#15 T-6: 15:49
Der Auftrag ist klar: Colonel Trautman will, dass ich reingehe und den letzten Mann raushole - den Kameraden, der noch missing in action ist. Okay, reingehen stimmt vielleicht nicht ganz, und rausholen eigentlich noch weniger. Nick braucht eher so was wie einen Fluchthelfer. Seine Nachricht jedenfalls ist eindeutig. USEMBASSY verrät, wo er festsitzt, nämlich im Gebäude der ehemaligen amerikanischen Botschaft, der U.S. Embassy. Und FRAGACS bedeutet: Ich soll das ACS, das Access Control System, die elektronische Zugangskontrolle, fraggen - also abknallen -, damit er da wieder rauskommt. Das zumindest könnte es bedeuten, unter Umständen. Immerhin habe ich eine vage Idee davon, wie ich den Beifahrer befreien könnte. Ironischerweise hat uns nämlich die Datacorp selbst beigebracht, wie man antiquierte Sicherheitssysteme überwindet. Alle wichtigen Modelle und möglichen Exploits standen in einer dieser Anleitungen, die wir ständig zugeschickt kriegen, damit wir sie durchackern. Und da der Stoff zur Abwechslung ansatzweise macgyveresque war, habe ich das sogar getan. Das wichtigste Einbruchswerkzeug liegt schon auf dem Rücksitz unseres Dienstwagens: mein steinaltes Powerbook mit Handymodem, dazu der obligatorische Leatherman und ein paar Drähte, falls Hardwarebasteleien in der Botschaft nötig sind. Hoffentlich sind sie nicht nötig, weil das hieße, gegen das Gesetz zu verstoßen, und das tun wir grundsätzlich nicht gerne. Nur eine Information fehlt noch, ohne die ich Nick nicht aus seinem Gefängnis befreien kann: die alte Telefonnummer der Botschaft. Die hat die Company nämlich garantiert aus dem Telefonbuch löschen lassen, nachdem sie da eingezogen ist. Eine Datacorp kann man eben nicht einfach so anrufen. Aber vielleicht gibt es eine Lösung. Ich wähle die Nummer meiner Schwester und stelle auf laut. Klack, Todesschreie gellen durch den Wagen, dann ein gehetztes »Ja?«
»Hi, ich bin's ...«
»Hi«, kläfft sie zurück, »rufst du wegen Sonntag an?«
Im Hintergrund zerfleischen sich Itchy und Scratchy mal wieder, es ist kurz vor sechs, Unhappy Hour für alle Mütter, kein guter Zeitpunkt für ein Telefonat. Warum kann man eigentlich nirgendwo mehr anrufen, ohne sich diesen Zombiefilm-Soundtrack im Hintergrund geben zu müssen? Ich muss mich also riiiichtig kurzfassen.
»Sag mal: Ihr hattet doch in der Firma immer diese alten Telefonbücher, oder?«
Bevor sie in die Produktion kleiner Zombies eingestiegen ist, hat BigSis bei einem Erben-Ermittler gearbeitet. Das ist so eine Art Detektei, die raus findet, wer die Kohle kriegt, wenn eine reiche Tante in Amerika stirbt, die keine Ahnung hat, wo ihre Verwandten in Deutschland leben. Für den Laden hat BigSis immer irgendwelchen Jurascheiß erledigt. Früher auf der Uni, da gehörte sie echt zu den Spitzen-Jura-Babes - sofern man das als Bruder überhaupt beurteilen kann. Sie ist halt dieser Lufthansa-Typ, auf den neunzig Prozent der deutschen Männer stehen, Nick eingeschlossen: groß, schlank, blond. Die ganzen alten Assistenten haben ihr hinterhergehechelt, wenn sie mit Pumps, Blüschen und Perlenkette durchs Seminar trippelte; heute trägt sie Cargohosen und ausgelatschte Crocs. So richtig dicke waren wir eigentlich nie, aber in letzter Zeit schleicht sich auch in unsere Beziehung so eine Altersmilde ein. Ich helfe ihr sogar, wenn sie irgendwelchen Ärger mit ihrem PC hat. Ich bin quasi der Sis-Admin. Eigentlich ganz nett.
