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Kaniũrũ spürte große Erleichterung. Jetzt war sein Reichtum geschützt. Sein Geld war außerhalb der Reichweite seiner Feinde, wer auch immer sie waren oder wo sie sich befanden. Er war so mit der Leichtigkeit seines Seins beschäftigt, dass er, als ihm die Frau, die ihn vorhin empfangen hatte, ein Stück Papier gab, es einfach nahm, in die Tasche steckte und ohne ein Dankeschön, einen Blick oder ein Wort davonging. Allein dem Herrn der Krähen gegenüber empfand er eine ungeheure Dankbarkeit. Der Mann ist ein wahrer Zauberer, sagte Kaniũrũ sich immer wieder und wunderte sich, wie viel der Hexendoktor über ihn und seinen Zustand wusste. Und dass er keine Bezahlung verlangt hatte, bewies seine Echtheit umso mehr. Die Scharlatane wollen immer nur nehmen, die Echten geben lieber. Nicht weniger erstaunlich war, wie der Herr der Krähen es geschafft hatte, seine Ängste zu beschwichtigen. Abgesehen von dem Augenblick, in dem er den Zauberer über seine Krankheit belogen hatte, war Kaniũrũ ganz im Reinen mit sich und hatte mit dem Zauberer gesprochen, als hätten sie sich schon einmal gesehen und würden ihre Bekanntschaft nur erneuern. Doch schob er die Möglichkeit einer früheren Begegnung schnell beiseite und schrieb die Leichtigkeit und Vertrautheit ihrer Unterhaltung den wahrsagerischen Fähigkeiten des Zauberers zu.

Er schlief kaum in dieser Nacht. Sein ganzer Körper war angespannt vor Freude, Erleichterung, Hoffnung und Eigenlob über die gelungene Täuschung. Er hatte sogar den Herrn der Krähen übers Ohr gehauen, glaubte er.

Doch das Gesicht des Herrn der Krähen erschien weiterhin vor seinem inneren Auge. Es tanzte durch sein Denken, als wollte es seine schlummernden künstlerischen Instinkte wecken. Schon in der Schule waren Porträts seine Stärke gewesen; sein Gedächtnis war ein Warenlager der unterschiedlichsten Gesichter, denen er je begegnet war. Mittlerweile machte er sich jedoch über die Kunst als Mittel zum Erreichen materiellen Wohlstands keine Illusionen mehr; sein Gedächtnis hatte an Klarheit und Schärfe eingebüßt.

Nun drehte und wendete er das Gesicht des Herrn der Krähen in seiner schöpferischen Phantasie. Es gab Momente, in denen ihm das Gesicht erschien, wie es während der Weissagung gewesen war. Dann aber, im Zustand zwischen Schlafen und Wachen, sah er, wie es über den Straßen von Eldares schwebte und ihm zurief: Komm, folge mir, und ich mache dich zum Fischer von allem: Bäumen, Besitz, Menschen, Männern und Frauen. Ja, vor allem Frauen …

Er dachte an die Frau, die ihm das Papier gegeben hatte. Was hatte es damit auf sich und was stand darauf? Er war zu faul, aufzustehen und es aus der Jackentasche zu holen. Doch weil er nicht einschlafen konnte, schlüpfte er aus dem Bett, machte Licht und las die Überschrift: „Die Sieben Kräuter der Tugend“. Über diesen Hexendoktor konnte man sich endlos wundern: Wollte er sich wirklich um die Tiere und Pflanzen und sogar um die Insekten kümmern? Wie komisch! Ein Hexendoktor, der sich um alles Leben sorgt, das ihn umgibt? Ein moderner Hexendoktor, ein Hexendoktor mit Umweltbewusstsein, sagte er, gähnte und ging wieder ins Bett.

Er träumte vom Herrn der Krähen und von sich, wie sie sich gegenseitig durch einen Wald jagten. Einmal war er, Kaniũrũ, es, der den Herrn der Krähen verfolgte. Dann wieder der Herr der Krähen, der ihm nachjagte, und wo immer Kaniũrũ versuchte, sich zu verstecken und etwas Luft zu holen, sprach ein Baum zu ihm: Sieh sieben Mal in den Spiegel deines Herzens!

