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Keiner gerät schneller in Wut als ein Dieb, der bestohlen wird. Dieses Sprichwort traf voll und ganz auf Silver Sikiokuu zu, den Staatsminister im Büro des Herrschers. Obwohl er jahrelang Bestechungsgelder in Millionenhöhe eingeheimst hatte, ohne etwas Falsches darin zu sehen, fühlte er sich jetzt verletzt und gekränkt, weil der Herrscher ihm befohlen hatte, Geld zurückzuzahlen, von dem er nicht einen Cent gesehen hatte. Er hatte von Kaniũrũs betrügerischen Plänen mit Marching to Heaven nicht die leiseste Ahnung gehabt. Noch mehr erzürnte ihn aber, dass er den Jugendbrigadisten selbst protegiert hatte. Warum kann man den Leuten so wenig trauen?, fragte er sich immer wieder. Wie konnte Kaniũrũ seinem Wohltäter gegenüber nur so undankbar sein? Er dachte daran, sich an Kaniũrũ zu rächen, wusste aber nicht, wie er ihm einen schmerzlichen Schlag versetzen konnte. Das einzige Licht am Ende des Tunnels war das Versprechen des Herrschers, ihm die Schulden zu erlassen, sollte Nyawĩra gefasst werden. Doch bisher hatte sich die Gefangennahme als entmutigend schwer erwiesen.

Inmitten dieser Agonie erhielt Sikiokuu eines Tages die Nachricht, dass beim Zoll ein Paket auf ihn warte. Er schickte einen Kurier, um es abzuholen. Es war einer der Spiegel, den er in London bestellt hatte, und bald darauf trafen weitere aus Tokio, Rom, Stockholm, Paris, Berlin und Washington ein.

Angesichts dieses guten Omens schlenkerte Sikiokuu vor Freude mit den Ohren. Er malte sich aus, wie er Nyawĩra fangen, sie vor den Herrscher zerren und theatralisch verkünden würde: Hier ist Ihre Feindin – was soll mit ihr geschehen? Was würde der Herrscher antworten? Gut gemacht, du treuer und loyaler Minister, und ich erlasse dir das Geld, das du mir schuldest; von heute an ist dir gestattet, mit jenen, die dir Unrecht getan haben, zu verfahren, wie dir beliebt, vor allem mit jenen, die dich zu Unrecht beschuldigt haben, Marching to Heaven zu unterwandern. Allerdings wurde die Klarheit dieser Tagträume von einer Sorge getrübt: Die Spiegel sind da, aber wo steckt ihr Benutzer und Deuter? Wo ist der Herr der Krähen?

Sikiokuu war nicht glücklich darüber, dass der Herrscher die Aufgabe, den Herrn der Krähen ergreifen, Machokali zugewiesen hatte, weil er noch immer fürchtete, der Zauberer könnte seinem Erzfeind enthüllen, was er über Sikiokuus Ambitionen erfahren hatte. Er hätte diesen Auftrag lieber selbst übernommen, obwohl er unschlüssig darüber war, was er mit dem Zauberer machen würde. Einerseits wünschte Sikiokuu seinen Tod; andererseits war der Zauberer seine einzige Hoffnung, Nyawĩra zu finden. Aber was führte Machokali im Schilde? Was hatte der unternommen, um den Herrn der Krähen festzunehmen? Es war ihm klar, dass Machokali ihn kaum in Kenntnis setzen und ihn stattdessen eher in die Irre führen würde. Deshalb entschied Sikiokuu, dass er den Herrn der Krähen als Erster aufspüren musste. Damit hatte der Wettlauf begonnen.

Er bildete eine Überwachungseinheit, die Machokali und Kahiga nachspionieren und über ihre Pläne und Aktivitäten berichten sollte – mit der Absicht, jegliche Informationen, auf die diese stießen, für sich zu nutzen. Njoya bat er, einen Künstler anzuheuern, der den Herrn der Krähen für ein Fahndungsplakat zeichnen sollte. Auf dem Plakat sollte eine Belohnung ausgeschrieben sein und sich zusätzlich eine Telefonhotline befinden. Wegen der erforderlichen Geheimhaltung konnte sich der Zeichner jedoch nur auf die Personenbeschreibungen des Zauberers von Sikiokuu und seinem Assistenten Njoya verlassen. Doch Sikiokuu wollte nicht, dass jemand erfuhr, dass er nachts in seinem Büro Hexenmeister empfing. Also bat er Njoya, ihn aus dem Spiel zu lassen.