»Klar, die haben von allen großen Städten die Telefonbücher da, bis anno 1900, glaube ich«, keucht sie. Kurze Pause, sie scheint auf die Uhr zu gucken.
»Was brauchst du? Wenn ich gleich anrufe, ist noch jemand da.«
»Die Nummer der Ami-Botschaft - von 1989!«
BigSis lacht.
»Sag nichts - Nick hat was damit zu tun. Richt' ihm mal aus, dass die Achtziger vorbei sind.«
»Mach ich ständig, aber er will nicht auf mich hören!«
»Okay, ich frag mal nach. Ruf dich gleich wieder zurück.«
Und da hat sie auch schon aufgelegt. Ich drehe den Zündschlüssel um. Das Projekt missing in action kann starten, ich bin gleich da, Alter. Um zur Botschaft zu kommen, muss man einmal quer durch Ehemalistan fahren. Also erst mal rauf auf die vierspurige Straße, wo sich die Diplomaten-Kids seinerzeit heiße Ampelrennen mit den Wagen ihrer Papis geliefert haben. Richtig mutig war das nicht, schließlich pappte auf ihren Karren hinten der »CD«-Aufkleber, und das bedeutete, die Bullen durften nur brüllen, aber nicht beißen. Heute muss niemand mehr befürchten, dass ihn ein schwarzes Diplomatengeschoss rechts überholt oder von hinten plötzlich ein gigantischer Tross Staatskarossen angerauscht kommt, abgeschirmt von Dutzenden Motorradpolizisten, den weißen Mäusen, denen man als kleiner Junge immer staunend hinterhergestarrt hat. Heute fahren alle brav Tempo 70, sodass einem keine Wahl bleibt, als die Vergangenheit in all ihren grässlichen Details in Augenschein zu nehmen. Durch Ehemalistan zu fahren ist Archäologie in Echtzeit: Erst kommt das Haus, in dem mal die Sowieso-Behörde saß, dahinter türmt sich dieses ehemalige arabische Konsulat auf, das immer aussieht, als hätte man die Badezimmerfliesen außen angebracht, dann biegt man an der Ecke ein, wo das Gebäude des früheren Was-auch-immer-Ministeriums vergammelt. Graue Protzbauten aus den Fünfzigern scrollen am Seitenfenster vorbei, alle mit dem obligatorischen »Büroflächen zu vermieten«-Schild im Fenster, eingetaucht in niemals endenden Regen. Gleich könnte John le Carre aus dem Haupteingang kommen, sich mit hochgeschlagenem Kragen eine Zigarette anzünden und lostraben, um für den Geheimdienst Ihrer Majestät irgendeine miese Sache zu erledigen. Eigentlich könnte Nick an keinem besseren Ort wohnen. Ehemalistan ist ein kleines, beschauliches Stückchen vom 20. Jahrhundert, mitten in einer völlig unübersichtlich gewordenen Welt, in der mongolische Neonazis gegen chinesische Ölfirmen kämpfen oder so. Wer sich im Jetzt nicht so wohlfühlt, ist hier gut aufgehoben. Wir leben in der Prozac-Provinz - einerseits wirkt sie beruhigend, andererseits kriegt man kaum was davon mit, was um einen herum so passiert. Das Telefon klingelt, BigSis ist dran.
»Hast Glück gehabt, es war noch jemand im Büro«, verkündet sie leicht außer Atem, »ich sims dir die Nummer gleich.«
Mütter erkennt man daran, dass ihre Klamotten und ihre Informationstechnik immer noch aus der Zeit vor dem ersten Kind stammen.
»Cool. danke! «, sage ich extra laut und deutlich. Das Gebrüll im Hintergrund ist leiser geworden; vermutlich hat sie die Kinder mit dem Fernseher sediert, um die Nachricht tippen zu können. Sie fuhrwerkt irgendwas am Hörer rum.
