LEVEL 26
Es ist nicht so, dass Nick mir nicht glaubt. Das ginge ja noch. Nein, er tut so, als ob er mir glaubt, was noch viel schlimmer ist, denn das bedeutet, wir können über die Sache nicht einmal ernsthaft diskutieren. Mit einem väterlichen Unterton in der Stimme verkündet er »Na, dann gucken wir mal« und fährt seinen Rechner hoch. Es hat verdammt lange gedauert, bis ich ihn vom Nutten-Watching loseisen konnte, schließlich war gerade eine l,90-Blondine in die Lobby stolziert. Immerhin kann man sich bei Nick auf eine Sache verlassen: dass er knallwach ist, sobald seine Augen einen Bildschirm sehen; das schlägt bei ihm sogar Fick-mich-Pumps mit Plateausohle. Und so dauert es auch nur wenige Augenblicke, bis er wieder hochkonzentriert auf die Tastatur einhackt, trotz der ganzen Mit-Fahrbiere, die er intus hat. Als Supernerd lebt Nick mit seinem Computer in einer Art Symbiose; wäre etwas mit dem System nicht in Ordnung, würde er es sofort spüren, da braucht er kein Diagnoseprogramm für. Routiniert checkt er sein Baby durch, scannt mit ein paar schnellen Griffen Systemdateien, Logfiles und Registry auf Auffälligkeiten - ohne Ergebnis. Nichts deutet darauf hin, dass E.T. heimlich nach Hause telefoniert hat.
»Um sicherzugehen, müsste ich natürlich alle Dateien genau scannen«, murmelt er, den Blick immer noch auf den Monitor gerichtet. Aber das Faltengebirge zwischen seinen Augenbrauen verrät schon, was er eigentlich sagen will: Vergiss es, da kommt eh nichts bei raus. Und irgendwie spüre ich, dass er damit richtig liegt. Denn wenn es den Datacorp-Leuten gelingt, mithilfe eines dreißig Jahre alten Spiels die Kontrolle über einen modernen Rechner zu übernehmen, werden sie auch in der Lage sein, ihre Spuren perfekt zu verwischen. Was bleibt, ist, den großen Trick noch einmal zu wiederholen.
»Versuch doch mal, auf dem Gipfel rechts außen zu landen«, schlage ich vor.
»Okay«, sagt Nick und kramt nach dem Emulator. Fast wie in Zeitlupe wandern seine Hände über die Tastatur. Mann, Alter, geht es noch langsamer? Ich ziehe kurzerhand den Rechner rüber. Klick, Emu starten, alles wieder auf Anfang. Dann abwarten, abwarten, Fähre nach rechts drehen, Vollgas. Im genau gleichen Sturzflug wie vorhin lasse ich die Mondfähre auf den Berggipfel zurasen. Bumm. Wie bei den zig erfolglosen Versuchen zuvor zischen die Trümmer in alle Himmelsrichtungen ab, und das Programm quittiert den besonders harten Touchdown mit dem Satz YOU CREATED A TWO MILE CRATER. Nick starrt mich leer an.
»Und? «
Irgendwo in den Weiten des Rechners muss das Datacorp-Programm eine Fahne gehisst haben, die Moonlander verrät, dass die geheime Botschaft schon einmal abgespielt wurde - oder mit dem Emu selbst stimmt irgendwas nicht; wer weiß, von welchem russischen Dreckshost Nick das Ding gezogen hat. Es gibt jedenfalls nur einen Weg, die mysteriösen Koordinaten noch einmal zu sehen: Alle Daten auf dem Rechner löschen, Betriebssystem neu aufsetzen und mit einer frischen Version von Moonlander von vorne beginnen. Als ob er meinen Vorschlag ahnt, wimmelt Nick ab: »Das können wir uns doch morgen genauer anschauen, oder?«
Obwohl mir das Adrenalin immer noch von der Stirn tropft, nerve ich ihn nicht weiter, schließlich war es nicht nur ein guter, sondern auch ein verdammt langer Tag. Und wir haben schon nach elf.
»okay - aber gib wenigstens mal die Koordinaten ein«, schlage ich vor. Wortlos loggt sich Nick in das Netz des Sands ein - hier lautet das Passwort Default - und liest die eingeritzten Zahlen von der Sixpack-Pappe ab. 67 Grad 5,48 Minuten Nord, 50 Grad 14,45 Minuten West. Enter. Der Geoserver antwortet, eine Weltkarte baut sich auf. Ein paar Datenpakete fliegen durch den Innenhof, dann blinkt ziemlich in der Mitte zwischen Europa und Amerika ein roter Punkt auf. Grönland! Wir schauen uns an und brechen in Gelächter aus.