Aber auch Njoya wollte mit einer Beschreibung des Gesichts des Zauberers nichts zu tun haben, weil er die Vergeltung des zweiten Zauberers fürchtete. Deshalb beschrieb er stattdessen das Gesicht des Ministers, und der Zeichner war überrascht, als in seinem Skizzenbuch ein Konterfei entstand, das dem Sikiokuus auf unheimliche Weise ähnelte. Um die Ähnlichkeiten zu vertuschen, versah er die Skizze mit langem Haar und Bart, und auf dem Papier erschien zu Sikiokuus Bestürzung ein schwarzer, langhaariger Jesus mit den Gesichtszügen des Ministers. Njoya unterbreitete einen anderen Vorschlag. Auf dem Plakat sollte dem Herrn der Krähen ein Preis angeboten werden, und man forderte ihn auf, sich zu zeigen, um ihn abzuholen. Die Überschrift lautete: AN DEN HERRN DER KRÄHEN! MELDEN GEGEN BELOHNUNG, und darunter stand eine Telefonnummer, mit der man nur Sikiokuu oder Njoya erreichen konnte. Wenn die Leute das Plakat sahen, mussten sie das Bild für das des Stifters des Preises halten und glauben, der Herr der Krähen müsse sich nur melden, um die Belohnung zu erhalten.

Sikiokuu wollte jedoch nicht einfach herumsitzen und abwarten, bis ihm der Herr der Krähen Nyawĩra auslieferte. Warum sollte man all seine Eier in das Nest eines Zauberers legen? Er musste andere Möglichkeiten finden, sie zu fassen. Außerdem wollte er vor seinen Rivalen geheim halten, dass er den Zauberer jagte. Er würde ihnen Sand in die Augen streuen, indem er so tat, als wäre er voll und ganz mit der Jagd auf Nyawĩra beschäftigt. Und gab es dafür einen besseren Weg, als überall in Aburĩria Fotos von ihr aufzuhängen? Damit trat allerdings ein neues Problem auf: Was hatte er mit den Fotos von Nyawĩra gemacht, die Kaniũrũ ihm gegeben hatte, als er für ihn zu arbeiten begann?

Nichts läuft nach Plan, dachte er verzweifelt und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er erinnerte sich an Kaniũrũs Lügen und Tajirikas Weigerung, sich an das Geständnis zu halten. Er beugte sich vor und schlug, als Wut und Enttäuschung in ihm hochkamen, mehrfach mit der rechten Faust auf den Tisch. Dann verschränkte er die Arme auf der Tischplatte und legte die Stirn darauf. Wo steckte diese Frau? Jedes Mal, wenn er glaubte, einen Weg gefunden zu haben, an sie heranzukommen, verlor er sie wieder aus den Augen. Wie war es möglich, dass er die Bilder nicht mehr hatte? Aber es war sinnlos, sein Pech zu beklagen, sagte er sich und bemühte sich um Haltung. Er sollte die Fotos lieber suchen. In diesem Augenblick, als hätte das Schicksal Mitleid mit ihm, sah er eine Akte unter den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch und zog sie heraus.

Er sprang vor Freude in die Luft. Es war die Akte mit Nyawĩras Fotos, die Kaniũrũ ihm gegeben hatte. Sorgfältig betrachtete er jedes einzelne, um zu sehen, welches sich am besten für ein Plakat eignete. Der einzige Haken daran war, dass auf den meisten auch Kaniũrũ zu sehen war. Immerhin waren er und Nyawĩra einmal Mann und Frau gewesen und die Bilder in der Zeit entstanden, als sie einander umworben und geheiratet hatten.

Dann lachte Sikiokuu in sich hinein. Er wählte ein Foto aus, das Kaniũrũ und Nyawĩra zeigte, wie sie einander in einem Atelier umarmten. Sikiokuu wies an, das Foto zu vergrößern und ein Plakat und eintausend Abzüge zu machen.

Bei seiner Suche nach Nyawĩra hatte er eine Möglichkeit entdeckt, auch den Verräter Kaniũrũ zu kompromittieren.

Herr der Krähen
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