Host scheinheilig, mit exakt dem gleichen Akzent wie Apu aus den Simpsons. Langsam werde ich ein wenig gereizt: »A cockroach! You know, a cockroach?«
»You have a mouse in your room?«, wiederholt Apu mechanisch. Bevor das surreale Theaterstück in den nächsten Akt gehen kann, kommen zwei amerikanische Studenten in die Lobby, und ich räume das Feld. Zurück im Zimmer schiebe ich unsere Betten zwei Zentimeter von der Wand ab, damit die Viecher nicht von der Wand auf die Laken springen können. Nick faselt davon, dass man die Beine des Bettes in mit Wasser gefüllte Gläser stellen müsse. Als ob das was hilft! Weiß doch jedes Kind, dass Kakerlaken sogar einen Atomkrieg überleben würden, da lassen die sich doch nicht von so einem Yps-Trick beeindrucken. Mit dem Sands und uns, das war Liebe auf den ersten Blick. Allein der Name - göttlich: Motor Motel, pures Dada.
»Motel« ist ja schon die Kombination aus Motor und Hotel, insofern heißt der Name, wenn man es genau nimmt, Sands Motor Motor Hotel. Wie sollte man das noch steigern - außer vielleicht durch Hinzufügen einer »6« am Schluss? Als wir vor Jahren das halbkaputte Neonschild zum ersten Mal sahen - von Motel funktionierte nur das »0« -, wussten wir sofort: Hier würde niemals ein Polizist oder Trucker absteigen. Das ist unser Platz. Dabei ist das Sands eigentlich kein schlechter Laden: Der zweistöckige orangefarbene Bau steht mitten in West Hollywood, hat einen Pool im Innenhof und einen Parkplatz hinterm Haus. Bis zum Strand braucht man eine Dreiviertelstunde, in die Innenstadt und zum Flughafen ungefähr genauso lange. Und es ist halbwegs sicher hier, denn der Host pflegt die übliche »No bad people«-Politik, was in West Hollywood bedeutet, dass man sein Crack kaufen kann, ohne den schützenden Innenhof des Sands verlassen zu müssen. Obendrein gibt es auf jedem Zimmer Telefon sowie einen Fernseher, der exakt fünf Programme empfangen kann: den Aso-Sender Fox und vier Kanäle aus dem Heimatland des jeweiligen Motelbesitzers. Der wechselt ungefähr einmal pro Jahr. Genauso oft wie das Wasser im Pool. Das jedenfalls hatte uns der Besitzer im letzten Jahr, ein Japaner, einmal verraten.
»We change watel once a yeal!«, das waren seine genauen Worte. Manchmal würde der Poolinhalt sogar noch häufiger ausgetauscht, meinte das 1,40-Männchen mit den grauen Haaren. In einem Jahr zum Beispiel, als jemand mit seinem Wagen zuerst den massiven Stahlzaun durchbrochen habe und dann ins Schwimmbad gefahren sei, da habe ihn das Gesundheitsamt gezwungen, das Wasser sofort zu wechseln - mit Betonung auf »gezwungen«, Während der ganzen Zeit guckte uns der freundliche Herr so an, als müssten wir uns jetzt ganz doll darüber freuen, in so einem ordentlichen Etablissement wohnen zu dürfen. Wahrscheinlich haben wir mal wieder keine Ahnung, und das ist wirklich ein gutes Wechselintervall. Seit dieser Geschichte jedenfalls hängen wir lieber am als im Pool ab, es sei denn, der Schwimmbadbereich wurde schon besetzt von a) einem angehenden Drehbuchschreiber um die 20, der sagt, er arbeite »in the industry«, oder b) einem ebenso knapp vor dem Durchbruch stehenden Musiker, der aussieht wie Slash von Guns'n'Roses. Um 8 Uhr 10, nachdem wir laut Nick beim Frühstück »getrödelt« haben, stellt sich dieses Problem natürlich noch nicht. Außer Konkurrenz können wir unsere Handtücher auf den Monobloc-Liegen verteilen und die aufgehende Sonne genießen. Mit Nick an den Pool zu gehen macht allerdings nicht viel Spaß, da mein Kumpel kein ausgesprochener Beachboy ist. Er hat ziemlich helle Haut und zieht sich obendrein nicht gerne aus, obwohl er sich das vom Körperbau her theoretisch leisten könnte. Ich glaube, das ist Teil seiner wohl kultivierten Nerd-Aura. Immer nach dem Aufstehen jedenfalls schmiert er sich mit 35er Sonnenöl ein, und selbst jetzt, um halb neun morgens, hat er seine Liege schon in den langen Schatten der großen Palme im Innenhof gerückt. Wir beschließen, heute nur noch rumzuhängen, was in einer Metropole mit zig Millionen Optionen pro Sekunde besonders viel Spaß macht. Als Menschen, die ja auch in einer Art von »industry« arbeiten, kommt es natürlich nicht infrage, währenddessen irgendetwas Gedrucktes zu konsumieren. Die einzige Ausnahme machen wir nur für den L.A. Weekly, ein Blättchen mit Veranstaltungstipps, das nichts kostet, weil es sich komplett über Anzeigen der örtlichen Schönheitschirurgen und Nutten finanziert. Die Damen dürfen hier übrigens nicht explizit ihre Dienste anbieten, sondern müssen alles poetisch umschreiben; da kommen dann Sachen raus wie »Nehme das sahnegefüllte Eclaire auch durch die Hintertür entgegen«.