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Jeder im Land wusste also das eine oder das andere über den Geburtstag des Herrschers, denn bevor er unverrückbar im nationalen Kalender festgeschrieben wurde, hatte es über sein Geburtsdatum und die Art, wie dieser Tag gefeiert werden sollte, eine hitzige Parlamentsdebatte gegeben, die sieben Monate, sieben Tage, sieben Stunden und sieben Minuten gedauert hatte. Selbst dann hatten sich die ehrenwerten Abgeordneten noch nicht zu einer Entscheidung durchringen können, weil niemand das genaue Geburtsdatum des Herrschers kannte, und als sie keinen Ausweg mehr wussten, sandten die ehrenwerten Abgeordneten eine Delegation direkt zum Sitz der Macht, um weisen Ratschlag einzuholen. Nachfolgend schickten sie dem Herrscher dann eine Dankbarkeitsnote, weil er der Kammer geholfen hatte, die Lösung für ein Problem zu finden, das ihre versammelte Erfahrung und ihr geeintes Wissen überstieg. Die Geburtstagsfeierlichkeiten sollten von nun an immer in der siebten Stunde des siebten Tages im siebten Monat des Jahres beginnen, weil sieben die heilige Zahl des Herrschers war. Und gerade weil in Aburĩria der Herrscher die Abfolge der einzelnen Monate bestimmte – der Januar konnte zum Beispiel mit dem Juli den Platz tauschen – verfügte er demzufolge über die Macht, jeden Monat eines Jahres zum siebten Monat zu erklären, und jeden beliebigen Tag in diesem Monat zum siebten Tag und damit zu seinem Geburtstag. Dasselbe galt für die Uhrzeit. Jede Stunde konnte, ganz nach den Wünschen des Herrschers, zur siebten Stunde werden.
Diese jährlichen Jubelfeiern waren immer unterschiedlich gut oder schlecht besucht, aber in diesem besonderen Jahr war das Stadion fast voll, weil die Bürger durch eine Sondermeldung neugierig geworden waren, die unablässig durch die Medien gegangen war. Es sollte einen ganz besonderen Geburtstagskuchen geben, den das gesamte Land für seinen Herrscher gebacken hatte und den er vielleicht vermehren würde, um – wie einst Jesus mit den fünf Broten und den beiden Fischen – die Massen zu speisen. Die Aussicht auf Kuchen für die Massen mag erklären, warum so viele Kwashiorkor-Kranke anwesend waren.
Die Feierlichkeiten begannen zur Mittagszeit und waren auch noch am Spätnachmittag in vollem Gange. Die Sonne trocknete den Menschen die Kehlen aus. Der Herrscher, seine Minister und die Führer der Ruler’s Party, die sich allesamt unter einem Baldachin befanden, netzten sich die Zungen mit kühlem Wasser. Die Bürger, denen weder Baldachin noch Wasser zur Verfügung standen, lenkten sich von den brennenden Sonnenstrahlen ab, indem sie beobachteten, was auf der Bühne vor sich ging. Sie machten Bemerkungen über die Kleider, die die Würdenträger trugen, wie sie sich bewegten oder welchen Platz der Einzelne im Verhältnis zum Zentrum der Macht zugewiesen bekommen hatte.
Unmittelbar hinter dem Herrscher stand ein Mann, der einen Stift von der Dicke eines zollstarken Wasserschlauches in der Rechten hielt und ein riesiges, in Leder gebundenes Buch in der Linken. Weil er ständig schrieb, dachten die Leute, er sei von der Presse, auch wenn sich einige fragten, warum er dann nicht auf der Pressetribüne Platz genommen hatte. Neben diesem saßen die vier Söhne des Herrschers – Kucera, Moya, Soi und Runyenje – und tranken beflissen aus Flaschen mit der Aufschrift „Diät“.
Neben den Söhnen saß Dr. Wilfred Kaboca, der Leibarzt des Herrschers, und neben ihm die einzige Frau auf dem Podium, die schon dadurch auffiel, dass sie schwieg. Einige nahmen an, sie sei eine Tochter des Herrschers, stellten sich dann aber die Frage, warum sie sich nicht mit ihren Brüdern unterhielt. Andere mutmaßten, sie sei Dr. Kabocas Frau. Warum aber herrschte dann dieses Schweigen zwischen den beiden?
Dem Herrscher zur Rechten saß der Außenminister in dunklem Nadelstreifenanzug und mit einer roten Krawatte mit dem Bildnis des Herrschers, dem Emblem der Ruler’s Party.
