D R I T T E R  T E I L

1

Niemand wusste, ob er nach Aburĩria zurückgekehrt war oder nicht, und nichts erregte die Gemüter so sehr, wie die Kontroverse über seine Flucht aus Amerika. War der Herr der Krähen entkommen oder einfach nur verschwunden? Sogar A.G. war ratlos. Wenn er in seiner Erzählung an die Stelle kam, wie sie in New York zum Flughafen gefahren waren und er nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte, wo der Herr der Krähen abgeblieben war, zögerte er kurz und durchlitt noch einmal die Trauer und den Schmerz von damals. Sein Kummer war ansteckend, und seine Zuhörer wurden still und schauten einander an, als fragten sie: Was können wir tun, um ihn aufzumuntern? Und sie spendierten ihm ein Bier oder auch zwei, „damit du deine Kehle anfeuchten kannst, Mann“, und bedrängten ihn: „Erzähl weiter.“ Wer ihn hörte, ging anschließend nach Hause und verbrachte den Abend damit, als Vorspiel zu den eigenen Legenden über den Zauberer Geschichten von einem Betrunkenen zu erzählen, der behauptete, in Amerika gewesen zu sein, als der Herr der Krähen verschwand. Und so wurde jeder Zuhörer zu einem Geschichtenerzähler, der die eigene Glaubwürdigkeit herausstrich. Einige schworen bei allem, was ihnen heilig war, sie wüssten ganz sicher, dass der Herr der Krähen von den amerikanischen Einwanderungsbehörden verhaftet worden sei, weil er kein gültiges Visum besitze.

Irrtümlicherweise habe man ihn dann in ein Flugzeug nach Peru gesetzt, und die peruanischen Behörden hätten ihm die Einreise verweigert, weil er natürlich wieder kein Visum hatte. Und sie hätten ihn erneut in ein Flugzeug verfrachtet, das ihn nach Neuseeland brachte, wo ihm dasselbe Pech widerfuhr, und so sei es immer weitergegangen, hierhin und dahin, aus dem Flugzeug und wieder ins Flugzeug. Und das sei der Grund, warum er so weltgewandt wurde, denn obwohl er nie die Erlaubnis erhielt, seinen Fuß auf sicheren Boden zu setzen, war er schließlich überall gewesen, von Mosambik bis in die Mongolei, von Kasachstan bis Kamerun, von Tansania bis Tasmanien, von Hawaii bis Hongkong, von Indien bis Island, von Kenia bis Korea; ein Heimatloser, ein Weltbürger. Andere bestritten das; die Geschichte, er sei von einem Land ins nächste transportiert worden, sei nicht wahr, und sie behaupteten, die amerikanische Einwanderungsbehörde hätte ihn einfach eingesperrt, da er keinen Ausweis besaß, der klarstellte, wer er war oder woher er kam. Entweder sei er bis auf den heutigen Tag als Terrorismusverdächtiger dort eingesperrt oder von der Mafia in den Straßen von New York ermordet worden, weil er sich geweigert habe, das Geheimnis zu verraten, wie man Geld auf Bäumen wachsen ließ.

Ja, es stimmt, er ist noch in Amerika, gaben andere zu, aber er ist nicht im Gefängnis; es sei denn, ihr betrachtet Schulen und Hochschulen als Gefängnisse. Der Mann habe sich eben an einer Zauberschule eingeschrieben, um an seiner Promotion in Antiker und Zeitgenössischer Komparativer Zauberei zu arbeiten, und, mal ehrlich, was könnte ihn verleiten, hierher zurückzukommen? In das Aburĩria der krummen Wege, der Raubüberfälle, außer Kontrolle geratener Todesviren, der Krankenhäuser ohne Arzneimittel, der grassierenden Arbeitslosigkeit, der täglichen Ungewissheit und des epidemischen Alkoholismus? Ja, in ein Aburĩria, dessen Führer sogar die Hoffnung ermordet hatten? Er sollte in Amerika bleiben und sich jene Zauberkräfte aneignen, die das Fax hervorgebracht haben und das Internet, die E-Mail und das Nachtsichtgerät, die Labore, in denen man menschliche Organe züchtet und sogar Tiere und Menschen klont, die Magie der Objekte, die sich in Kriege und andere Welten stürzen, die Zauberkräfte, mit denen der Dollar die Welt regiert! Amen, sagten einige an dieser Stelle, und selbst das führte manchmal zu weiterem Streit: „Warum sagst du Amen? Ein Amen auf was?“

Die unterschiedlichen Berichte über den Herrn der Krähen in Amerika versuchten, einander zu übertrumpfen, doch alle suchten nach einer Erklärung, warum der Herr der Krähen trotz der Plakate überall im Land nicht gefunden wurde. Wo in Aburĩria, fragten sie sich, könnte sich der Mann versteckt haben, ohne von den allgegenwärtigen Augen, Ohren, Nasen, Beinen und Armen des Herrschers aufgespürt zu werden?

Okay, okay, krakeelten einige, da sollen mal nicht so viele Köche den Löffel in die Suppe tauchen. Hören wir uns die Geschichten eine nach der anderen an, und den Erzählern sagen wir, dass es schwierig wird, die Suppe zu schlucken, wenn sie versalzen ist.

Die Schwierigkeit herauszufinden, ob an einem dieser Gerüchte tatsächlich etwas Wahres war, bestand darin, dass in den meisten Fällen A.G. deren Ursprung war. Und auch wenn sich die Geschichten alle voneinander unterschieden, schwor A.G., dass sie allesamt wahr seien. So, wie das Meer sich aus mehreren Flüssen speise, deren Quellen in verschiedenen Hügeln und Gebirgen lägen und die es erlaubten, von Strömen, Flüssen, Seen und Meeren zu sprechen, auch wenn man in jedem Einzelfall über Wasser rede, sei es auch mit Erzählungen.

Das fachte ihr Interesse und ihr Bedürfnis nach Gewissheit aufs Neue an: Was war wirklich geschehen?, fragten die Leute, und alle Augen richteten sich wieder auf A.G.

Herr der Krähen
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