»Äh, weißt du jetzt schon, ob du Sonntag kommst?«
»Warum nicht?«
Eine bequeme Lüge. Dabei ist ziemlich klar, dass ich am Sonntag mit ihr und Mutter keinen Kuchen essen werde. Hinter welchem Fenster könnte Nick sitzen? Ach stimmt - der Raum hatte ja gar keine Fenster, aber vielleicht geht ja einer der Nebenräume nach vorne zur Straße raus, vielleicht hat er mich ja schon im Wagen gesehen und bereitet seinen Abflug vor. Ehemalistan ist schon ins Bett gegangen. Auf den breiten Alleen, die für das Verkehrsaufkommen eines geopolitisch wichtigen Zentrums ausgelegt sind, kriechen nur noch ein paar vereinzelte Papis Richtung Eigenheim, die mit ihren Kollegen einen trinken waren. Auch die Botschaft liegt im Koma: Bis auf das fahle Glimmen von Neonröhren in einigen Fenstern ist der Häuserblock völlig ausgestorben. Zwischen all den Villen mit ihren sorgfältig gestutzten Buchsbaumhecken wirken die Gebäude wie abstoßende Fremdkörper, so, als hätte sie jemand wahllos aus einem Flugzeug abgeworfen. Genau diese Art von Nachkriegsklotz macht einem immer Gänsehaut. Denn genau in dieser Art von Gebäude haben die Kinder der Achtziger meist Scheiße erlebt. Beim einen war es die TÜV-Prüfstelle, beim anderen das Kreiswehrersatzamt oder das Sekretariat des Schulrektors - all diese Schicksalsorte waren damals in Bunkern aus den Fünfzigern oder Sechzigern untergebracht. Die konnte man schon am Eingang erkennen: An der Tür war immer so ein Messinggriff mit schwarzem Plastik angebracht, der aussah, als ob jemand Lakritz drumgewickelt hätte. Wenn du den mit schweißnassen Händen nach vorne geschoben hast, wusstest du: Gleich geht's ans Eingemachte, gleich haben sie dich am Sack. Vor allem beim Kreiswehrersatzamt. Ich lasse den Wagen langsam ausrollen, um möglichst viele Details aufzusaugen. Gegenüber der Botschaft schmiegt sich ein kleines Lädchen an den Bürgersteig. Blumen steht in nazimäßiger Frakturschrift auf der Fassade. Am Giebeldach hängt eine schmiedeeiserne Laterne. Herr le Carre, der Strauß für Ihre Frau ist fertig. Obwohl in der Botschaft seit Jahrzehnten keine Staatsangelegenheiten mehr abgewickelt werden, wirkt sie immer noch wie eine Festung. Achtung, Sie verlassen West-Berlin! Der Zaun besteht aus dicken Stahlstangen und sieht nach militärischem Sperrgebiet aus. Oben sind so spitze Zacken drauf, die jedem, der rüberklettern will, die Gedärme rausreißen und ... Shit! Überall, wo das Grundstück eine Biegung macht, sind auf der Zaunkrone Kameras installiert, also bloß nicht zu langsam werden. Die Hauptpforte kommt näher. Sieht alles ziemlich fertig aus: Gleich vorne an der Straße steht ein kleines Häuschen, bei dem alle Scheiben eingeschlagen sind; hinter den leeren Fensterrahmen hängen die Reste von Jalousien. Neben dem Kabuff haben sie eine kleine Schleuse eingebaut, durch die sich die Besucher quetschen müssen, natürlich gesichert mit Ganzkörperdrehkreuz, damit immer nur einer auf einmal reinpasst. Wie hochgerüstet der Scheiß wohl heute wäre, nach 9/11? Da! Das ist es - diese kleine Säule direkt neben der Besucherschleuse. Da steckt das Zugangssystem drin. Es ist ein viereckiger schlanker Klotz, vielleicht einsfünfzig hoch, rundherum mit eloxiertem Stahl verkleidet. Vorne ist nur ein kleiner Schlitz zu erkennen, wie bei einem Kassenautomaten im Parkhaus, da kommt die Codekarte rein. Sieht nach einem alten Modell von AT&T aus, bei Sicherheitstechnik vertrauen die Amerikaner