Wie erzählt wird, war Markus anfangs ein ganz gewöhnlicher Parlamentsabgeordneter. Eines Tages flog er nach England, wo er im grellen Schein der Öffentlichkeit ein berühmtes Londoner Krankenhaus betrat. Nicht weil er krank war, sondern weil er sich die Augen vergrößern lassen wollte, um seinen Blick auf das Außerordentlichste zu schärfen. Oder, wie er es in Kiswahili ausdrückte: Yawe Macho Kali – damit sie die Feinde des Herrschers ausmachen konnten, egal wie weit entfernt ihre Verstecke auch lagen. Zur Größe von Glühlampen aufgeblasen, waren die Augen nun das herausragende Merkmal seines Gesichts und ließen Nase, Wangen und Stirn wie die eines Zwerges erscheinen. Der Herrscher war von seiner Ergebenheit und der öffentlichen Zurschaustellung seiner Loyalität derart gerührt, dass er ihm, noch bevor der Abgeordnete aus England zurückkehrte, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten übertrug, einen überaus wichtigen Posten im Kabinett, damit Machokali überall stellvertretend für ihn sein waches Auge haben würde, in welchem Winkel des Erdballs auch immer die Interessen des Herrschers zu verfolgen waren. Und so wurde Machokali aus ihm, und im Laufe der Zeit vergaß er sogar den Namen, den man ihm bei seiner Geburt gegeben hatte.
Links vom Herrscher saß ein anderes Kabinettsmitglied: der Staatsminister im Büro des Herrschers, in einem weißen Seidenanzug, ein rotes Taschentuch in der Brusttasche und selbstverständlich ebenfalls mit Parteikrawatte. Auch er hatte als wenig herausragender Abgeordneter angefangen und wäre vermutlich nie über die Hinterbank hinausgekommen, wenn er nicht, als er vom Glück hörte, das über Machokali gekommen war, beschlossen hätte, es diesem gleichzutun. Da er nicht über ausreichend Geld verfügte, veräußerte er heimlich den Acker seines Vaters und borgte sich den Rest zusammen, um sich ein Flugticket nach Frankreich und ein Krankenhausbett in Paris zu kaufen, wo er sich die Ohren vergrößern ließ, um, wie er in einer Erklärung mitteilte, besser hören und die privatesten Unterhaltungen zwischen Mann und Frau, Kindern und ihren Eltern, Schülern und Lehrern, Priestern und ihren Gemeindemitgliedern, Psychiatern und ihren Patienten belauschen zu können – und dies alles im Dienste des Herrschers. Seine Ohren waren größer als die eines Kaninchens und beständig aufgestellt, um zu jeder Zeit und aus allen Richtungen Gefahren ausmachen zu können. Seine Hingabe blieb nicht unbemerkt. Er wurde Staatsminister und das Ausspionieren der Bevölkerung fiel in seine Zuständigkeit. Damit unterstand ihm die ganze geheime Polizeimaschinerie, bekannt unter der Bezeichnung M5. Und so wurde er wegen seiner großen Ohren zu Silver Sikiokuu und warf seinen früheren Namen über Bord.
Ironischerweise markierte der Erfolg der beiden ehemaligen Parlamentsabgeordneten auch den Beginn ihrer Rivalität: Der eine sah sich als des Herrschers Auge, der andere als des Herrschers Ohr. Unentwegt verglichen die Leute im Stadion ihr unterschiedliches Mienenspiel, vor allem die Bewegungen ihrer Augen und Ohren, denn jeder wusste seit langem, dass sich die beiden einen Kampf auf Leben und Tod lieferten, um endgültig klarzustellen, welcher Körperteil mächtiger war: die Augen oder die Ohren des Herrschers.
Machokali schwor bei seinen Augen: Mögen sie sich gegen mich wenden, wenn ich nicht die Wahrheit sage! Sikiokuu hingegen rief seine Ohren an: Mögen sie meine Zeugen sein, dass alles, was ich sage, der Wahrheit entspricht. Und immer wenn er sie erwähnte, zupfte er sich am Ohrläppchen. Diese Geste, über die Jahre hinweg eingeübt und bis zur Vollendung gebracht, verhalf ihm zu einem winzigen Vorteil in ihrem Kampf um Aufmerksamkeit. Machokali konnte dem nichts entgegensetzen. Schließlich konnte er sich nicht an den Lidern zupfen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als die zweitbeste Lösung zu wählen: auf seine Augen zu deuten, um seinen Aussagen mehr Gewicht zu verleihen.