»Godthâb«, fragt Nick.
»Könnte sein.«
Ich glaube, an diesem Punkt ist mein Beifahrer endgültig ausgestiegen. Die Sache mit Godthâb ist so eine Art Dauerwitz auf unseren Touren. Irgendwann vor Jahren hat Nick mal bemerkt, dass genau in der Mitte zwischen Deutschland und den USA ein Ort namens Godthâb liegt. Zumindest erscheint dieser Name immer auf der elektronischen Landkarte im Flugzeug, wenn die Hälfte der Strecke geschafft ist. Es ist nur ein kleiner weißer Punkt mitten im Atlantik, irgendwo zwischen der irischen Küste und Neufundland. Und eigentlich bemerkt man Godthâb auch nur deshalb, weil zu diesem Zeitpunkt meistens der erste Film vorbei ist und das Kabinenpersonal die nächste VHS-C-Kassette einlegt, mit »Beethoven Teil IX - jetzt wird gekuschelt« oder so was. Das ist ganz nebenbei auch der Moment, in dem dieser hartnäckige Klimaanlagen-Schnupfen losgeht, den man drei Tage nicht mehr loswird. Für ein paar Minuten gibt es jedenfalls nichts zu sehen außer diesem Punkt namens Godthâb. Und jedes Mal fragen wir uns, wie es da wohl aussieht, mitten in Grönland. Nick meint, der Name klinge irgendwie nach Walhalla, und er stelle sich dabei eine Art verschneite »Herr der Ringe«-Landschaft vor, mit steilen Felsnadeln unter schwarzen Wolken. Ich denke bei Godthâb eher an eine Betonpiste mitten in der Eiswüste, über der amerikanische B-52-Atombomber kreisen, um im Fall eines russischen Angriffs sofort zurückschlagen zu können. Auf jeden Fall müsse dieses Kaff im Nirgendwo ein mythischer Ort sein, da sind wir uns einig, und irgendwann sollten wir da mal hinfahren. Ernst gemeint war dieser Plan natürlich nie, schließlich gehört es zu unseren erklärten Grundregeln, Natur nur in homöopathischen Dosen zu genießen. Und nach einer Convenience-Wildnis, mit trockenem Bett und Steak in maximal zwei Autostunden Entfernung, sieht es inGodthâb echt nicht aus. Aus dem Flugzeugfenster konnte man immer nur endlose Gletscher erkennen. Nick kneift die Augen zusammen, um den Ortsnamen zu lesen, der sich hinter den geheimnisvollen Koordinaten verbirgt.
»Kan-ger-l-u-s-s-a-q, nein: Kangerlussuaq. Was auch immer.«
Jedenfalls nicht Godthâb, schade, aber gar nicht so weit weg. Auf der Karte sieht Grönland aus, als habe es Thor persönlich als gigantischen Keil zwischen Europa und Amerika geschoben. Um den einsamen Eisberg mitten im Atlantik zu erreichen, war Charles Lindbergh noch einen halben Tag unterwegs, mit der Concorde hätte er nur anderthalb Stunden gebraucht. Mit ein paar Handverrenkungen, die wie Gang-Erkennungszeichen aus einem 2Pac - Video aussehen, geht Nick auf Vergrößerungsmodus. Das weiße Dreieck namens Grönland bekommt Konturen, nach und nach funkt der Geoserver die Details hinterher - Inseln, Buchten, Flusstäler. Als ob man von oben auf einen Zimtstern zufliegt, taucht am Rand des riesigen weißen Landes plötzlich eine feine braune Linie auf: die eisfreie Küste. Klick, wir zoomen noch mal tausend Meilen näher ran. Auf dem Bildschirm baut sich eine Landschaft auf, die aus der Urzeit der Erde übrig geblieben zu sein scheint: Riesige türkis blaue Linien, wohl Fjorde, schneiden sich tief in die braune Kruste ein und verschwinden am Fuß von gigantischen Gletschern. Kleine und große Inseln unterbrechen die Küstenlinie und lassen sie wie die scharfen Kanten einer abgeschlagenen Glasscheibe aussehen. Es muss ein raues Land sein da oben, denn außer den Schneefeldern, die aus dem Orbit wie verstreuter Puderzucker aussehen, zeigt der Monitor an der Küste nichts an - nur ein paar braune und