#32 T-2: 17:40
Nick wirft nervös einen Blick auf seine Timex Datalink.
»Keine Sorge, wir werden erwartet.«
Ich mach mir keine Sorgen, Alter, aber du vielleicht? Erstaunlicherweise haben wir es gestern Abend noch geschafft, ohne Verletzungen von diesem Werbeschild runterzukommen. Den komatösen Suffschlaf danach beendete der Beifahrer heute Morgen um fünf mit seiner Standardansage »die Räder müssen rollen«, was sie dann auch taten. Einen halben Tag lang lotste er mich noch über irgendwelche Sträßchen, die natürlich schöne große Bögen um jedes Dorf mit mehr als zwanzig Einwohnern machten. Denn dort, so meinte er, könnten Webcams über der einzigen Ampelkreuzung lauern. Die Irrfahrt endete wie so oft im epischen Nichts. Eine kleine Windhose tanzt vor uns über den Acker. Jetzt, nach der Ernte, ist von der ehemals grünen Ebene nur noch eine Wüste aus Lehm und verdorrten Maisblättern übrig. Aus unserem Wagen, den Nick einfach mitten auf dem Weg geparkt hat, klingelt das unendliche Dingding-ding für Driver Door Open! und paart sich mit dem leisen Pfeifen des Windes. Für die perfekte High-Noon-Kulisse fehlt nur noch eine Wüstenrose, die in Zeitlupe über den Weg kullert. Zieh, Bübchen! Nick wischt sich mit der Hand über den schweißnassen Nacken und wirft einen besorgten Blick rüber zum Wagen. Wenn unser Kontaktmann nicht bald auftaucht, wird sich das Tape unterm Sitz bei der Bullenhitze bald aufrollen wie eine Luftschlange. Weit und breit keine Menschseele in Sicht, dabei ist mindestens zwölf Uhr, vielleicht auch schon halb eins. Unsere eigenen Schatten sind so winzig, dass sie nur knapp über die Fußspitzen hinausreichen. Die letzte Etappe bis zu unserem Zielort war reine Durchführung. Frühstück, tanken, auf die Straße, zweihundert Meilen runterreißen bis rein nach Montana. Dank Jetlag sind wir schon um fünf aus dem Bett gefallen, was dazu führte, dass wir um elf wieder Hunger kriegten - der reife Mensch braucht ja seine regelmäßigen Mahlzeiten, Essen ist der Sex des Alters. Also hielten wir an einem x-beliebigen Verschlag an, um ein Sandwich an Bord zu holen. Da hat Nick dann nochmal kurz telefoniert.
»May I use your phone - it's a local call«, hatte er die Dienst habende Mom gefragt. Er wollte unserem Kontaktmann Bescheid sagen, wir waren also fast am Ziel. Auf den letzten Meilen hat sich Nick dann noch eine Aktion geleistet, die balancierte mal wieder genau auf der Grenze zwischen lächerlich und gänsehautmäßig: Nach dem Sandwich-Stopp bestand er nämlich drauf, selbst zu fahren. Nachdem ich auf seine Seite rübergerutscht war und er hinterm Steuer kauerte, bat er mich ganz höflich, doch jetzt bitte die Augen zu schließen. Ich habe natürlich gefragt, was der Scheiß solle, aber er meinte nur ganz beiläufig, das sei eine »reine Vorsichtsmaßnahme« und sein Kontakt sei »recht sensibel«.