Andere Parlamentsabgeordnete hätten es ihnen wohl gleichgetan und sich, je nachdem welche Dienste sie dem Herrscher leisten wollten, körperlichen Veränderungen unterzogen, wenn sich nicht die Sache mit Benjamin Mambo ereignet hätte. Als jungem Mann war es Mambo versagt geblieben, in die Armee einzutreten, weil er zu klein war. Doch loderte das Feuer für eine militärische Karriere weiter in ihm, und jetzt, nachdem Machokali und Sikiokuu neue Wege zur Macht erschlossen hatten, glaubte er, dass sich damit auch ihm eine neue Chance bot, seinen Traum zu verwirklichen, und er zermarterte sich das Hirn, welche körperliche Veränderung ihm den begehrten Posten des Verteidigungsministers eintragen könnte. Er beschloss, sich die Zunge verlängern zu lassen, damit jeder Soldat im Land in seinen Worten den Widerhall der Befehle des Herrschers hören könnte und auch dessen Drohungen an die Adresse seiner Feinde, noch bevor diese die Grenzen Aburĩrias erreichen konnten. Zunächst wollte er es wie Sikiokuu machen und flog nach Paris. Doch gab es dort einige Missverständnisse über die erforderliche Größe, sodass ihm die Zunge wie einem Hund weit aus dem Mund hing und er nicht mehr sprechen konnte. Machokali kam zu Hilfe und ermöglichte ihm den Besuch einer Spezialklinik in Berlin, wo man ihm die Lippen lang zog und vergrößerte, um die Zunge zu verbergen. Aber selbst das gelang nicht vollständig und die Zunge schaute immer noch ein bisschen hervor. Der Herrscher missverstand dieses Zeichen und bedachte ihn mit dem Informationsministerium. Das war nicht schlecht, und Mambo feierte seinen Aufstieg zu einem Kabinettsposten, indem er seine Vornamen änderte und sich jetzt, von der Uhr am englischen Parlamentsgebäude inspiriert, Big Ben nannte. Mit vollem Namen hieß er nun Big Ben Mambo. Er vergaß Machokali seine Hilfe nicht und schlug sich in den politischen Auseinandersetzungen zwischen Markus und Silver oft auf die Seite Machokalis.
Die Idee eines besonderen Geschenkes der Nation zum Geburtstag stammte von Machokali – der natürlich eindeutige Hinweise von ganz oben erhalten hatte – und mit dem Stolz des Erfinders signalisierte er jetzt den Blaskapellen von Armee, Polizei und Gefängnisverwaltungen sich bereitzuhalten, das Geburtstagsständchen anzustimmen. Der Augenblick war gekommen.
In der Menge machte sich große Neugier breit, als Machokali, unterstützt von Mitgliedern des Geburtstagskomitees und einigen Polizisten, mit theatralischer Geste ein riesiges Tuch entfaltete und in die Luft hielt. Die Leute schoben einander beiseite und versuchten zu erkennen, was auf dem Tuch zu sehen war. Sie waren verblüfft, als sie darauf die riesige Zeichnung von etwas entdeckten, das so ähnlich wie ein Gebäude aussah. Eine Zeichnung auf einem weißen Tuch als Geburtstagsgeschenk für den Herrscher?
Machokali kostete die angespannte Neugier und Erwartung der Menge aus und rief sie auf, Ruhe zu bewahren, denn er werde ihnen nicht nur alles beschreiben, was auf dem Tuch zu sehen war, sondern auch dafür sorgen, dass Kopien dieser „artist’s impression“ – wie es die Engländer nennen – im ganzen Land verbreitet würden. Und er würde gern die Gelegenheit nutzen, dem Lehrer zu danken, der sich freiwillig bereit erklärt habe, diesen Entwurf zu gestalten, und bedauere es sehr, dass er den Namen des Lehrers nicht preisgeben dürfe, weil es ihm der Künstler untersagt habe. Das Lehren sei ein ehrenvoller Beruf und diejenigen, die ihn ausübten, seien bescheidene Menschen, die nicht ein Streben nach Ruhm, sondern selbstlose Hingabe antreibe, ein Vorbild für alle Bürger.