grüne Pixel. Vom Grau, normalerweise Anzeichen für Städte, keine Spur. Erst auf der höchsten Vergrößerungsstufe zeichnet sich ein fahler Streifen am Ufer eines Fjordes ab. Ein Flughafen, mitten am Punkt X! Die IATA-Datenbank listet den Airport unter dem Kürzel SFJ. Kangerlussuaq Airport. Eine Runway mit Ausrichtung 10/28, Länge: 2815 Meter, Material: Asphalt. Drei Kilometer, genug für eine Concorde oder jedes andere Verkehrsflugzeug. Das Blut in den Adern, die sich seit ein paar Jahren ziemlich unattraktiv an meiner Schläfe abzeichnen, beginnt zu pochen. Unsere Reise in das Herz von Transatlantika kann beginnen, in die Mitte von Alter und Neuer Welt. Der letzte Level beginnt, der Endgegner wartet. Jetzt, wo die Zielzone auf dem Satellitenbild zu sehen ist, bin ich mir fast sicher, dass die Sterne mit der codierten Nachricht in Raid over Moscow ziemlich genau über diesem Airport am Ende der Welt standen. Au Baut du Monde, at the End of the World as we knowit. Keine Frage, der Trip ist ein Muss und Nicks Zustimmung reine Formsache: »Ist doch ein klares Ziel, oder?«, frage ich. Aber anstatt zu antworten, dreht Nick genüsslich einen Dorito-Kartoffelchip zwischen seinen Fingern hin und her, inspiziert das Loch in der Mitte und schnippt ihn dann in hohem Bogen in den Mund. Vor unseren Füßen gurgelt der Wasserablauf des Pools vor sich hin. Eine Grille zirpt in den Blättern der einsamen Palme auf dem Innenhof. Das obligatorische »Klar, Alter« lässt ziemlich lange auf sich warten. Ungeduldig drehe ich mich zu Nick um. Der stiert völlig unberührt von meiner Frage auf die Motellobby und den schmalen Streifen Boulevard, der durch die Einfahrt zu sehen ist. Von links nach rechts folgen seine Augen den Passanten und wieder zurück. Dann, als wolle er es besonders spannend machen, legt Nick die Chipstüte weg, nippt noch mal an seinem Bier und sagt ganz ruhig: »Äh, nein.«
Das kann er nicht ernst meinen.
»Wie nein?«
Als ob er einen Penner abwimmelt, der ihn nach Geld fragt, dreht sich Nick halb zur Seite. Er versucht, lässig zu bleiben, aber dar an, wie er seine Lippen zusammenpresst, lässt sich ablesen, wie schwer ihm diese Entscheidung fällt - wie so ziemlich jede Entscheidung halt. Dann schmeißt er die Bombe: »Alter, ich gondele doch nicht um die halbe Welt, um mir irgendeinen Schneemann anzugucken. Von der Kohle für den Flug mal ganz abgesehen.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Nick tatsächlich gegen die heiligste aller Kumpelregeln verstoßen: Er hat über Geld geredet. Schon auf unserem ersten Trip seinerzeit nach Berlin hatten wir beschlossen, das Thema komplett auszublenden, allein um uns von unseren Stufenkameraden abzugrenzen, die in diesem Alter kein anderes Thema zu kennen scheinen. Irgendwoher würde die Kohle für unseren Kreuzzug schon kommen, das war Konsens. Ob man danach monatelang nur Mirâcoli essen konnte, stand auf einem anderen Blatt, sollte aber unterwegs keine Rolle spielen. Ich starte einen neuen Anlauf: »Du willst also nicht wissen, wie die Herren von der Datacorp da oben am Pol residieren?«
Vielleicht bringt ihn die Erwähnung unseres ursprünglichen Reiseziels ja wieder in die Spur.
»Nein«, sagt Nick unbeirrt. Er hat angefangen, sein restliches Bier hinunterzustürzen; scheinbar will er sich so schnell wie möglich aus der unangenehmen Lage befreien. Kaum dass er den letzten Schluck getrunken hat, springt er auf und rennt Richtung Zimmertür. Im Weggehen ruft er zurück: »Ich geh mal packen.. Dabei steht sein Koffer schon lange fix und fertig im Zimmer.