LEVEL 07
Fairfield fällt nicht weiter auf. Obwohl es schon elf ist, sind die meisten Parkbuchten auf der breiten Hauptstraße noch leer. Alles sieht nach einem heiteren Sommertag aus: Kein Wölkchen stört das dunkle Blau des Himmels, das Thermometer der Bank of America zeigt schon 91 Grad Fahrenheit, und den letzten Schatten spenden ein paar Platanen vor der öffentlichen Bibliothek. Wie in vielen Städtchen im Mittelwesten ist auch hier an jeder Ecke das Sterben spürbar. In den halbblinden Schaufenstern des Elks -Kaufhauses, früher sicher einmal das Herz der Innenstadt, hat ein örtlicher Antiquitätenhändler verstaubte Nähmaschinen untergestellt. Der Eingang zu den Kurka Jewelers ist mit Eisengittern verrammelt, und auch das Torino Steak Hause scheint schon vor langer Zeit geschlossen zu haben. Und so geht es in den Ladenzeilen weiter: Schilder mit »out of business« oder »to let« wechseln sich ab mit verfallenen Häusern. Die alte Hauptstraße ist so leer gefegt, als würden sich hier gleich zwei Cowboys duellieren. Doch der Showdown, wenn es den überhaupt einmal gab, hat in Fairfield vor langer Zeit stattgefunden. Als hier nämlich für ein paar kurze Momente das Gravitationszentrum des Videospiele-Universums lag. Das Datum: Dezember 1982. E.T. der Außerirdische telefoniert nach Hause, Polizisten schießen auf Solidarnosz-Demonstranten in Danzig, Helmut Schmidt schenkt Ronald Reagan beim Staatsbesuch ein paar deutsche Steinadler - das waren die Fotos, mit denen das »Life«-Magazin das vergangene Jahr Revue passieren ließ. Ein wenig große Politik, viele kleine Gesten und noch mehr Herz-Schmerz. Für die Einwohner von Fairfield und Umgebung allerdings war dieser Jahresrückblick etwas ganz Besonderes: Es war ihr großer Auftritt. Denn ihre Hauptstraße bildete den Hintergrund für ein auffälliges, doppelseitiges Foto, das »Life« in großen Buchstaben mit »Videogame V.I.P.s« betitelt hatte. Zu sehen waren darauf die Highscore-Helden eines neuen Zeitalters: sechzehn Nerds wie aus dem Bilderbuch, die sich in der Mitte der Dorfstraße zusammen mit ihren Maschinen aufgestellt hatten - Arcade-Automaten mit klingenden Namen: Defender, Ms. Pac-Man, Donkey Kong. Die meisten von ihnen lächelten etwas schüchtern, wahrscheinlich wegen der lokalen Highschool-Cheerleader, die der Fotograf als Eye Candy um sie herum postiert hatte. Apropos: Als wir das Foto im Netz studierten, fiel uns mal wieder auf, wie niedrig die Grenze für Schönheit damals lag; solche grauen Mäuse würde heute kein Winzerverein mehr nach vorne stellen. Egal. Die abgelichteten Jungs jedenfalls waren damals die amtierenden Weltmeister in ihrer jeweiligen Disziplin, angeführt von einem dicken Kind namens Ned Troide aus Palm Harbour/Florida. Er hatte mit nur einer Münze 62,5 Stunden am Stück Defender gezockt und 73 Millionen Punkte gesammelt. Unfassbar. Wir konnten damals nicht mal die fünf Tasten richtig bedienen. Hinter diesem Foto steckte kein Geringerer als Walter Day. Der 33-Jährige betrieb damals, wie gesagt, in der Gegend eine Spielhalle. Als eines Tages ein Teenager zu ihm kam, um aufgeregt von seinem neuesten Highscore zu erzählen, fiel dem Geschäftsmann auf, dass es keine Tabelle der besten Videospieler gab. In dieser Ära vor der Vernetzung existierte nur die Highscore-Liste im Automaten selbst, und wer die anführte, war allenfalls ein Local Hero; ein Kaff weiter konnte die Latte schon wesentlich höher liegen. Deshalb gründete Day kurzerhand Twin Galaxies, eine Art Guinness-Buch für die jungen Gamer. Nachdem alle großen Fernsehsender davon berichtet hatten, wurde sein Scoreboard, anfangs tatsächlich eine sechs Meter breite Kreidetafel, zu einem Riesenerfolg: Zu jeder Tages-und Nachtzeit riefen Spieler bei Day an, um sich zu erkundigen, wo sie mit ihrem Highscore stünden. Das Verzeichnis liest sich noch heute wie ein Testament des Wahnsinns: »Galaxian, perfektes Spiel, 1114550 Punkte, Gary Whelan, verifiziert per Schiedsrichter. «