Ganz hinten in der Menge hob ein Mann die Hand, winkte aufgeregt und rief seinen Einspruch nach vorn: „Ist schon in Ordnung, Sie können ruhig meinen Namen nennen.“ Und als die Umstehenden ihn anfuhren, den Mund zu halten, rief er noch: „Ich bin hier – Sie können gern meine Identität offenlegen.“ Er war zu weit weg von der Bühne, um gehört zu werden, aber in der Nähe standen ein paar Polizisten, und einer fragte ihn: „Wie heißt du?“
„Kaniũrũ, John Kaniũrũ“, antwortete der Mann, „und ich bin der Lehrer, von dem der Redner gerade spricht.“
„Dreh mal deine Taschen nach außen“, befahl ihm der Polizist. Nachdem er sichergestellt hatte, dass Kaniũrũ keine Waffe trug, fragte er ihn, während er auf seine eigene Pistole zeigte: „Siehst du die hier? Wenn du weiterhin die Feierlichkeiten störst, dann werde ich dich von deiner Nase befreien, so wahr ich Askari Arigaigai Gathere heiße und mein Boss Inspector Wonderful Tumbo.“
Der Mann mit dem Namen Kaniũrũ setzte sich wieder. Nur wenige hatten den kleinen Tumult bemerkt, denn alle Augen und Ohren waren auf das größere Schauspiel auf der Bühne gerichtet.
Das ganze Land, sagte der Außenminister gerade, die gesamte aburĩrische Bevölkerung, habe einstimmig beschlossen, ein Gebäude zu errichten, wie es noch niemals in der Geschichte zu bauen versucht worden sei. Außer von den Kindern Israels natürlich, aber selbst die seien kläglich gescheitert, den Turm zu Babel zu vollenden. Nun werde Aburĩria das tun, wozu die Israeliten nicht fähig gewesen waren: ein Gebäude errichten, das bis an die Himmelspforten reiche, damit der Herrscher jeden Tag bei Gott vorbeischauen und ihm Guten Morgen oder Guten Abend wünschen oder ihn einfach fragen könne: Wie war dein Tag heute, Gott? Damit empfinge der Herrscher Tag für Tag Gottes Rat, und das werde Aburĩria schnell zu Höhen aufsteigen lassen, die kein Mensch zuvor erträumt habe. Das Vorhaben mit der Bezeichnung „Heavenscrape“ – oder einfach „Marching to Heaven“ – solle von einem Nationalen Baukomitee ausgeführt werden, dessen Vorsitzender rechtzeitig ernannt werde.
Da diese wunderbare Idee vom Geburtstagsgeschenk-Komitee gekommen sei, fuhr Machokali fort, werde er die gute Arbeit der Mitglieder dieses Komitees gerne dadurch würdigen, dass er jeden von ihnen dem Herrscher vorstelle. Die Mitglieder des Komitees waren in der Mehrzahl Parlamentsabgeordnete, aber es befanden sich auch zwei oder drei Privatpersonen darunter, von denen einer, er hieß Titus Tajirika, beinahe hinfiel, weil er hochsprang, als sein Name aufgerufen wurde. Tajirika hatte dem Herrscher noch nie die Hand geschüttelt, und der Gedanke, dass dies nun vor Tausenden Menschen geschehen sollte, überwältigte ihn derart, dass er vor Freude über sein Glück am ganzen Körper zitterte. Sogar als er zu seinem Sitz zurückkehrte, betrachtete Tajirika noch völlig ungläubig seine Hand und überlegte, was er tun könnte, um zu vermeiden, anderen die Hand schütteln oder sie gar waschen zu müssen. Er hasste Handschuhe, aber jetzt wünschte er sich, welche in der Tasche zu haben. Das werde er mit Sicherheit ändern. Doch in der Zwischenzeit wollte er die gesegnete Hand mit seinem Taschentuch umwickeln, damit die Leute glaubten, wenn er ihnen die linke Hand gab, es geschehe wegen einer Verletzung. Tajirika war so damit beschäftigt, seine rechte Hand zu umwickeln, dass er die Geschichte von Marching to Heaven teilweise versäumte. Jetzt aber wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ganz Machokalis Ausführungen zu.