Das war wieder einer der Momente, in denen ich Angst habe, ihn bald in der Klapse für Tinfoil-Hats abliefern zu müssen. Selbstredend habe ich nur so getan, als würde ich die Augen zumachen, und den Rest der Route schön durch einen Sehschlitz mitverfolgt. Im letzten Kaff bog er auf eine Schotterstraße ab, dann ging es vorbei an zwei Farmen, und nach ungefähr drei Meilen waren wir angekommen im Nirgendwo. Die Leute denken ja immer, in Montana sähe es aus wie bei »In der Mitte entspringt ein Fluss«, mit dichten Wäldern und netten Flüsschen zum Fliegenfischen et cetera. Tut es aber nur in der westlichen Hälfte des Staates, da, wo die Rockies anfangen. Der Rest von Montana ist absolut stinklangweiliges Farmland, platt und öde, nur unterbrochen von Dörfchen, denen seit Jahrzehnten die Einwohner weglaufen. Da stehen wir also, mitten in der Agrarwüste, direkt unter einem großen Tor aus Baumstämmen, das den Eingang zu einer Ranch markiert. In den obersten Balken hat jemand mit einem Lötkolben ein paar wackelige Buchstaben reingebrannt:
BRUDERHOF
Das klingt ungut. Genauso ungut, wie die Farm aussieht. Von hier sind nur ein paar graue Flachbauten mit rotem Giebeldach und erstaunlich wenig Fenstern zu erkennen. Die sehen eher wie eine neu gebaute Kaserne aus als wie ein Bauernhof, ein bisschen auch wie eine der geheimen Farmen aus »Akte X«, wo diese außerirdischen Killerbienen gezüchtet werden oder was auch immer. Bruderhof, seltsam. Nachher hocken da drüben irgendwelche Nazis, die den Staat hassen und uns mit ihrem Scharfschützengewehr ein Dum-dum-Geschoss in den Kopf jagen, weil sie denken, dass wir vom FBI sind.
»Was sind'n das für Freaks hier, Alter?«, erkundige ich mich.
»Warts ab«, zischt Nick zurück. Verschwiegen bis zum Schluss, der Gute. Er schaut wieder auf die Uhr, dann hält er sich die Hand schützend vor die Stirn und lässt den Blick über den Horizont schweifen. Auf einmal reißt er den anderen Arm hoch und fängt an, wild zu winken.
»Da! Er kommt.«
Tatsächlich ist am Ende der Schotterstraße ein winziger Punkt aufgetaucht. Nick mag ja grundsätzlich auch keine Menschen, da geben wir uns nichts. Seit der Schule hat er original keinen einzigen Freund neu dazugewonnen. Sicher, da gab es diese Kiffbrüder, mit denen er während des Studiums abhing, aber die hätte er niemals im Leben als Freunde bezeichnet. Bei mir sieht es natürlich nicht anders aus. Außer Familie und Schulfreunden hat es niemand in die Datei mit den Kontakten geschafft. Diagnose: Seit uns der Direx das Abizeugnis in die Hand gedrückt hat, steht unsere Welt -sozial gesehen - still. Etwas verschroben, sicher, aber der Beifahrer meinte, das sei halt so wie mit den alten Games: »Wenn du weißt, was du magst, warum dann weiterziehen?«
Never change a running system, das war auch immer sein Motto bei Sozialkontakten. Nach dem Abi hatte er alle Rollen besetzt, es bestand also kein Anlass, nach weiteren Lebens-Komparsen zu suchen. Genau das macht die Sache hier so interessant. Wenn Nick um die halbe Welt jettet, um sich mit jemandem zu treffen, und denjenigen obendrein vorher anruft, um einen Termin auszumachen, muss dieser Mensch wirklich etwas Besonderes sein. Der schwarze Punkt springt hoch und runter, unser Kontaktmann scheint den Weg zu uns zu rennen. Über die Kollegen bei der Datacorp verliert Nick normalerweise kein Wort, alles andere wäre in den Augen eines überzeugten Business-Kaspers wahrscheinlich unprofessionell. Außerdem lästern gute Menschen wie Nick nicht. Da muss schon ein aggressiver Unsympath wie Shaun kommen, um ihn so weit zu bringen, dass er ein paar Seitenhiebe austeilt. Den hat er mal als »the Fabio of IT« abgekanzelt, obwohl Andie direkt danebenstand. Sie musste voll lachen und hat sich verschämt die Hand vor den Mund gehalten - als wäre sie die Queen und jemand hätte gerülpst. Fabio ist ein zweitklassiger Bodybuilder, den kennt hier in den Staaten fast jeder - so ein supercheesy Typ mit langer blonder Mähne, der früher auf Kitschromanen für Frauen abgebildet war und mittlerweile Werbung für Diät-Margarine schiebt. Nick hastet zum Auto rüber, um das Tape unterm Sitz hervorzuholen, dabei löst er seinen Blick keine Sekunde vom Horizont. Durch die Luftspiegelungen über dem Weg sieht es kurz aus, als würden zwei Personen auf uns zujoggen. Lebens-Komparsen klingt natürlich erst mal hart, trifft es trotzdem ganz gut. Denn wirklich ernst nimmt Nick niemanden. Er ist zwar immer superfreundlich zu allen, grüßt brav und vergisst keine Geburtstage, doch tief in sich drin sind die Leute für ihn Luft. Wenn er jemanden neu kennen lernt, braucht er mit demjenigen nur fünf Minuten zu reden, und schon hat er ihn einsortiert: Er weiß, was ihn antreibt, wo sein geistiger Horizont endet, welche intellektuelle Stimulation von ihm zu erwarten ist. Und im Kopf geht Mister Spocks Daumen dann meist nach unten. Mit dem ist nichts anzufangen. Das provoziert natürlich die alles entscheidende Frage: Warum hängt er ausgerechnet mit mir ab? Ist wohl das letzte Rätsel der Menschheit. Da, jetzt kann man den Typen richtig erkennen. Komisch, auf die Entfernung sieht er wie ein Kind aus.
»Niklas!«
Unglaublich, der Hosenscheißer hat ihn tatsächlich mit seinem echten Vornamen angesprochen! Was für eine Provokation. Und dann schüttelt er ihm auch noch ganz locker die Hand, so, als wären Nick und er schon seit Jahren dicke Freunde.
»Ist ja schon eine Ewigkeit her«, sagt er, ein bisschen außer Atem. Seine Stimme leiert unentschlossen zwischen den Tonlagen rum. Na, da naht wohl der Stimmbruch. Hier stimmt einiges nicht. Punkt eins: Was ist das überhaupt für ein Vogel? Ich hatte den üblichen IT-Schrat mit grauem Pferdeschwanz erwartet - einen dieser alten Säcke, von denen es in der Legacy-Branche so wimmelt. Aber der Typ hier sieht eher aus, als könnte er zusammen mit dem Sandwich-Künstler von gestern auf die Highschool gehen. Wie alt wird er sein? Maximal fünfzehn und damit deutlich zu jung, um in der Vergangenheit zu leben. Meine Anwesenheit passt ihm jedenfalls nicht. Sieht man daran, wie seine blauen Augen hinter der billigen Metallbrille unruhig hin-und herwandern, um mich nicht anschauen zu müssen. Warum schwitzt der nicht? Sein Outfit sieht aus, als müsste er jeden Moment einen Hitzschlag kriegen: Die schlaksigen Arme stecken in einem hellgrauen Langarmhemd, das er schön bis zum Hals zugeknöpft hat. Über die Schultern spannen sich Hosenträger, die seine schwarze, viel zu große Arbeitshose daran hindern, auf den Boden zu fallen. Er trägt Sandalen und - als ob ihm noch nicht warm genug wäre -schwarze Socken. Der Sommer scheint völlig von ihm abzuprallen. Seine Wangen leuchten so kalkweiß, als würde er unter der Erde leben. Vielleicht tut er das ja auch, bei Muttern im Keller. Punkt zwei: Mit der Art, wie er spricht, stimmt was nicht. Es klingt zwar erst mal nach Deutsch mit heftigem amerikanischem Akzent, doch drunter schwingt noch was anderes mit, ein Dialekt, österreichisch vielleicht. Er hat die »Ewigkeit« zu einem breiten »Ewigkääit« gedehnt. Genau - er klingt original wie Arnold Schwarzenegger! Nick zumindest scheint über den Auftritt des Pupsis kein bisschen überrascht zu sein. Alter und andere Äußerlichkeiten beachtet er ja ohnehin nicht, das muss man ihm echt zugutehalten. Er pumpt jedenfalls erst mal ausgiebig die Hand seines Kumpels, kommt dann aber schnell zur Sache. Die Herren haben wohl schon zu einem früheren Zeitpunkt eine tiefere Geek-Connection aufgebaut. Nick reicht ihm das Tape rüber. Der Dreikäsehoch wirft einen professionellen Blick drauf.