Bis weit in die Neunziger reichte übrigens ein Foto vom Bildschirm, um seinen Rekord zu beweisen; heute müssen professionelle Zocker Videobänder zu Twin Galaxies einschicken und bei Turnieren sogar Bluttests ablegen, um zu beweisen, dass sie nicht den Wachmacher Modafinil eingeworfen haben, um die langen Stunden am Joystick durchzuhalten. Rekordwart Day zog die Sache auf die typisch amerikanische Profi-Art auf: Er veranstaltete die erste Weltmeisterschaft im Videospielen, lud die Bosse der Spieleindustrie ins verschlafene Iowa ein und brachte den Gouverneur des Staates sogar dazu, den Landkreis zur »Videospiel-Hauptstadt der Welt« zu ernennen - nicht schlecht für eine Gemeinde, die ansonsten nur damit wuchern kann, Geburtsort von Roseanne Barr zu sein. Es folgte die erste Parade von Videospielhelden durch die Innenstadt, samt einem als Pac-Man verkleideten Kind, und der erste Gedenktag zu Ehren eines Joystickhelden namens Tim McVey, der bei Nibbler als erster Mensch auf diesem Planeten die Milliarden-Punkte-Marke geknackt hatte. Mitte der Achtziger flaute zusammen mit dem Videospielhype auch das Interesse am neuen Menschen von Iowa ab. Es gab keine Weltmeisterschaften mehr, keine Paraden, und irgendwann musste Walter Day auch seine Spielhalle schließen. Seitdem protokolliert Twin Galaxies im stillen Kämmerlein weiter Rekorde, obwohl es für Videospiel-Hauptstädte im Netz-Zeitalter eigentlich keinen Platz mehr gibt. Dazu passt Days aktuelles Domizil. Die Hausnummer 2000 auf der 155.Straße liegt weit außerhalb der Stadt, mitten zwischen Kornfeldern, sogar noch hinter dem Regionalflughafen. Der Weg zu seinem Haus ist nicht einmal geteert. Vorsichtig steuert Nick unsere Limousine auf den Feldweg, der vom Highway abbiegt. Er ist heute mit Fahren dran, und das bedeutet für alle Autos hinter uns: Obacht, Oma am Steuer. Trotz seiner jungen Jahre fährt Nick nämlich so langsam, dass es schon fast peinlich ist. Wenn man ihn darauf anspricht, bringt er immer einen altklugen Text wie „Wir haben es doch nicht eilig«, was den Eindruck natürlich noch verstärkt, mit der eigenen Großmutter unterwegs zu sein. Wie eine Spieluhr klimpern kleine Steinchen in den Radkästen. Nach einigen hundert Metern stehen wir vor dem Briefkasten mit der Nummer 2000. Nick bremst den Wagen ganz sachte ab und setzt zurück. Für einige Sekunden hüllt uns unsere eigene Staubwolke ein, dann weht der Wind die Sicht wieder frei. Wir stehen an einer Kreuzung im Nirgendwo. Von der Hauptstraße biegt ein langer Feldweg auf Days Grundstück ab; es besteht aus einer riesigen Rasenfläche. die, so braun, wie die Halme aussehen, mal wieder bewässert werden könnte. Auf einer Anhöhe in der Ferne ist ein zweistöckiges Haus zu erkennen. Es wirkt überraschend neu, genau wie der Briefkasten, vor dem wir angehalten haben: keine dieser verbeulten Blechdosen. auf die etliche Generation von Teenagern schon mit ihren Baseballschlägern eingedroschen haben, sondern eine saubere Box aus dunkelgrünem Plastik. Wir hatten die verfallene Hütte eines Videospiel-Eremiten erwartet, doch das hier sieht eher nach Golfklub-Wohlstand aus. Nick schaltet den Motor ab und innerhalb von Sekunden erobert sich die Hitze das Cockpit zurück. Bis auf das leise Brummen des Highways in der Ferne ist es totenstill.