natürlich nur einheimischen Firmen. Hinter der Sperre wird's noch abgefuckter. Der Asphalt auf dem Vorplatz ist an vielen Stellen aufgesprungen. Aus dem runden Beet in der Mitte, wo früher stolz das Sternenbanner wehte, quillt ein Berg von Gestrüpp. Ranken strecken ihre Zweige über die halbe Straße aus. Autos fahren da anscheinend nicht mehr viele rum. Vorsichtig weiterrollen, immer schön in Bewegung bleiben. Hinter der Pforte geht der Zaun normal weiter, vielleicht noch zwanzig Meter, dann knickt er nach hinten ab und verschwindet im dunklen Gestrüpp des Gartens. Ich brauche einen Platz, von dem aus man den Eingang noch erkennen kann - falls Nick da rauskommt. Gleichzeitig muss ich weit genug weg sein, damit die Kameras mich nicht erfassen. Gleich hinter dem Ende des Botschaftsgrundstücks bricht wieder der Nachkriegswohlstand aus. Das nächste Haus ist derart gepflegt, dass es einem fast Tränen der Rührung in die Augen treibt. Hier wohnt eine gute Seele, die definitiv etwas von deutscher Sauberkeit versteht. Das weiße Mäuerchen strahlt selbst im Nieselregen so hell, als wäre es gerade erst vor zehn Minuten gestrichen worden. Ich parke den Wagen zwischen zwei alten Platanen ein und mache den Motor aus. Und was nun? Wie kriege ich Nick aus dieser Festung raus? Es gibt drei Methoden, diese ollen Kartenschlösser zu überlisten so stand es zumindest in der Anleitung der Company. Erstens: Du besorgst dir die Codekarte von jemandem, der rein darf, und kopierst sie. Da die Dinger im gleichen Format wie stinknormale Kreditkarten beschrieben werden, ist das völlig easy - aber eben nur, wenn du an eine Originalkarte rankommst. Möglichkeit zwei: die harte Tour, also an der Hardware rumschrauben. Dafür muss man an eine der Leitungen ran, die den Kartenleser mit dem Zentralrechner verbinden. Der Nachteil ist, dass man dafür an den Drähten rumfummeln muss. Das wäre in einem Perimeter, das so mit Videokameras gepflastert ist, der totale Selbstmord. Bleibt noch der elegante Retro-Ansatz: Die WarGames-Methode. Um mir Mut zu machen reibe ich theatralisch die Hände gegeneinander, so als müsste ich gleich ein Tresorschloss mit viel Fingerspitzengefühl knacken. Dann schalte ich das Powerbook ein - Schlösser aus der Vergangenheit lassen sich eben nur mit Werkzeugen aus der Vergangenheit überlisten. Hinter den feuerfesten Edelstahl-Verkleidungen der Kartenschlösser tickt nämlich noch Technik von 1984. Laut Datacorp-Handbuch werden alle Zugangssysteme dieses Typs von einem alten HP-Rechner gesteuert, auf dem irgendein Unix-Dialekt läuft. Diese Altlast gegen eine schnellere Kiste auszutauschen wäre totale Geldverschwendung, da der Zentralcomputer nur einen total simplen Job erledigen muss: Er prüft, ob eine Karte, die gerade durchgezogen wurde, die richtige Nummer hat und ob derjenige auch rein darf. Dann sendet er das Okay an das Schloss und die Tür geht auf. Der angestaubte Zentralrechner ist die Schwachstelle des Systems - hier kommt Einbruchsvariante drei ins Spiel: Die meisten dieser Computer sind über ein Modem mit dem Telefonnetz verbunden, damit man sie aus der Ferne warten kann. Und exakt da werde ich jetzt mal anrufen. Am liebsten würde ich mir vor Freude den kleinen Finger Dr.-Evil-mäßig in den Mundwinkel halten. Deshalb scheißt Nick also immer so gerne klug: Es ist ein verdammt erhebendes Gefühl, mal was zu wissen. Wenn es einen Film gibt, den wir hassen, dann ist es ja »WarGames«.