Minister Machokali schwärmte gerade aufgeregt und lautstark davon, wie die Vorteile dieses Projekts letztlich allen Bürgern zugute kämen. Sei das Vorhaben erst einmal verwirklicht, würde niemals wieder ein Historiker von anderen Weltwundern sprechen, denn der Ruhm dieses modernen Turmbaus zu Babel werde die Hängenden Gärten Babylons, die ägyptischen Pyramiden, das aztekische Tenochtitlán oder die Große Mauer in China in den Schatten stellen. Und wer werde dann noch vom Taj Mahal reden? „Unser Projekt wird das erste und einzige Superwunder der Weltgeschichte sein. Um es kurz zu machen“, so erklärte Machokali, „Marching to Heaven ist eben diese besondere Geburtstagstorte, die sich die Bürger für ihren einzigen und wahren Führer, den ewigen Herrscher der Freien Republik Aburĩria, zu backen entschlossen haben.“
An dieser Stelle machte Machokali eine kurze, dramatische Pause, um den Jubelrufen angemessenen Raum zu geben.
Außer den Parlamentsabgeordneten, den Ministern, den Amtsträgern der Ruler’s Party und den Vertretern der bewaffneten Kräfte klatschte niemand. Machokali bedankte sich dennoch bei der versammelten Menge für die überwältigende Unterstützung und forderte jeden Bürger auf vorzutreten, der das Bedürfnis habe, etwas zum Ruhme von Marching to Heaven zu sagen. Die Leute blickten sich an und starrten dann wie versteinert zur Bühne. Die einzigen Hände, die sich streckten, gehörten den Ministern, Parlamentsabgeordneten und Amtsinhabern der Ruler’s Party, doch der Minister achtete nicht auf sie und wandte sich noch einmal an die versammelte Bürgerschaft. „Seid ihr vom Glück so überwältigt, dass ihr keine Worte findet? Ist denn gar keiner da, der seine Freude in Worte fassen kann?“
Ein Mann hob die Hand, und Machokali winkte ihn eilig zum Mikrofon. Der Mann, offensichtlich schon in fortgeschrittenem Alter, stützte sich auf einen Gehstock, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Zwei Polizisten eilten zu ihm und geleiteten ihn zum Mikrofon neben der Bühne. Noch immer wurde das Alter in Aburĩria hoch geachtet, und die Menge wartete auf seine Worte wie auf die Offenbarungen eines Orakels. Doch als der alte Mann zu reden begann, wurde offensichtlich, dass er Schwierigkeiten hatte, den Swahili-Namen des Herrschers, Mtukufu Rais, korrekt auszusprechen. Er nannte ihn stattdessen Mtukutu Rahisi. Zu Tode erschrocken darüber, dass der Herrscher „Schäbige Exzellenz“ genannt wurde, flüsterte einer der beiden Polizisten ihm schnell ins Ohr, es müsse Mtukufu Rais oder Rais Mtukufu lauten, was den alten Mann allerdings noch mehr durcheinanderbrachte. Er hustete und räusperte sich, um sich zu beruhigen, und rief dann ins Mikrofon: „Rahisi Mkundu.“ „Oh, nein, es heißt auch nicht ‚Schäbiges Arschloch‘“, wisperte ihm der andere Polizist zu, „nein, nein, es muss ‚Seine Heilige Allmacht‘ heißen, Mtukufu Mtakatifu.“ Was die Sache auch nicht besser machte, weil der alte Mann jetzt mit dem Ausdruck der Überzeugung sagte: „Mkundu Takatifu.“ Als die Menge „Sein Heiliges Arschloch“ hörte, brach sie in übermütiges Gelächter aus, über dem der alte Mann vergaß, was er sagen wollte, sich hartnäckig an die Anrede Rahisi Mkundu hielt und Machokali damit veranlasste, das Zeichen zu geben, ihn schleunigst vom Mikrofon zu entfernen. Der alte Mann aber begriff nicht, warum man ihm nicht gestattete zu reden und stieß, während man ihn in die Menge zurückbrachte, in einem fort hervor: „Rahisi Mkundu, Mtukutu Takatifu Mkundu, Mtukutu“, was so ziemlich jeder möglichen Kombination schäbiger und heiliger Arschlöcher entsprach, von der er dachte, sie könnte richtig sein. Dabei gestikulierte er in Richtung des Herrschers, als bettelte er um dessen göttliches Eingreifen.
Um die Menschen von dieser peinlichen Szene abzulenken, trat Machokali erneut ans Mikrofon und dankte dem alten Mann dafür, zum Ausdruck gebracht zu haben, dass das ganze Unternehmen einfach zu bewerkstelligen und zugleich preiswert zu verwirklichen sei, wenn nur das Volk Herz und Börse öffnete. Doch wie sehr er auch beschönigte, die Wörter „schäbiges“ und „heiliges Arschloch“ hingen weiter in der Luft und sorgten für eine peinliche Situation, die den Minister offensichtlich in sprachliche Verlegenheit stürzte.