»Aussteigen?«, schlage ich vor.
»Weiß nicht«, murmelt Nick. Unser Problem ist, dass wir beide totale Angsthasen sind. In uns beiden steckt tief die deutsche Furcht vor Hausfriedensbruch, Strafmandaten oder - nicht auszudenken - Schusswaffen. Aber natürlich will das keiner zugeben. Also ziehen wir uns vorsichtig gegenseitig hoch.
»Ist doch kein Tor da«, meint Nick »Stimmt. Also warum nicht?«, sekundiere ich. Wir rutschen weiter auf unseren Autositzen herum, werfen noch einen Zimtkaugummi ein. Irgendwann wird es Nick zu heiß, und er steigt wirklich aus. Dann muss ich wohl auch. Auf den Satellitenbildern des Grundstücks, die wir vorhin noch mal gecheckt haben, war absolut nichts zu erkennen. Die Parzelle erschien auf dem Bildschirm nur als graues Quadrat, wie eine Militärbasis, die aus der Datei gelöscht wurde. Jetzt wird langsam klar, warum: Hier ist wirklich nichts außer Staub und Mittagsglut. Hinter dem Briefkasten biegt ein kleiner Feldweg ein, der sich schnurgerade durch die vertrocknete Wiese zieht. Halbherzig marschieren wir los, die Baseballkappen als Schutz gegen die brennende Sonne tief ins Gesicht gezogen.
»Ich hab ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, witzelt Nick. Natürlich ein Zitat aus Star Wars - der einzige Satz, der in allen sechs Teilen vorkommt. Wir treten vorsichtig auf, bloß nicht auffallen, bloß keine Steine wegkicken, bloß keine lauten Geräusche machen. Als wir den Briefkasten etwa zwanzig Meter hinter uns gelassen haben, erstarrt Nick plötzlich. Wortlos zeigt er mit dem Finger auf den Rand des Weges. Tatsächlich, da ist etwas! Zwischen den Grashalmen schaut die Ecke eines grauen Kästchens hervor. Es ist zur Hälfte mit trockenem Lehm bedeckt, so, als ob es jemand verstecken wollte, aber beim Verscharren gestört wurde. Drähte oder Antennen sind nicht zu erkennen, trotzdem sieht der kleine Schuhkarton irgendwie nach Hightech aus. Bestimmt Militärzeug. Was die Kiste so richtig unheimlich macht, ist dieses Geräusch: ein leises Summen, wie vom Trafo einer gedimmten Halogenlampe. Dann - ohne Vorwarnung - gibt der Kasten ein lautes Klicken von sich. Genug. Das ist genau der Vorwand, den wir zum Umkehren gebraucht haben.
»Ich denke, das reicht«, meine ich, und Nick kneift die Augen kurz zustimmend zu. Wir kehren um und laufen zügig zurück zum Wagen. Jetzt spüre ich es auch: ein verdammt mieses Gefühl. Während wir schon fast joggend die letzten Meter bis zum Auto zurücklegen, bilde ich mir ein, dass sich in diesem Moment fremde Blicke wie Laserstrahlen in meinen Rücken bohren, als ob hinter den verdunkelten Fenstern oben im Haus tausend Augen lauern.