Heul, heul, beim Atomkrieg gibt es keine Gewinner, da verlieren alle - diese Message zog einem der Streifen derart platt über den Schädel, dass es weh tat. Nur eine Szene, die war sexy die, in der Broderick mit seinem Rechner alle Telefonanschlüsse in Sunnyvale durchtelefoniert, bis er an einen Computer gerät, in den er einbrechen kann. Wardialing heißt der Trick seitdem. Und genau das werde ich jetzt auch probieren. Klar: Wardialing ist total kindermäßig und Old School. Also genau mein Niveau! Und außerdem könnte es hier wirklich funktionieren. Ich starte das Wählprogramm und gebe die alte Telefonnummer der Botschaft ein: 83050. BigSis, gelobt sei dein ehemaliger Arbeitgeber! Ich drücke auf den schwergängigen Schalter unterhalb des Touchpads und das Powerbook rödelt los. Das Wählprogramm wird jetzt über das Mobilfunkmodul alle Nebenstellen in der Botschaft abklappern, angefangen bei 8305-1, dann 8305-2 und so weiter. Angeblich können die Jungs vom Team Magenta dieses Wardialing nach einiger Zeit am wilden Gewähle bemerken und kappen einem dann die Leitung, klingt aber eher nach einem Märchen. Und außerdem läuft der Hack - wie sollte es bei uns auch anders sein -ziemlich höflich ab, schließlich klingelt der Dialer ja nicht reihenweise unbescholtene Bürger raus, sondern ruft nur in einem Gebäude an, in dem hundertpro keine Menschenseele mehr wohnt. Lustig blinkt die grüne Diode am Funkmodul vor sich hin. Nummer nach Nummer probiert der Dialer jetzt durch. Er horcht kurz, ob sich ein Modem meldet, und wenn nicht, legt er auf und macht mit der nächsten Nebenstelle weiter. Klar wird das teuer -aber, hey, der Arbeitgeber zahlt ja -und obendrein zahlt er dafür, dass ich bei ihm einbreche! Der Dr.-Evil-Reflex meldet sich wieder. Schade, dass Nick nicht dabei ist. So richtige Hacker waren wir ja nie, auch wenn wir heute manchmal so tun. Wir sind halt die IT-Landser, und wenn die von ihren Gefechten an der Datenfront erzählen, muss es doch nach was klingen! Also brabbelt Nick gerne davon, wie er sich mit seinem Akustikkoppler früher überall reingemogelt hat. Die Aktionen liefen natürlich total harmlos ab, ein fremder Rechner war nur ein einziges Mal dran, und selbst da hat Nick nach einer Minute aufgelegt, weil er Panik hatte, die Post käme ihm auf die Schliche. In Wirklichkeit sah Hacking für uns damals so aus: Wir haben die Sprites von dem Männchen aus Impossible Mission, das immer so cool Salto schlug, aus dem Spiel rausgeprokelt und dann in ein Intro transplantiert, in dem dann zwei dieser Männchen auf der Stelle gegeneinander joggten. Darunter wurde dann ein Laufband gepackt, in dem der Nickmeister und Kee ihre überlegenen Hackerskills lobten. Und natürlich allen anderen Crews die Bullen und/oder den Tod an den Hals wünschten. Das war alles Kinderkacke. Doch das hier, das ist echt. Es geht gut voran, der Dialer ist schon bei der Nebenstelle 23 angekommen. Sollte der Zentralrechner, der alle Kartenschlösser steuert, wirklich am Telefonnetz hängen, müsste ihn das Powerbook bald entdecken und Kontakt aufnehmen. Aber was dann? Der Moment der Wahrheit kam schneller, als ich erwartet hatte. Bei Nebenstelle 42 schlug der Dialer Alarm: Er hatte am anderen Ende der Leitung ein Modem geortet, Datenrate: 9600 Baud, ein Unix-System. Und jetzt strahlt auf dem Bildschirm das gefürchtete Prompt, grün auf schwarz, im alten Terminal-Look, so, wie Gott ihn erschaffen hat.
LOGIN NAME?
Shit, was jetzt? Ich könnte das Powerbook anweisen, ein Wörterbuch mit möglichen Login-Namen durchzuprobieren, doch das wäre Schwachsinn, weil der Rechner auf der anderen Seite unter Garantie nach drei falschen Antworten die Schotten dicht macht. Bleibt also nur raten. Vorsichtig tippe ich fünf Buchstaben ein:
GUEST
Und Enter. Die Frage nach dem Login-Namen verschwindet. Das kann nicht wahr sein, es funktioniert! Die Datacorp, der multinationale Megakonzern, brilliert mal wieder mit IT-Sicherheit wie bei Muttern. Brav meldet sich der Dinosaurier am anderen Ende der Leitung mit der nächsten Fangfrage.
PASSWORD?