Minister Sikiokuu nutzte die Gelegenheit, um die Verwirrung noch zu vertiefen. Er betonte, dass er für all die anderen spreche, die die Hände gehoben hatten, aber zugunsten des alten Mannes, den Machokali noch immer mit Lob überschüttete, ignoriert worden waren, und fragte dann: Hätten „Bruder“ Machokali und sein Komitee nicht daran gedacht, dass es den Herrscher sehr ermüden würde, wenn er all die Stufen zum Himmelstor zu Fuß bewältigen oder mit einem Aufzug fahren müsse, egal wie schnell der sei?
Er machte den Vorschlag, ein weiteres Komitee unter seiner Leitung einzusetzen, um die Möglichkeiten für die Konstruktion eines Luxusraumschiffs mit dem Namen Herrscher im All zu erkunden. Dieses sollte über ein Landungsfahrzeug verfügen, ein wenig größer als das, das die Amerikaner einst zum Mars geschossen hatten, und Sternentrabant oder Himmelstrabant heißen. Mit diesem Raumschiff könnte der Herrscher, als einziger Führer in der Welt mit einem eigenen Raumfahrzeug, Vergnügungsreisen machen, wann und wohin auch immer er wollte, könnte einfach von Planet zu Planet hüpfen. Und war er erst einmal auf einem Stern gelandet, könnte er einfach in seinen Himmelstrabant steigen und im Himmel Gold und Diamanten sammeln. Als Sikiokuu endlich zu Ende kam, zupfte er sich zur Bekräftigung mit dramatischer Geste die Ohrläppchen und setzte sich mit dem Ausruf „Ein Luxusraumschiff!“ wieder hin.
Nachdem er das Mikrofon zurückerobert hatte, dankte Machokali seinem Ministerkollegen zunächst für dessen Unterstützung für das auserkorene Geschenk und seine brillante Idee bezüglich der Bedürfnisse des Herrschers bei seinen Himmelsreisen, wies dann aber sofort darauf hin, dass der Minister, wenn er sich denn die Mühe gemacht hätte, einen Blick auf die Zeichnung auf dem Tuch zu werfen, erkannt hätte, dass das bestehende Komitee sich bereits über das Problem der himmlischen Reisen Gedanken gemacht habe. Am höchsten Punkt von Marching to Heaven befinde sich ein Raumflughafen, auf dem solch ein Fahrzeug landen oder zu anderen Sternen abfliegen könne. Wiederholt betonte Machokali jetzt, wobei er zur Bestätigung auf seine Augen zeigte, dass das Komitee sehr weitsichtig gewesen sei.
An dem Lächeln aber, das in seinen Mundwinkeln spielte, während er Sikiokuus Herausforderung entkräftete, war ersichtlich, dass er noch ein As im Ärmel hatte. Als Machokali es herausholte, waren sogar einige Minister sprachlos. Schon bald nämlich werde die Global Bank eine Delegation ins Land schicken, um über Marching to Heaven zu verhandeln und zu entscheiden, ob die Bank Aburĩria das Geld für die Fertigstellung vorschießen könne.
Nach einer bewussten Pause, die die Wirkung der Nachricht verstärken sollte, wandte sich Machokali an den Herrscher und bat ihn, Marching to Heaven als Geschenk einer dankbaren Nation an ihren Herrscher anzunehmen.