»Mann, wir sind echt Schisser!«
Nick lacht erleichtert auf, nachdem wir uns in den vermeintlich sicheren Wagen gerettet haben. Mit der aufgesetzten Ausgelassenheit überspielen wir natürlich nur, dass uns der Schrecken ziemlich tief in die Knochen gefahren ist. Ich versuche es mit einer kleinen Verschwörungstheorie: »Das war bestimmt einer dieser Ammonium-Detektoren, die die Army rund um den Area 51 installiert hat; angeblich können die Dinger den Schweiß eines Menschen von dem eines Tieres unterscheiden und schon auf eine Meile riechen. «
Nick startet den Motor und setzt noch einen drauf: »Ich glaube, in dem Kasten steckte eines dieser neuen Active-Denial- Systeme. Angeblich hat die Air Force die Technik schon im zweiten Golfkrieg getestet: eine 94-Gigahertz-Mikrowellen-Kanone, die das Gesicht des Angreifers in Sekunden so stark erhitzt, dass der sich umdrehen muss . Wissenschaftler, die das ADS getestet haben, nannten das den Goodbye-Effekt, weil kein Proband die Bestrahlung länger als fünf Sekunden ausgehalten hat. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, fällt mir auf, dass es neben dem Kasten da draußen irgendwie heiß war ...«
»Ja klar, aber nur, weil die Kellnerin heute Morgen aussah wie Jewel!«
Nick steht verschärft auf den blonden Typ.
»Kann sein.«
Er grinst und lässt den Motor an. Alte Herren unter sich. In diesem Moment wünsche ich mir nichts mehr, als heute mit Fahren dran zu sein. Denn Mister Speedracer steuert unseren Wagen mit dem atemberaubenden Fluchttempo von zehn Meilen pro Stunde über die Schotterstraße zurück zum Highway. Auf einmal stockt der Motor - krack! Unser Boot geht vorne in die Knie, als ob es gegen eine unsichtbare Barriere gefahren wäre. Nick steigt voll in die Eisen, aber da der Motor abgesoffen ist, stirbt auch der Bremskraftverstärker langsam ab, und das Auto kommt erst nach endlosen Metern zum Stehen, schon halb in der Böschung. Nichts passiert, wahrscheinlich ist ein Vorderreifen geplatzt, kein Wunder bei der Straße. Ich will gerade aussteigen, um den Schaden zu begutachten, da greift Nick nach meinem Unterarm und hält mich zurück.
»Oh Shit!«, zischt er leise, während er wie hypnotisiert in den Seitenspiegel starrt. Ich drehe mich um, und dann sehe ich sie auch: Zwei Typen in einem weißen Pick-up haben direkt hinter uns angehalten, nur eine halbe Wagenlänge entfernt. Das sieht verdammt nach Ärger aus.
»Cops?«, flüstere ich.
»Nee, sieht eher nach Wachdienst aus«, raunt Nick zurück. Ich schaue in meinen Seitenspiegel. Langsam steigt ein Mann auf der Fahrerseite aus. Der Figur nach zu urteilen war er mal in der Armee, wahrscheinlich bei den Marines oder der Delta Force. Wie Wurst aus der Pelle quillt der Bizeps aus den kurzen Ärmeln seines hellgrauen Hemdes. Er trägt so eine in Regenbogenfarben verspiegelte Sonnenbrille. Typ Vanilla-lce-Video von 1990, und eine zu seinem hellgrauen Overall passende Baseballkappe. Vom Copiloten kann man nur die unbewegliche Silhouette erkennen. Am Rückfenster zwischen Fahrer und Beifahrer hängt einer dieser Gewehrhalter, den viele Leute in dieser Gegend haben. Ich bilde mir ein, dass mindestens ein Steckplatz besetzt ist.
