LEVEL 22
Tag zwei. Von wegen »It never rains in Southern California«: der bekannte Oldie hat leider Unrecht.
»Norderney«, verkündet Nick, nachdem er die Vorhänge zur Seite gezogen hat. Ich wälze mich aus dem Bett und bestätige: »Sylt.«
Schwer hängen die Wolken über West Hollywood; es muss über Nacht geregnet haben, denn die Pfützen im Innenhof des Sands sind noch nicht getrocknet. Nick schmiert sich unbeeindruckt von Kopf bis Fuß mit Sonnenöl ein, bevor er seine obligatorische Jeansjacke drüber zieht. Er befürchtet wohl, dass heute einer dieser bedeckten Tage ist, an denen man besonders schnell einen Sonnenbrand bekommt. Dabei käme ich nicht einmal auf die Idee, heute zum Strand zu fahren, zumal wir beide nicht die Typen sind, die - wie heißt es immer so schön in Kennenlernanzeigen - »lange Spaziergänge am regnerischen Tagen« mögen. Nach einem ausgiebigen Frühstück bei Denny's beschließen wir, eine weitere Retro-Location anzusteuern. Die Pak-Mann-Arcade ist wie einer dieser Knochenfische, die alle paar Jahre mal in Indonesien gefangen werden und für Riesenwirbel sorgen, weil sie eigentlich schon ausgestorben sind, aber - da sie so weit ab vom Schuss wohnen - noch nichts davon gehört haben. Auch die Spielhalle in Pasadena ist so ein Zombie. Sie gehört zur eigentlich schon ausgestorbenen Spezies der bösen Arcaden, die jeder Stadtvater gerne schließen würde, aber nicht kann, weil sie immer voll sind - obwohl alle Eltern ihren Kindern verbieten, dorthin zu gehen - und die Betreiber brav ihre Gewerbesteuer zahlen. Es ist ein raues Etablissement, das anders als viele Arcaden in den letzten Jahren nicht im Namen der Familientauglichkeit disneysiert wurde. Hier stehen die Videospielautomaten schmucklos in dichten Reihen auf abwaschbarem Kachelboden: Galaga, Zaxxon, Tekken, eine ganze Batterie Neo-Geo-Konsolen wie Metal Slug und all die anderen Klassiker. Auf eine Wanddekoration hat der Geschäftsführer verzichtet; sie wäre im schummerigen Licht der wenigen Neonröhren ohnehin kaum zu erkennen. Als wir letztes Jahr da waren, konnten wir außer zwanzig Rechnern, die für Netzwerkgames wie Counterstrike aufgesetzt waren, kein Zugeständnis an die neue Zeit entdecken. Alles an der Pak-Mann-Arcade war schön böse: Der Geldwechsler saß in einem vergitterten Häuschen, nahm keine Scheine über fünf Dollar an, und vor den Automaten hingen schwere Eisenstangen, damit niemand die Geldkassetten aufbrechen konnte. Der Himmel auf Erden - und das seit 1982. Jetzt scheint die Geschichte dieses letzte Fleckchen alter Welt doch noch eingeholt zu haben. Nach einer guten Stunde Fahrt über proppenvolle Freeways stehen wir vor der Hausnummer 1775 der East Colorado Avenue. Aber dort, wo jahrzehntelang ein selbst gemaltes Schild den Eingang zur Spielhalle wies, hängt jetzt ein riesiges Banner mit der Aufschrift European Furniture Warehouse. In den Räumen der Pak-Mann-Arcade residiert also ein Möbelgeschäft, und als ob das alles nicht schon trübe genug wäre, verkündet ein handgeschriebenes Schild an der Tür: Out ofBusiness. Der Laden, der die gute alte Spielhalle verdrängt hat, musste also auch schon wieder dichtmachen. Ein schwacher Trost. Jedenfalls ist alles, was an die Pak-Mann-Arcade erinnern könnte, verschwunden: Die schmale Eingangstür, die Eltern immer wie die Pforte zur Hölle vorgekommen sein muss. Dieses dunkle Loch, an dessen Ende man nur ein paar Bildschirme flimmern sehen konnte und aus dem ohne Pause die Kakophonie der 8-Bit-Soundchips herausdröhnte, die im Attract Mode durcheinander plärrten. Und dieser Geruch! Wie ein abgewetztes Markstück, aufgelesen vom Boden einer Herrentoilette. Herrlich. Nun ist es alles Geschichte. Lebe wohl, Pak -Mann, wir haben dich kaum gekannt. Wir würden gerne glauben, dass die sauberen Stadtväter von Pasadena die letzte Brücke in die Vergangenheit eingerissen haben, doch wahrscheinlich war für Pak-Mann einfach nur seine Zeit gekommen. Und vielleicht haben auch wir, wie der berühmte gelbe Hockeypuck, lange genug Geister verfolgt. Nach diesem Schock brauchen wir jedenfalls - wie nach allen wichtigen Ereignissen in unserem Leben - erst mal einen Kaffee. Wir sitzen vor einem Starbucks, der direkt gegenüber der alten Arcade aufgemacht hat, und brüten still vor uns hin. Ich versuche mich an einem Nachruf: »Wann war das goldene Videospiel-Zeitalter eigentlich vorbei?«
Nick nuckelt abwesend an seinem Frappuccino. Seine Lust, mit mir auf den intellektuellen Spielplatz zu gehen, hält sich mal wieder in Grenzen.
»Weiß nich, als die ersten 16-Bit-Spiele kamen?«, murmelt er nur knapp. Sein leerer Blick verfolgt einige Autos, bevor er merkt, dass die Antwort wohl doch etwas lahm war. Er rutscht auf seinem Stuhl herum, als sei ihm das, was er jetzt sagen würde, unangenehm.