Die Blaskapellen spielten:
Zum Geburtstag viel Glück
Zum Geburtstag viel Glück
Zum Geburtstag, lieber Herrscher
Zum Geburtstag viel Glück
Der Herrscher erhob sich, Stab und Fliegenwedel in der linken Hand. Sein dunkler Anzug glich aufs Haar dem von Machokali, doch wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass die Nadelstreifen aus winzigen Buchstaben bestanden, die die Worte WER DIE MACHT HAT, HAT DAS RECHT bildeten. Gerüchte besagten, seine Kleidung werde ausschließlich in Europa maßgeschneidert, und seine Nadelakrobaten in London, Paris und Rom würden nichts anderes tun, als seine Kleidung zu schneidern. Was seine Anzüge von allen Nachahmungen irgendwelcher politischer Schwanzwedler unterschied, das waren die Besätze auf den Schultern und Ellbogen seiner Sakkos, denn diese bestanden ausnahmslos aus den Fellen von Großkatzen, zumeist Leoparden, Tigern und Löwen. Keinem Politiker war es gestattet, Kleidung zu tragen, die mit den Fellen Seiner Großen Katzen besetzt waren. Diese Besonderheit hatte die Kinder zu einem Lied animiert, in dem es hieß, dass ihr Herrscher
Auf der Erde schreitet wie ein Leopard
Den Pfad erhellt mit dem Auge des Tigers
Und brüllt mit der Wildheit des Löwen
Mit seiner Größe und seinem Maßanzug war der Herrscher eine durchaus beeindruckende Erscheinung, und auch deshalb kommen die Anhänger der fünften Theorie immer wieder darauf zurück, wie er an diesem Tag aussah. Er strotzte vor bester Gesundheit, wie er da stand, sich räusperte und verkündete: „Ich bin zutiefst bewegt von der ungeheuren Liebe, die ihr mir alle heute zuteil werden lasst …“ Bevor er fortfahre, wolle er seine Anerkennung für ihre Zuneigung durch einen Gnadenakt zum Ausdruck bringen. Er verkündete die Freilassung Hunderter politischer Gefangener, unter ihnen auch ein paar Schriftsteller und Journalisten, die alle ohne Gerichtsverfahren inhaftiert worden waren, sowie ein Historiker, der seit zehn Jahren im Gefängnis saß und zu dessen Verbrechen es gehört hatte, ein Buch mit dem Titel „Das Volk macht Geschichte für des Herrschers Macht“ geschrieben zu haben. Die angeblichen Sünden dieses Historikers nagten noch immer am Herrscher, sogar jetzt kam er auf diesen Fall zu sprechen. Professor Materu nannte er ihn und bezog sich sarkastisch auf die Tatsache, dass bei der Ankunft im Gefängnis als Erstes der lange Bart des Professors einem stumpfen Messer zum Opfer gefallen war. Dieser Terrorist des Intellekts, so nannte er ihn, habe zehn Jahre im Gefängnis verbracht, doch anlässlich dieses historischen Ereignisses habe er ihn vorzeitig entlassen. Allerdings sei es Professor Materu nicht gestattet, sich den Bart länger als einen Zentimeter wachsen zu lassen, anderenfalls müsse er wieder ins Gefängnis. Er habe sich monatlich bei einer Polizeiwache zu melden, um seinen Bart messen zu lassen. Alle anderen Dissidenten hätten zu schwören, nie wieder Gerüchte aufzugreifen und sie als geschichtliche Tatsachen, als Literatur oder journalistische Arbeiten auszugeben. Wenn sie sich besserten, würden sie ihn als Herrscher der Großzügigkeit kennenlernen, der die wahrhaft Reumütigen belohne, sagte er, bevor er sich der einzigen Frau auf der Bühne zuwandte.
„Dr. Yunice Immaculate Mgenzi“, stellte er sie lautstark vor.
Langsam und besonnen stand die schweigende Frau auf. Ihr sicheres Auftreten wirkte beeindruckend.
„Seht ihr diese Frau?“, fuhr der Herrscher fort. „In den Zeiten des Kalten Krieges war sie, die hier vor euch steht, eine Revolutionärin. Eine ziemlich radikale; ihr Name war Programm: Dr. Yunity Mgeuzi-Bila-Shaka. Versteht ihr? Ohne Zweifel eine Revolutionärin. Maoistisch. Alikuwa mtu ya Beijing. Aber in den letzten Tagen des Kalten Krieges gab sie ihre revolutionäre Torheit auf, bereute aufrichtig und gelobte mir treue Dienste. Habe ich sie ins Gefängnis verfrachtet? Natürlich nicht. Ich beauftragte sogar Big Ben Mambo, ihr eine Anstellung im Informationsministerium zu geben, und heute bin ich außerordentlich glücklich, verkünden zu können, dass ich Dr. Yunice Immaculate Mgenzi zur ersten Stellvertreterin meines Botschafters in Washington berufen habe. Die erste Frau in der Geschichte Aburĩrias, die einen solchen Posten innehat.“
Dr. Mgenzi quittierte den donnernden Applaus der Menge mit einer Verbeugung und winkte, bevor sie sich wieder setzte.
