7

Sogar Machokali, Sikiokuu und Kaniũrũ hatten das Gefühl, Zeugen eines Todesurteils geworden zu sein. Tajirika würde man nicht mehr lebend zu Gesicht bekommen, und das ließ sie dankbar sein, weil ihr eigenes Leben verschont geblieben war. Kaniũrũ beglückwünschte sich zu seiner Kunst des Lügens, die er auf seinen gewitzten Verstand zurückführte, der so anders war als der Tajirikas. Der war ein Idiot, dessen Lügen danach schrien, als solche erkannt zu werden.

Machokali und Sikiokuu dachten dasselbe. Beide wussten, dass auch Kaniũrũ gelogen hatte. Aber er hatte zumindest geschafft, das vernünftig zu vertuschen.

Trotzdem wurde ihre Freude von der Angst getrübt, am Ende selbst noch in die Falle zu gehen. Im Schweigen, das auf Tajirikas Abgang in Begleitung von bewaffneten Polizisten folgte, war jeder mit Gedanken beschäftigt, wie er die eigene Haut auf Kosten der beiden anderen retten konnte.

Wieder war es der Herrscher, der das Schweigen brach.

„Sikiokuu“, rief er, „du weißt doch sicherlich, dass ein guter Schäfer eine Hyäne erkennt, auch wenn sie sich unter einem Schaffell verbirgt?“

„Jawohl, Eure Allmächtige Vortrefflichkeit“, antwortete Sikiokuu beflissen, weil er glaubte, der Herrscher werde nun Kaniũrũ entlarven. „Der Herrscher sei gelobt für seine große, angeborene Weisheit“, fügte er hinzu.

„Sie ist direkt von Gott gegeben“, meinte Kaniũrũ.

„Entspringt aber zugleich seinem eigenen Streben“, fuhr Sikiokuu fort, dem Kaniũrũs Versuch missfiel, in sein Loblied einzustimmen. „Er trägt alles Bücherwissen in sich.“

„Er ist der wahre Spender des Wissens“, tönte Kaniũrũ, „und der Lehrer der Lehrer, der größte unter den Lehrern. Der Herrscher ist die Quelle allen Wissens in der Welt.“

„Das reicht jetzt“, unterbrach sie der Herrscher und tat so, als ärgerte er sich über ihre Ausschweifungen. „Es ist nicht gut, jemanden in Anwesenheit zu loben; das könnte ihn in Verlegenheit bringen.“

„Ich teile diese Empfindung, Eure Allmächtige Vortrefflichkeit“, sagte Sikiokuu. „Oh, Sie sollten mich hören, wenn Sie nicht zugegen sind, dann singe ich das Lob auf Ihre Gaben am ungezügeltsten.“

„Auch ich lobpreise Sie, jederzeit, wo immer ich bin“, schmeichelte Machokali, der nicht zurückstehen wollte.

„Tief in meinem Herzen“, schwärmte Kaniũrũ, „kenne ich keine höhere Berufung, als allzeit Lob auf Sie zu singen und Ihre Taten zu preisen. Ich habe einmal mein eigenes Herz belauscht, wie es sagte: Wenn Gott und der Herrscher einmal nebeneinander stünden, und ihnen flögen gleichzeitig die Hüte weg, dann würde ich zuerst den Hut des Herrschers aufheben, und ohne dass ich es bemerkte, hatte ich laut gesagt: Halleluja, gelobet sei mein Herr und Gott bis in alle Ewigkeit, Amen.“

„Ich werde es verbieten, dass man mich immerfort mit Gott auf ein Podest stellt“, sprach der Herrscher mit gespielter Bestimmtheit.

„Dann würden Sie aus jedem Bürger einen Gesetzesbrecher machen, denn das wäre ein Gesetz, welches das Volk nie und nimmer befolgen könnte“, gab Sikiokuu zurück.