Jetzt wird die Sache nochmal haarig. Fest steht: Wer immer den Zentralrechner für die Kartenschlösser installiert hat, war extrem bocklos. Denn Login-Namen wie GUEST sind vom Hersteller des Computers voreingestellt, und jeder halbwegs seriöse Admin hätte sie längst geändert. Nein, die Firma setzt mal wieder auf security through obscurity. Das Prinzip Sicherheit durch Unauffälligkeit ist ganz simpel: Also angenommen, man wohnt in der Bronx und hat Angst, dass bei einem eingebrochen wird. Dann kann man sich die Tür mit einer Batterie von Schlössern zuhauen - und riskieren, dass die Einbrecher so erst recht auf einen aufmerksam werden. Oder man praktiziert security through obscurity: In diesem Fall schließt man die Wohnungstür extra nicht ab, damit niemand auf die Idee kommt, dass es hier was zu klauen gibt. Schlau. Funktioniert aber nur so lange, bis irgendein Stümper um die Ecke kommt und einfach an jeder Tür testweise mal die Klinke runterdrückt. Also jemand wie ich. Ein Kribbeln wandert von meinen Fingerspitzen aus die Arme hoch und wieder zurück zur Tastatur. Obwohl durch den Spalt im Fahrerfenster kühle Abendluft reinbläst, kleben meine T-Shirt-Ärmel unter den Achseln fest. Da muss der Beifahrer erst mal entführt werden, bis ich was auf die Reihe kriege. Rot Fünf hier, ich bin fast da ... Warum weiter nachdenken? Übermütig haue ich als Passwort einfach PASSWORD rein. Und Enter.
LOGIN INCORRECT
Na gut, dann eben noch banaler: Ich gebe einfach nochmal GUEST ein. Bingo, auch die Frage nach dem Passwort verschwindet. Auf einmal ist alles ein Spaziergang. Der Cursor in der Terminalzeile setzt kurz aus, dann begrüßt mich der Computer der Sicherheitszentrale freundlich:
WELCOME TO DATACORP, OSIRIS ACS ONLINE
Yesssss. Unfassbar: Die Botschaft einer ehemaligen Weltmacht ist auf mein dilettantisches Old-School-Ratespiel reingefallen. Auf dem Bildschirm rattern reihenweise Buchstabenkolonnen runter. Wirre Kapitale fliegen vorbei.
MAINT, ADDUSER , DELUSER.
Wie damals auf dem Norton Commander, wenn wir mal wieder per Hand eine Startdiskette zusammenzimmern mussten. Sorglos lasse ich den Cursor über die Menüpunkte wandern. Wenn mich der Oldie so leicht reinlässt, kann man hier bestimmt nichts ernsthaft kaputtmachen. Dann wäre alles besser geschützt. EDITPRIO , CHNGPWD .
Was soll der ganze Scheiß nur heißen? Ohne Handbuch habe ich keine Chance, das zu durchschauen. Bleibt nur jene Methode, die wir unser ganzes Leben lang perfektioniert haben: rumprobieren. Sinnloses Rumprobieren. Damit haben wir noch jedes Game gepackt. Und was im Game klappt, klappt auch im Leben. Also los. Tic, Tac oder Toe? Ich lasse den Cursor ziellos durch die Optionen hüpfen. Da! Das sieht gut aus: FIREDRILL. Feueralarm-Übung. Wenn der Ami vor einer Sache totale Panik hat, dann ist es Feuer. Bei dem Thema ist er völlig paranoid. Selbst im Datacorp-Einsteigerseminar damals - und das dauerte nur läppische drei Tage -, hat uns der Trainings-Heini sofort als Erstes eingeschärft, was zu tun ist, falls es im Seminarraum mal brennt. Feueralarm - das könnte das Sesam-öffne-dich sein! Wenn die Bude in Flammen steht, können die Leute schließlich nicht mehr ihre Codekarten rauskramen, um