»Ohne jetzt öko rüberkommen zu wollen, aber für mich war dieses Aso-Prügelspiel Double Dragon ein echter Wendepunkt.«
»Warum? «
Nick bläst mit seinem Strohhalm in die braune Brühe.
»Dass du Frauen mit einer Eisenkette vermöbeln konntest und die auch noch geschrien haben - das war einfach ein krasser Bruch zum süßen Wacka-wacka-Pac-Man-Gedöns.«
»Aber andere Games galten doch vorher schon als hart, Berzerk zum Beispiel. Apropos: Manche meinen ja, die Goldene Ära sei am 3-April 1982 zu Ende gewesen, als Peter Burkowski starb.«
Mein Begleiter schaut mich fragend an, anscheinend kennt er diese Story noch nicht, was mich dazu anstachelt, wirklich alle Details einzubauen, an die ich mich erinnern kann.
»Der Typ war in Illinois in eine Spielhalle reinmarschiert, hatte eine Viertelstunde lang Berzerk gezockt, zwei Highscores gebrochen und war dann auf der Stelle tot umgefallen. Herzkaspar, einfach so, mit gerade mal 18. Viele meinten damals, an diesem Tag hätten Telespiele ihre Unschuld verloren.«
Jetzt scheint Nick die Info auch in seinem Speicher gefunden zu haben, denn er fährt mir energisch in die Parade.
»Augenblick, Augenblick, der hatte doch eh einen Herzfehler. Außerdem gab's vorher - glaube ich - auch schon einen Toten; das Ganze ist also eine klassische Medienstory. Heute stirbt doch fast wöchentlich irgendein Irrer in Südkorea, weil er drei Tage am Stück vor Starcraft gehockt hat. Ich glaube nicht, dass solche Dinge irgendeine Bedeutung haben.«
Damit liegt Nick ganz und gar nicht auf meiner Wellenlinie. Und weil er das genau weiß, lässt er keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass er die Geschichte für eine wirre Aneinanderreihung von Zufällen hält, die allenfalls von einer großen FBI-Megaverschwörung zusammengehalten wird. Ich dagegen glaube fest an historische Wendepunkte, an denen viele Dinge, die eine Periode ausmachen, gleichzeitig eine neue Richtung bekommen. Musik, Filme, Spiele. Solche Kreuzungen erkennt man natürlich erst im Rückspiegel, aber dann umso deutlicher.
»Ich denke, der Umschwung kam 1986; das würde ja auch zu deiner Double Dragon-Theorie passen. Challenger, Tschernobyl, Sandoz ...«
»... nicht zu vergessen The Final Countdown von Europe«, grinst Nick. Unwillkürlich muss ich lachen.
»Alter, du nimmst mich einfach nicht ernst. Aber 1986 war einfach Schluss mit lustig, schau dir mal die Videogames vor-und nachher an: Ein Jahr vorher kam noch ein Harmlos-Titel wie Ghost'n'Goblins raus - und danach ein Hammer wie N.A.R.C., wo der Held durch eine urbane Wüste voller Junkies, Dealer und Killer läuft, die ihn mit gebrauchten Spritzen bewerfen.«
Nick scheint noch nicht ganz überzeugt zu sein.
»Stimmt schon, das war natürlich ein echter Kontrast zu dem entspannten Gameplay von Missile Command, wo im Sekundentakt die russischen Interkontinentalraketen auf dich runterregneten.«Touché. Schätze, mein Versuch, 1986 zum Brennpunkt der jüngeren Geschichte hochzustilisieren, war wohl geleitet von einschneidenden persönlichen Erfahrungen in diesem Jahr. Immerhin hat Nick langsam seine Sprache wieder gefunden, und nach einigen Schnorchelzügen aus seinem Frappuccino unterbreitet er seine eigene Theorie der Dinge: »Wenn du unbedingt den Zeitgeist da mit rein ziehen willst, halte ich Tetris für die bessere Wahl ...«
»...was ja auch 1986 rausgekommen ist.«
»Ja, aber nur für den damals noch elitären IBM-PC. Alle anderen Ports erschienen später, kurz vor der Wende. Wir reden also von einem Spiel, das ein russischer Ingenieur, Alexey Pajitnov, erfunden hat, und das kurz nach dem Fall der Mauer ...«
»... die bekannterweise hauptsächlich aus den länglichen I-Stangen und O-Blöcken bestand ...«.
bringe ich ihn aus dem Konzept. Nick lacht. Ich versuche, ihn wieder auf die Schiene zu setzen: »Was du sagen willst, ist, dass Tetris den Kommunismus zum Einsturz gebracht hat?«
»So ungefähr.«
Klingt plausibel.
»Auf Tetris als Ende der Goldenen Ära können wir uns einigen«, fasse ich zusammen.
»Das haben zum ersten Mal ganz andere Leute gezockt. Bis dahin waren Spiele ja Kinderkram. Für die Eltern waren Games reines Teufelszeug, das obendrein eine Sehnenscheidenentzündung hervorrief. Tetris hat diese Grenze niedergerissen, weil ab da einfach jeder gespielt hat. Ich weiß noch, als ich meinem Dad Weihnachten' 90 einen Gameboy geschenkt habe - danach hat er praktisch die gesamten Feiertage durchgezockt. Meine Mutter meinte noch, ich solle ihm nie wieder so etwas schenken.«
Gerade als Nick etwas sagen will, klingelt sein Telefon. Hektisch zupft er es aus der Brusttasche seiner Jacke und rennt zum Starbucks rein. Nach seinem hocherfreuten »Hi! « zu urteilen, scheint es keinen Todesfall zu geben.