»Jetzt sind wir echt gefickt«, flüstert Nick in seinen T-Shirt Kragen. Er hat recht. Normale Passanten sind das nicht. Durch das halboffene Wagenfenster hört man, wie der Schotter unter den Sohlen der Kampfstiefel knirscht. Wir versuchen, beschäftigt auszusehen, und starren krampfhaft auf das Armaturenbrett, als ob man hier den magischen Rettungsplan ablesen könnte. Unterdessen dreht Nick mit zitternden Händen weiter wild am Zündschlüssel herum. Nichts. Nicht mal ein Klicken aus dem Motorraum, als ob die Batterie komplett ausgestöpselt ist. Leider tut auch die Zentralverriegelung nur das, was sie in solchen Momenten tun soll: Sie denkt, es hat einen Unfall gegeben, und entriegelt sich. Wir sitzen fest in einem offenen Käfig. Dann taucht der dunkle Umriss des Zweimetermanns vor Nicks Seitenscheibe auf. Wir tun weiter so, als hätten wir nichts bemerkt.
»Hey guys, got problems?«
Ein heiserer Bariton, abgeschmirgelt von jahrelangem Brüllen auf dem Kasernenhof, dröhnt durch die geschlossene Scheibe rein.
»Yeah«, stammelt Nick, nachdem er die Tür einen Spalt weit geöffnet hat, »the engine just stopped, and ...«
Ruppig fällt ihn der Typ ins Wort.
»Should I have a look at it? I'm a trained mechanic.«
Kann das wirklich wahr sein? Knallen die uns wirklich nicht ab, müssen wir wirklich nicht bei denen in der Dusche die Seife aufheben?
»Mensch, mach auf!«, zische ich zu Nick rüber. Wie in Trance langt er zur Haubenentriegelung. Klack, der Grill quietscht ein paar Zentimeter hoch. Routiniert löst unser Helfer den zweiten Riegel am Kühler und verschwindet hinter der weißen Blechwand der Haube. Aus dem Motorraum kommen ein paar schlagende Geräusche, wie ein Hammer auf Metall. Ich schaue in den Rückspiegel. Da, der zweite Mann bewegt sich! Er scheint sich nach vorne zu bücken, kramt wohl im Handschuhfach rum. Jetzt holt der die Magnum raus und wir sind dran! Bange Sekunden vergehen. Rumms. Hinter der zufallenden Haube taucht das erstarrte Gesicht des Marine auf.
»Try again«, brüllt er rüber. Nick dreht den Schlüssel und - der Wagen springt sofort an, als ob nichts gewesen wäre.
»Äh, äh, great«, haspeln wir simultan. Völlig ungerührt stapft unser Retter zurück zu seinem Pick-up. Im Vorbeigehen redet er noch irgendwas von »radio antennas« und zeigt auf den Horizont. Noch ehe wir die Sendemasten in der Ferne ausmachen können, ist er schon wieder im Führerhaus verschwunden. Der V8-Bigblock heult kurz auf, und der Monstertruck rauscht an uns vorbei: Für einen Sekundenbruchteil blitzt das Gesicht des anderen Mannes auf, der die ganze Zeit auf dem Beifahrerplatz sitzen geblieben war; er scheint kleiner zu sein, trägt aber genau dieselbe Uniform und Sonnenbrille. Er starrt unbeweglich nach vorne. Erst, nachdem der Truck hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden ist, trauen wir uns wieder, durchzuatmen.
»Alter, hast du die Kennzeichen gesehen«, platzt Nick heraus. Hab ich.
»Jap, Nur eine Nummer, kein Bundesstaat.«
Nick streckt den Zeigefinger wie eine Pistole aus und sticht damit in die Luft.