„Und ich bin dir dankbar, dass du die Sache auf den Punkt gebracht hast, Sikiokuu“, sprach der Herrscher, „denn einige Leute haben, wie du weißt, meine Gesetze gebrochen, und ich bin fest entschlossen, sie zu zermalmen. Du bist ein guter Hirte, Sikiokuu, und während wir darauf warten, dass Tajirika mit dem Bericht über seine Feldarbeit zurückkommt, solltest du uns bitte erzählen, was du unternommen hast, diese Nyawĩra zur Verantwortung zu ziehen.“

Sikiokuu hatte gehofft, der Herrscher wäre inzwischen vom Fall Nyawĩra abgekommen, weil ihn die ausführlichen Berichte über den Schlangenwahn und den Hochverrat schockierten.

„Ach, diese Frau“, sagte er und räusperte sich. „Das haben wir bald. Ich warte noch einige Dinge ab, bevor ich zuschlage.“

„Was für Dinge?“

„Spiegel und ihre Benutzer.“

„Ihre Benutzer?“

„Ja, deren Benutzer. Ich nenne ihn den Deuter. Ich habe in Japan, Italien, Schweden, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den USA Spiegel bestellt“, berichtete Sikiokuu begeistert, als wüsste der Herrscher alles über seine Pläne. „Die besten und geeignetsten Spiegel für dieses Vorhaben, weil sie nicht mit meinen Schatten kontaminiert sind.“

„Sikiokuu, are you okay?“, fragte der Herrscher. „Ich meine, so im Kopf?“

„Danke, mir geht es gut. Ich fühle mich großartig. Der Deuter ist die Verbindung zwischen dem Spiegel und Nyawĩra.“

„Und wer ist er, dieser Deuter?“

„Der Herr der Krähen.“

„Der Herr der Krähen?“, fragte er nach.

„Der Mann schaut in einen Spiegel und sieht viele Dinge, die dem gewöhnlichen Auge verborgen bleiben.“

Diese Eröffnungen ließen den Herrscher zusammenzucken wie jemanden, der sich voller Zuversicht auf einen Weg begibt, von dem er glaubt, dass er frei von Hindernissen ist, und sich plötzlich einen Stachel eintritt. Sikiokuus leidenschaftliches Bekenntnis zu den Fähigkeiten des Zauberers brachte ihn aus der Fassung. Er tat sein Möglichstes, das nicht zu zeigen, indem er sich zurücklehnte und die Augen schloss. Einen Augenblick lang fand er sich in einem New Yorker Hotelzimmer wieder, in dem er, wie in einem Traum, einen menschlichen Schatten zu erkennen glaubte, der ihn aufforderte, konzentriert in einen Spiegel an der Wand zu schauen.

Sikiokuu ahnte nicht, dass seine Worte den Herrscher bis ins Mark getroffen hatten. Er hatte gehofft, die Verfolgung Nyawĩras würde den Herrscher von seinem eigenen Versagen ablenken, und ließ sich daher weiter enthusiastisch über die Fähigkeiten des Zauberers aus.

„Ich glaube, der Mann besitzt die Gabe des Hellsehens und kann den Menschen in die Herzen schauen“, fügte Sikiokuu hinzu.

„Wo hast du diesen Hexenmeister aufgetrieben?“, fragte der Herrscher, der die Augen immer noch geschlossen hatte.

„Hier. In Eldares, Aburĩria.“

„Wann?“, fragte der Herrscher, setzte sich auf, öffnete die Augen und sah Sikiokuu scharf an.

„Bevor er nach Amerika fuhr“, sagte Sikiokuu. „Ich habe von den Gaben des Zauberers erstmals von Leuten gehört, die behaupteten, er könne in Spiegeln lesen wie in einem Buch.“

„Ich möchte dich daran erinnern, dass ich es war, der dich davon in Kenntnis setzte“, warf Kaniũrũ ein, der den Ruhm ernten wollte, aber Sikiokuu beachtete ihn nicht.