eine Tür zu öffnen. Dann müssten ja sofort alle Schlösser entriegelt werden. Was habe ich zu verlieren? Klick. Ich wähle die Feueralarm-Übung und bestätige. Kurzer Black-out auf dem Monitor, dann baut sich der nächste Bildschirm auf. Diesmal steht in jeder Zeile dasselbe: immer LOCK, dahinter eine Nummer und dann in Grün der Schriftzug ACTIVE. Zack. Plötzlich schickt der Rechner in der Botschaft neue Daten, Zeile für Zeile wird überschrieben. Wo eben noch freundlich ACTIVE flimmerte, steht plötzlich blutrot INACTIVE . Was ist das auf einmal für ein Lärm? Scheiße. Für diese Aktion müssen meine Alten bis ans Ende ihrer Tage zahlen. Ach ne, die müssen ja gar nicht mehr zahlen. Ich bin ja jetzt der Erwachsene, ich muss ja jetzt zahlen, wenn ich Scheiße baue. Erwachsene haften ja für sich selbst. Und das wird teuer. Der Rüter aus unserer Stufe, der hat ja damals aus Spaß mal einen Krankenwagen zur Party seiner Ex-Freundin geschickt, hat den Maltesern am Telefon was vorgefaselt, von wegen dass sich einer mit 'nem Glas die Pulsadern aufgeschlitzt hätte oder so. Am Schluss bekamen die Bullen natürlich alles raus und er musste für den gesamten Einsatz löhnen, ein paar tausend Mark oder so, munkelte man auf dem Schulhof. Seine Eltern haben ihm einen thermonuklearen Einlauf verpasst und dann das Taschengeld gestrichen. Nichts konnte der mehr machen bis zum Abi, nichts. Jede Mark hat ihm sein Alter abgeknöpft, und dabei hatte er nur einen lächerlichen Krankenwagen gerufen. Bei den Amis heißt der Spaß ja SWATing. Man hackt sich ins Polizeinotrufsystem rein und fingiert eine Meldung, die besagt, dass im Haus des Kumpels eine Leiche liegt, plus Drogenpäckchen, Waffen und so weiter. Ein paar Minuten später rückt dann das Einsatzkommando mit Schrotgewehren, Hubschrauber und Hunden an, um die ganze Bude auseinanderzunehmen. Die Adern in meiner Schläfe pochen wie bekloppt. Das kann alles nicht wahr sein. Die Botschaft sah doch völlig verlassen aus, und es war schließlich nur ein alberner Befehl in einer Bildschirmmaske. Er reichte anscheinend aus. Im Rückspiegel ist jedenfalls die Hölle ausgebrochen. Scheinwerfer blitzen auf, eine Sirene heult, hinter den Fenstern zucken auf einmal Schatten vorbei. Das ist mit Abstand der größte Scheiß, den ich je gebaut habe - außer Sabina gehen zu lassen, vielleicht. Schnell, den Motor anmachen, jetzt nichts wie weg. Wenn ich schön langsam fahre, fällt den Bullen unser Langweiler-Dienstwagen vielleicht gar nicht auf. Doch was ist, wenn Nick wirklich noch da drin ist? Und wenn er fliehen kann? Dann steht er vor der Tür und ich bin abgedampft. Okay, er kriegt dreißig Sekunden, vielleicht taucht er noch auf. Völlig idiotisch, der Abend damals. Alles lief gut. Sabina lachte und schnappte sich meine Hand, als wir aus der Schmetterlingsbahn rauskamen. Mir war schlecht, aber das spielte keine Rolle. Ich hätte vor Stolz platzen können. Jetzt gehörte ich auch dazu, war auch im Club. Ausgerechnet da mussten wir Nick in die Arme laufen. Er war schon ziemlich angezeckt, schwache Nerd-Leber halt, und meinte, die Jungs bräuchten drüben im Festzelt noch Unterstützung bei einem Meter Bier. Warum ich ja gesagt habe, weiß ich nicht.