»Eine Quarter-Inch-Cartridge, für den Piftyone-Ten, nehme ich an.“ Das »an“ walzt er zu einem »ooaahn“ aus.
»Korrekt“, gibt Nick kurz zurück. Im Gegensatz zu seinem Gegenüber ölt er wie ein Schwein vor sich hin. Kleine Schweißbäche bahnen sich aus seinem Haaransatz ihren Weg die Schläfe runter. Erst jetzt, nachdem er den Grund für das Treffen präsentiert, hält es der Beifahrer für nötig, mich vorzustellen.
»By the way: Das ist Kee, er arbeitet auch für die Company.«
Der Winzling hält mir seine Hand hin, und ich versuche, das wabbelige Knochengestell so kurz wie möglich zu drücken. Der Kleine hat kein bisschen Handschweiß, unfassbar.
»Freut mich«, sagt er.
»Mich auch«, sage ich. Er fixiert meine Pupillen, zuckt aber schon nach einer halben Sekunde zurück und schaut auf den Boden. Immerhin, dieser In-die-Augen-starr-Wettbewerb ging an mich. Kee - eins, unbekannter Nerd-Kumpel von Nick -null! Der Hosenscheißer dreht die Kassettenhülle etwas verlegen hin und her.
»Ich nehme an, die nationale Sicherheit steht mal wieder auf dem Spiel?«, feixt er. Das hätte er natürlich nicht sagen dürfen. Das war ein schwerer Verstoß gegen die Datacorp-Regeln. Dank seiner Indiskretion weiß ich jetzt, dass er und Nick bei seinem letzten Einsatz hier oben zusammengearbeitet haben, als die Rechner in der Atomraketen-Basis ab geraucht waren. Dabei habe ich nicht dasneed to know! Wäre der Kleine auch bei der Company angestellt, hätten sie ihn dafür rausgeworfen. Der Beifahrer tut so, als habe er nichts bemerkt, dabei wurmt es ihn innerlich, dass jemand die Vorstellung in seinem Vertraulichkeitszirkus so jäh unterbrochen hat.
»Wissen wir noch nicht. Kannst du das Tape lesen?«
Der Typ nickt kurz. Dann wechselt er das Standbein und stützt sich mit der Hand ziemlich ungelenk in der Hüfte ab, als wüsste er nicht, wohin mit seinen Gliedmaßen. „Sure. Aber der Fiftyone-Ten ist nicht auf dem Bruderhof, sondern in der alten Scheune, you know. Wir können uns da treffen, wenn das Abendgebet, aäh, ist vorbei.«
Okelidokeli, Ned Flanders. Jetzt rück das Tape wieder raus, damit wir endlich abdampfen können. Ich brauche Fahrtwind! Nick scheint es auch eilig zu haben, denn er reißt seinem Kontaktmännchen die Kassette förmlich aus der Hand.
»Sehr schön. Dann sehen wir uns um ... «
Er schaut seinen Gegenüber fragend an. „... ten p. m., dann sind wir sicher«, ergänzt der Junge und dreht sich um. Sicher wovor?