»Und kein Regierungsfahrzeug, da steht nämlich immer For official use only , wo sonst der Staat eingeprägt ist.«
Auch der Rest des Wagens machte einen auffällig unauffälligen Eindruck. Weiße, makellose Lackierung, abgedeckte Ladefläche, keine Extras, keine Suchscheinwerfer neben dem Fahrerfenster wie bei den Cops, nicht einmal eine mit Sprühschablone angebrachte Fahrzeugnummer. Alles ganz anders als bei den Kisten, die das Militär fährt oder die so genannte Privatwirtschaft im Area 51. Das Wachpersonal der berühmten, überhaupt nicht existierenden Testbasis in Nevada konnten wir vor ein paar Jahren mal in Augenschein nehmen: Wir hatten damals einen kleinen Abstecher an den Rand des Sperrgebiets gemacht. Beim Kaffeeholen an der Tanke liefen uns die Wachmänner dann quasi in die Arme. Sie tankten gerade ihren ordentlich markierten Jeep Cherokee auf, trugen Namen an der Uniform und kamen relativ umgänglich rüber. Dagegen wirkten die Typen von eben wie Kampfroboter von einem anderen Stern. Modell T-1000, flüssiges Metall. Nick setzt seinen Illuminatenblick auf.
»Lass uns mal folgende Theorie aufstellen ...«
Ich muss schon an dieser Stelle innerlich lachen, denn was jetzt kommt, wird sicher wieder gleichermaßen fundiert wie haarsträubend sein. Trotzdem reiße ich mich zusammen und setzte einen gespielt-interessierten Blick auf, den Nick geflissentlich ignoriert.
»Also, wir schreiben das Jahr 1982.«
Gute Exposition.
»Datacorp Inc. sucht Computerspezialisten. Doch die erwachenden Giganten wie Apple und Micro-Soft - damals übrigens noch mit Bindestrich geschrieben - saugen alle Absolventen von den Unis ab. Gleichzeitig kommt es nicht infrage, irgendwelche alten Hasen aus der Mainframe-Ära zu rekrutieren, weil die einfach zu festgefahren sind, um noch was Neues aufzubauen. Was tut die Datacorp? Ganz einfach: Sie schleust in bestimmte Kopien von Computerspielen kleine Hinweise auf sich selbst ein. Diese Schnitzeljagd lockt Hacker an, die prompt nach Fairfield fahren - und hier eingestellt werden ...«, extra dunkler Blick, »... oder für immer verschwinden.«
Ich gehe über den dramatischen Nachsatz einfach hinweg.
»Also das Garne als Stellenanzeige und Einstellungstest in einem, wie bei The Last Starfighter «
»Genau!«, freut sich Nick, sichtlich begeistert darüber, dass ich a) seine Theorie verstanden habe und ihr b) mit einem Retroverweis quasi den Gültigkeitsstempel aufdrücke. Früher oder später hätte er die Parallele natürlich auch gezogen, dafür ist der B-Science-Fiction-Film aus den frühen Achtzigerjahren einfach zu ähnlich. Der Plot geht so: Außerirdische, die wie Eidechsen aussehen, kämpfen in einer weit, weit entfernten Galaxis einen Befreiungskrieg gegen irgendwelche Bösen. Da ihnen langsam die Piloten für ihre Raumschiffe ausgehen, kommen sie auf die Idee, auf der Erde Nachwuchs anzuwerben. Sie programmieren ein Areadespiel so um, dass es die Steuerung ihrer Raumschiffe, der Starfighter, perfekt imitiert, und verbreiten das Garne - wie auch immer - in irdischen Spielhallen. Der Rest ist pures Klischee: Armer Underdog aus dem Wohnwagenpark knackt den Highscore, wird per Raumschiff nachts abgeholt, gewinnt dank seiner Joystickkünste die Raumschlacht, kriegt das Mädchen und so weiter und so fort. Ein Superfilm. Schließlich gibt er jedem Gamer das Gefühl, bei einem Zockmarathon eben doch nicht wertvolle Lebenszeit verschwendet zu haben, sondern zumindest mit einer 0,000001-prozentigen Chance dem Ziel näher gekommen zu sein, ein intergalaktischer Held zu werden. Die Macher des Films ließen sich damals anscheinend von Gerüchten inspirieren, denen zufolge die CIA durch die Spielhallen des Landes reiste, um die Halter der Highscores als Supersoldaten der Zukunft zu rekrutieren. Bis heute umgibt den Film übrigens ein kleines Geheimnis, das eingeweihte Kreise von Supernerds wie uns immer noch beschäftigt: Im Film ist mehrfach das fiktive Arcadespiel deutlich zu sehen, mit dem die Aliens den humanoiden Nachwuchs rekrutieren, zum Beispiel, wenn man den Helden beim Zocken sieht. Kurz flimmert sogar einmal der Herstellername »Atari« über den Schirm. Und tatsächlich soll die legendäre Spielefirma das passende Game zum Film bei dessen Start fertig gehabt haben - doch in den Arcaden kam das nie an. Seltsam. Vielleicht hat da doch noch die CIA interveniert.