»Bis gleich«, sagte Sabina und lächelte tapfer, als ich ihre Hand losließ. Erst am Montag in der Schule haben wir uns wieder gesehen. Noch zehn Sekunden, dann fahre ich los, dann hat der Beifahrer eben Pech gehabt. Dass sie dann zwei Wochen später ein Paar waren, habe ich ihm nie übel genommen - Nick gehört schließlich zu den guten Menschen. Niemals im Leben hätte er sich am Abend auf der Kirmes an sie rangemacht, egal, wie strack er auch gewesen sein mag. Das muss später passiert sein. Mit ihm persönlich hatte die Sache ohnehin nichts zu tun. Dass Sabina ausgerechnet mit ihm zusammenkam, war eher Zufall, auf diese Schmetterling-auf-Hawaii-schlägt-mit-dem-Flügel-Chaostheorie-Art. Im Grund genommen war ich selbst schuld: Man konnte sich nicht auf mich verlassen, wie immer, deshalb ist sie gegangen. Die Zeit ist um. Sorry, Alter. Ich lege den Rückwärtsgang ein, kupple hektisch ein; die Karre macht einen Satz nach hinten und kracht voll gegen den Baumstamm. Egal. Erster Gang, Lenkrad ganz nach links einschlagen und immer schön in den Seitenspiegel gucken. Plötzlich ist er da: ein schwarzer Fleck vor den grellen Flutlichtern. Er wird größer, bewegt sich unruhig hin und her. Es ist ein Mensch. Er stolpert über die nasse Fahrbahn, rutscht aus, rappelt sich wieder auf, läuft weiter. Es ist keiner von ihnen, das erkenne ich sofort. Dieses schlaksige Wackeln mit den Armen während des Laufens kenne ich zu gut. Es ist Nick.
»Telefonzelle!«
Mehr kriegt er nicht raus. Dann reißt er mit zitternder Hand die Tür zu.
»Telefonzelle!«, keucht er nochmal und drückt seinen Körper tief in den Sitz, als ob er Angst hätte, ein Auto hinter uns könnte den Umriss seines Kopfes erkennen. Sein Atem rasselt, Tränen rinnen sein Gesicht runter. Du bist lustig, Alter, von wegen Telefonzelle. Wir müssen erst mal hier weg. Die da hinten setzen bestimmt gerade die Kavallerie in Gang. Ich tippe das Gaspedal ultravorsichtig an, wie Scheider in »Atemlos vor Angst«, der Streifen, wo er die Ladung Nitroglyzerin über die buckelige Dschungelpiste kutschieren muss. Nur nicht schneller als fünfzig werden, nur nicht auffallen, das ist unsere einzige Chance. Nick bäumt sich wieder auf.
»Telefon ...«
»Ist schon klar, Alter, ist klar, weiß auch schon, wo«, beruhige ich ihn. Natürlich habe ich nicht die leiseste Ahnung, wo die nächste Telefonsäule steht. Doch das spielt keine Rolle, er muss runtergebracht werden, sonst dreht er noch durch und macht irgendwas Unüberlegtes. Wenn er mit Sabina sprechen will, sollte man ihm besser nicht im Weg stehen. Quälend langsam kriecht Wirtschaftswunder-Deutschland an uns vorbei: weitere Villen, in denen Dr. Borsig dir einen Tee reicht, dann eine dieser schwimmbadgrünen Polizeinotrufsäulen, schließlich ein Kiosk, an dessen Dach eine uralte Werbung für die »FAZ« hängt. Steckt dahinter noch irgendein Kopf? Rückspiegel-Check. Alles klar, niemand hinter uns. Eine Verfolgungsjagd mitten durch eine deutsche Stadt riskieren die Ärsche von der Company wohl doch nicht. Einfach weiterrollen, einfach mehr Kilometer zwischen uns und die Botschaft bringen, die Telefonzelle kann noch warten. Die Wochen und Monate, nachdem Sabina bei Nick angedockt hatte, waren hart, vor allem diese ersten paar Sekunden, wenn ich zum Beispiel in einen Partykeller kam und die beiden da hab stehen sehen, wie sie Händchen hielten, rumturtelten. Das alles hätte ich haben können - es gibt keinen unproduktiveren Gedanken. Aber er verzog sich nach und nach in den Hinterkopf. Okay, vielleicht nicht so ganz. Immerhin haben sie es mir bisher erspart zu heiraten. Vermutlich müsste ich dann auch noch als Trauzeuge antreten. Schwieriges Terrain. Obwohl: Irgendjemand hat mir mal gesagt, dass der Pfarrer diese »Wenn jemand etwas einzuwenden hat«- Frage in echt gar nicht stellt. Nick stemmt sich ein bisschen aus seiner U-Boot -Position hoch.
»Alles sauber?«, keucht er. Ich checke den Rückspiegel.
»Alles sauber.«
Er fällt wieder in sich zusammen. Und dann raunt er, kaum hörbar, nur zwei Worte.
»Diese Schweine.«