„Alle meine Vorbereitungen zur Verhaftung dieser Frau liefen hervorragend, bis uns aus Amerika die Nachricht Ihrer Erkrankung erreichte. Als man mir mitteilte, der Herr der Krähen werde dort gebraucht, sagte ich mir, die Festnahme Nyawĩras muss warten, bis der Herr der Krähen zurückkommt. Aber jetzt habe ich ein Problem: Die Spiegel werden in Kürze eintreffen, doch ihr Benutzer ist nirgends zu finden.“

Die Geschichte ließ im Herrscher Befürchtungen aufsteigen. Was wusste der Zauberer, falls er wirklich erkennen konnte, was dem gewöhnlichen Auge verborgen war, über die Schwangerschaft des Landes, nein, des Herrschers. Und warum hatte er sein Wissen Machokali anvertraut, statt … Er wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, denn plötzlich jagte es ihm erneut einen fürchterlichen Schreck ein, womöglich mit einer Frau verglichen zu werden. Dieser Zauberer musste zum Schweigen gebracht werden.

„Wo ist er? Wo steckt dieser Herr der Krähen?“, fragte der Herrscher zornig.

„Ich weiß nicht, wo er ist. Seit er nach Amerika geflogen ist … vielleicht könnte Machokali …“, versuchte Sikiokuu die Schuld am Verschwinden des Zauberers auf Machokali abzuwälzen.

„Er ist nicht in Amerika“, sagte Machokali knapp und machte damit klar, dass er nicht in diese Angelegenheit verwickelt werden wollte.

„Er ist nicht in Aburĩria. Und er ist nicht in Amerika. Wo steckt dieser Zauberer?“, klagte der Herrscher. „Irgendwo auf dieser Erde muss er ja sein.“

Der Herrscher war plötzlich von diesem Thema erschöpft, weil es ihn von momentan dringlicheren Dingen ablenkte. Er starrte vor sich hin, voll und ganz mit der Frage beschäftigt, was Tajirika ihm bringen und was er mit ihm machen würde, falls er mit leeren Händen zurückkehrte.

Machokali, der die ganze Zeit vermutet hatte, dass es zwischen Sikiokuu und dem Herrn der Krähen eine Verbindung gab, empfand eine hämische Freude bei dem Gedanken an die Polizeieinheit, die der Herrscher losgeschickt hatte, um die Dollars auszugraben. Und je wütender der Herrscher auf den Herrn der Krähen wurde, desto wütender würde er auf Sikiokuu sein, sobald die Intrige zwischen dem Minister und dem Hexer aufflog.

„Was den Aufenthalt des Zauberers angeht“, sagte Machokali, „so ist das nicht weiter wichtig. Denn was Sie getan haben, Eure Allmächtige Vortrefflichkeit, indem Sie drei Polizisten ausschickten, den vergrabenen Schatz zu heben, ist ein Akt unergründlicher Weisheit und Voraussicht, denn auch wenn die Dollars nicht gefunden werden sollten, so wird das dennoch die Lügen dieses Mannes und seiner Helfershelfer enthüllen.“

„Welches Mannes? Welche Lügen? Die Lügen, die uns Ihr Freund Tajirika aufgetischt hat, oder die des Herrn der Krähen?“, fragte Kaniũrũ schadenfroh.

„Seit wann bist du ein Verfechter der Wahrheit?“, wollte Sikiokuu wissen.

Es folgten kindische Rechthabereien, wobei jeder versuchte, das letzte Wort zu haben. Es wird erzählt, dass sie sieben Tage und Nächte so weitermachten, bis ihre Stimmen versagten und sie nur noch so leise flüstern konnten, dass sie einander nicht mehr hörten. Nur durch die Bewegungen der Adern an Hals und Stirn und dem automatischen Öffnen und Schließen des Mundes machten sie noch aus, was der jeweils andere gerade sagte.

Der Herrscher aber blieb, wie er war, achtete nicht auf ihr Rededuell und hielt den Kopf in die rechte Hand gestützt, auch dann, wenn er ab und zu auf die Uhr sah. Er wartete auf eine Stimme aus dem Grasland, die ihm den Ausgang der Jagd nach den vergrabenen Dollars verkündete.

Herr der Krähen
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