»Rekrutierung per Videospiel«, murmelt Nick und denkt laut weiter, »das heißt, wenn wir noch eine geheime Message wie in Raid over Moscow entdecken wollen, müssen wir so viele Spiele unter die Lupe nehmen wie möglich, und zwar in der Version, die es im Laden zu kaufen gab, auf der Originalfloppy, -kassette oder -cartridge. Wow, das wird schwierig.«
In der Tat, denn normalerweise funktioniert Retrogaming so: Irgendein Bastler macht sich die Mühe, die alten Platinen, Cartridges, Disketten oder Bänder auszulesen, und stellt die Daten ins Netz. Dieser Satz von immer gleichen Bits und Bytes wird dann wieder und wieder kopiert und zirkuliert im digitalen Nirwana, bis es irgendwann mal niemanden mehr gibt, der den Oldie mit einem Emulator zum Leben erwecken will oder kann. Soweit, so gut. Doch was ist, wenn eben nicht alle Originalversionen eines Computerspiels, wie wir bislang angenommen haben, völlig identisch sind? In diesem Fall bringen einem all die perfekten Klone im Netz nichts, dann gibt es nur noch einen Weg - zurück zur Quelle. Nur dass die mittlerweile ausgetrocknet ist. Erst letztens haben wir eine eingeschweißte Packung mit 5,25-Inch-Disketten aufgemacht, bei denen sich die Magnetschicht in Staub aufgelöst hatte. Da fiel uns mal wieder auf, wie hoch in unserem digitalen Venedig schon das Wasser steht. Klar gibt es ab und zu auf den Flohmärkten im Netz noch Originalspiele zu kaufen, aber mit jedem heißen Sommer und jedem kalten Winter, die an der Magnetschicht knabbern, sinken die Chancen, dass die Dinger auch fehlerfrei laufen. Das alles hat Nick längst abgewogen. „Ich denke, die besten Chancen haben wir mit alten ROMs oder EPROMs, die haben eine längere Lebensdauer als Floppys oder Tapes.«
Es tut mir leid, aber hier ist langsam mal ein Realitäts-Check angesagt. „Und wo willst du bitteschön Hunderte von alten Cartridges herkriegen, obendrein noch billig?«
Als habe er nur auf diesen Einwand gewartet, lässt Nick sich die Worte auf der Zunge zergehen. „Ich sage nur: Atari Landfill.« „Der E. T.-Friedhof? Ich dachte, das ist eine Legende?« „Nee, nee«, grinst Nick. Aha, er weiß mal wieder was, was ich nicht weiß. Aber was soll's: Erfolgloser kann der Trip ohnehin nicht werden. Also grinse ich zurück und fische, ohne ein Wort zu sagen, die USA-Karte aus dem Handschuhfach. Unser neues Ziel heißt Alamogordo/New Mexico. Ich drücke meinen Daumen auf die Karte, jeder Abdruck sind 60 Meilen oder eine Stunde Fahrt, wenn wir nicht gerade über die kleinen Staatsstraßen zuckeln. Eins, zwei, drei, vier - für diese Monsterstrecke reicht die Daumenmethode nicht aus. Ich muss die Karte ganz aufklappen und schätzen: Also, zurück nach Kansas City, dann weiter durch Oklahoma, ein Stück durch Texas und rein nach New Mexico - quasi einmal mitten durch den nordamerikanischen Kontinent. Das müssen über 1000 Meilen sein. Um die Stimmung nicht zu drücken, schätze ich mal optimistisch. „Wir könnten in drei Tagen da sein.« „We're there, dudel«, sagt Nick und hält mir die Hand zum Highfive hin. Ich schlage ein. „Alles klar.«