„Und nun“, fuhr der Herrscher fort, nachdem der Applaus verklungen war, „möchte ich über einen weiteren Revoluzzer reden, der früher Gift und Galle über Imperialismus, Kapitalismus, Kolonialismus, Neokolonialismus und all das ausspuckte. Er nannte sich Dr. Luminous Karamu-Mbu-ya-Ituĩka. Versteht ihr, er nutzte seinen leuchtenden Stift, die Revolution herbeizukritzeln. Ein Agitator. Ein Anhänger Moskaus. Ausgebildet am Ostdeutschen Institut für marxistisch-revolutionären Journalismus. Es gab sogar eine Zeit, in der ihn einige unserer Nachbarn, die trunken waren von der Torheit eines Afrikanischen Sozialismus, anheuerten, radikale Artikel zu schreiben, die zum Klassenkampf in Afrika aufriefen. Sobald aber klar war, dass es mit dem Kommunismus den Bach runterging, war auch er so klug zu bereuen und beeilte sich, das Wort ‚Revolution‘ aus seinem Namen zu entfernen. Was habe ich gemacht? Habe ich ihn ins Gefängnis gesteckt? Nein. Ich habe ihm vergeben. Und er hat sich mit seiner Arbeit meiner Vergebung als vollauf würdig erwiesen. Im Untergrundblatt Eternal Patriot, das er herausgab, hat er mich immer als den Schöpfer einer Nation von Schafen verunglimpft. Jetzt hilft er mir im Daily Parrot dabei, mit seinen literarischen Hieben die Schafe zu hüten.“
Um das Land vor arglistigen Gerüchteköchen zu schützen, vor sogenannten Historikern und Romanschreibern, und um ihren Lügen und Verdrehungen zu begegnen, ernannte ihn der Herrscher zu seinem offiziellen Biographen, und wie ein jeder wisse, sei seine Lebensgeschichte in Wahrheit die Geschichte dieses Landes und die einzig wahre zudem. „Mein ergebener und vertrauenswürdiger Geschichtsschreiber“, tönte der Herrscher. „Ich möchte, dass du dich erhebst, damit sie dich sehen und kennenlernen können.“
Der Biograph folgte der Anweisung, und erst in diesem Moment wurde allen klar, dass der Mann mit dem ledergebundenen Notizbuch und dem Stift vom Umfang eines Wasserschlauchs der offizielle Biograph des Herrschers war. „Meine geliebten Kinder“, rief der Herrscher jetzt und wandte sich wieder an die Menschenmenge, „ich möchte sagen, dass ihr alle gesegnet sein sollt für dieses Superwundergeschenk.“ Was es ihm so wertvoll mache, sei nicht zuletzt die Tatsache, dass es ihn vollkommen überrascht habe. Selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er nicht gedacht, dass Aburĩria seine Dankbarkeit zeigen würde, indem es etwas versuche, das noch nie jemand in der Geschichte getan habe. Er persönlich habe nie einen Lohn erwartet, denn das, was er getan habe, sei ihm Lohn genug gewesen, und aus väterlicher Liebe heraus werde er das auch weiterhin so halten. Er hielt inne, denn auf einmal gab es mitten in der Menge einen Schrei, der einem das Blut gerinnen ließ. „Eine Schlange! Eine Schlange!“ Andere nahmen den Warnruf auf und es entstand ein höllischer Lärm. Die Menschen schrien und stoben in alle Richtungen auseinander. Alle wollten der Schlange entgehen, die kaum einer gesehen hatte. Es genügte, dass andere sie gesehen hatten; und in dem Geschrei ging es jetzt nicht mehr um eine, sondern gleich um mehrere Schlangen. Die Minister konnten nicht glauben, was sich da abspielte. Keiner wollte der Erste sein, der Furcht zeigte. Verstohlen blickten sie sich an und warteten darauf, dass einer den ersten Schritt machte.
Ein Teil der Menge begann, sich zur Bühne vorzuschieben. Immer noch schrien sie: „Schlangen! Schlangen!“ Auch einige Polizisten und Soldaten waren drauf und dran zu fliehen, doch als sie die Garde des Herrschers zu den Waffen greifen sahen, um in die Menge zu feuern, hielten sie stand. Und das Chaos nahm seinen ungehinderten Lauf.
Um die Situation zu beruhigen, feuerte der Polizeichef in die Luft. Das aber machte alles nur noch schlimmer. Der Tumult verwandelte sich in Panik. Die Menschen machten sich in alle Richtungen davon. Wenige Minuten später waren nur noch der Herrscher und sein Gefolge aus Ministern, Polizisten und Soldaten im Stadion. Der Chef der Geheimpolizei erwachte aus seiner Erstarrung und flüsterte dem Herrscher ins Ohr, dass dies der Anfang eines Staatsstreichs sein könne. Und nur Sekunden später befand sich der Herrscher auf dem Weg ins State House.