Am Morgen stand er auf, ging zum Spiegel im Bad und sprach sieben Mal den Spruch des Zauberers. Die Worte hallten in den Windungen seines Kopfes, als hätte es ein eigenständiges Leben und würde sich selbst Geltung verschaffen. Die Magie schien zu wirken. Sieben. Die Sieben Kräuter der Tugend. Das Wort spielte ihm weiter einen Streich. Manchmal tauchte das Wort „sieben“ am Ende eines Satzes auf: Die Kräuter der Tugend sind sieben. Manchmal stand es am Anfang: Sieben waren die Kräuter der Tugend – Grace. Sieben Tugenden. Seven Grace. Grace Mũgwanja. Grace Mũgwanja?

Nyawĩra hieß Grace Mũgwanja. War das möglich? Er fühlte sich wie gelähmt von den Gedanken, die jetzt in ihm aufstiegen. Hatte der Herr der Krähen vielleicht versucht, ihm etwas über Nyawĩra zu übermitteln? Dass es möglich war, Nyawĩra zu finden? Sieben Kräuter der Tugend. Grace. Sieben. Grace Mũgwanja. Die verschiedenen Gesichter des Herrn der Krähen schwebten um ihn herum. Er war jetzt sicher, das Gesicht schon früher gesehen zu haben. Es war das Gesicht des Mannes, der sich vor den Toren des Paradise in einen Bettler verwandelt hatte.

Kaniũrũ war so durcheinander, dass er sich gegen die Wand des Badezimmers stützen musste, um nicht zu fallen. Der Mann war kein gewöhnlicher Zauberer. Er gehörte zu den Dschinns, die angeblich eine besonders mächtige Magie ausüben. Das erklärt, warum er alles über mich wusste, obwohl er mich noch nie gesehen hat. Er wusste sogar über das Drama in meinem Herzen Bescheid! Deshalb hat er auch gefragt, ob eine Frau mein Herz gefangen hält. Kaniũrũ wurde wütend, als er sich jetzt seine Antwort ins Gedächtnis rief: Er sei, obwohl er sie suche, nicht ihretwegen zum Schrein gekommen.

Je mehr er über diese ungewöhnliche Unterredung nachdachte, desto klarer wurde, dass der Herr der Krähen versucht hatte, seine Gedanken auf Nyawĩra zu lenken. Der Mann hatte so gut wie zugegeben, Nyawĩra zu kennen. Und tatsächlich: Jetzt fiel es Kaniũrũ wieder ein. Er hatte gesehen wie sich Nyawĩra und dieser Mann in der Seitenstraße gleich neben Tajirikas Büro angeregt unterhielten. Und im Video hatte Tajirika ausgesagt, es sei Nyawĩra gewesen, die den Besuch im Schrein des Herrn der Krähen vorgeschlagen habe. Der Herr der Krähen hatte seine Hilfe angeboten. Er hätte das Angebot annehmen sollen.

Ihm kam eine Idee. Durch die Macht seines Spiegels würde es dem Herrn der Krähen nicht schwerfallen, Nyawĩra zu finden. Je mehr er über die erstaunlichen Weissagungskräfte nachdachte, deren Zeuge er geworden war, desto deutlicher wurde, dass der Zauberer die einzige Person in ganz Aburĩria war, die Nyawĩras Verhaftung herbeiführen konnte. Die Lösung starrte ihm direkt ins Gesicht. Die Regierung musste den Herrn der Krähen mitsamt seinem Spiegel in Anspruch nehmen, um Nyawĩras Aufenthaltsort herauszubekommen.

Und er, Kaniũrũ, könnte mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Nyawĩra würde verhaftet werden. Und der Herr der Krähen bekäme eine Auszeichnung, weil er ihre Verhaftung ermöglicht hatte – Kaniũrũs Beweis für seine Dankbarkeit gegenüber dem Herrn der Krähen, der sein Leben und seinen Besitz gesegnet hatte, ohne etwas dafür zu verlangen. Und am wichtigsten: Kaniũrũ würde den gesamten Gewinn einfahren, der aus Nyawĩras Verhaftung entstand. In seinem Kopf formte sich ein Lied:

Worauf wartest du?

Worauf wartest du?

Dies ist der Moment.

Worauf wartest du noch?

Kaniũrũ ging zum Telefon, wählte die Nummer Sikiokuus und erhielt die erwünschte Antwort. Der Minister schickte ihm seinen Fahrer, um ihn durch den morgendlichen Verkehr zu chauffieren.

Herr der Krähen
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