Zwei Stunden später hat uns die Interstate zurück, eine dieser seelenlosen Betonschlangen. unter denen in den Siebzigern die meisten alten Fernstraßen verschwunden sind. Auf dem Highway mag die Hölle los gewesen sein, hier ist die Hölle. Keine Kreuzungen, keine Häuser oder Autowracks am Straßenrand, keine Spur vom alten Amerika, nur schnelles und sicheres Reisen. Nicht mal angefahrene Tiere liegen herum, weil hohe Zäune die Landschaft von den Fahrspuren abschirmen. Das ist natürlich toll und supersicher, aber auch ein bisschen schade, schließlich sind die Kadaver am Straßenrand oft unser einziger Kontakt zur lokalen Tierwelt. Oder wie häufig sieht man beim Kaffeekaufen schon ein echtes Gürteltier? Wir biegen auf den Parkplatz der Truckertanke Flying-J ein, machen den Wagen voll und holen eine Tüte Milch, weil ich nach drei Tagen Fastfood das Gefühl habe, etwas Gesundes trinken zu müssen. Es gab nur Großpackungen, und so zuckeln wir mit einer halben Gallone Milch auf der Interstate in den Sonnenuntergang. Jetzt, da es erst mal nichts mehr zu sehen oder zu sagen gibt, ziehen sich die Meilen wie Kaugummi hin, und jeder beschäftigt sich, so gut es geht, mit sich selbst. Nicks Spielzeug der Wahl - nachdem ich wieder das Steuer übernommen habe - ist das Radio: Da kann er stundenlang am Equalizer rumprokeln oder endlos den Sendersuchlauf abfahren; als Kind muss er echt pflegeleicht gewesen sein. Er schaue mal, ob es irgendwo »Classic Rock« gäbe, hat er vor einer halben Stunde gesagt; seitdem schraubt er. Eigentlich hören wir ja unterwegs nur Country Music, obwohl uns das zuhause im Leben nicht einfallen würde. Aber hier passt es irgendwie. Bei Country sind die Botschaften so angenehm einfach: Irgendein Dick, Jack oder Skip mit Stetson singt davon, dass ein fremder Pick-up in seiner Einfahrt parkt, während seine Dame allein zuhause ist. Oder freut sich einfach nur: »She thinks my tractor's sexy.«
Ungefähr eine Stunde halten wir diese heile Welt aus, dann gehen uns das Gefiedel und die Achy-breakyhe art-Texte tierisch auf den Zeiger, und wir schalten auf einen Sender mit Classic Rock um - eine weitere Musikrichtung, die wir daheim niemals hören würden. Manchmal produziert Nick mit seinem Rumgeschalte aber auch einen dieser goldenen Momente, in denen alles passt. So wie jetzt.
»Down the road in the rain and snow the man and his machine would go«, plärrt es auf Mittelwelle, und wir sind einfach nur glücklich. Unter der Haube unseres Opamobils taucht der endlose gelbe Mittelstreifen ab, um im Rückspiegel in der Nacht zu verschwinden; drei Stunden oder 180 Meilen reißen wir heute noch runter, das haben wir uns vorgenommen. Dann morgen und übermorgen noch mal den ganzen Tag hinterm Steuer, dann müssten wir da sein. 1000 Meilen Ödnis, nur um in einer Müllkippe rumzugraben - klingt nicht schwachsinniger als der übliche Schwachsinn.