20

Es hatte eine Zeit gegeben, in der das weite Land rund um Eldares der Lebensraum wilder Tiere war: Nashörner, Elefanten, Flusspferde. Damals stießen Reisende häufig noch auf Löwen und Leoparden, die im Gras auf Beute unter den weidenden Herden der Zebras, Dik-Diks, Ducker, Buschböcke, Gazellen, Impalas, Kudus, Elands, Warzenschweine, Kuhantilopen und Büffel lauerten. Sehr oft sah man auch Giraffen, die durch das Grasland galoppierten oder einfach über den Dornenbäumen aufragten. Ab und an flitzte ein Strauß über die Ebene, und hatte der Reisende Glück, fand er vielleicht in einem Sandnest ein frisch gelegtes Straußenei. Aber seither hat sich vieles verändert. Die Wildtiere haben sich aus dem Grasland zurückgezogen und es den ausgezehrten Kühen und Ziegen überlassen, deren Rippen in den Dürrezeiten, wenn das Gras vollständig verdorrt ist, deutlich hervortreten.

Die Grasebene endet unvermittelt am Fuß mehrerer Höhenzüge, die einen riesigen Halbkreis bilden. Die Bergrücken verschwinden oft im Dunst, sodass sie aus der Ferne wie ein einziger Gebirgskamm aussehen, und erst wenn man am Fuß angekommen ist, kann man ihren natürlichen, stufenförmigen Aufstieg in den diesigen Himmel bewundern. Jeder Höhenzug besteht aus mehreren Bergkuppen, die im Licht der untergehenden Sonne wie wogende Umrisse von Kuhbuckeln aussehen. Von Zeit zu Zeit aber vertreibt der Wind den Dunst und die Kuppen, Hügel und Berge offenbaren sich in ihrer atemberaubenden Schönheit. Sonnenstrahlen tüpfeln die Bäume des Waldes mit ihren schmelzenden Blättern in Grün, Gelb und Orange. Manchmal, wenn die Sonne aufgeht oder sinkt, kann man einen Regenbogen sehen, der sich über die Berge spannt.

Der Wald wurde mittlerweile von Händlern bedroht, die mit Holzkohle, Papier und Edelhölzern ihre Geschäfte machten, und Bäume schlugen, die mehrere hundert Jahre alt waren. Wenn es um die Wälder – und alle anderen natürlichen Ressourcen – ging, waren sich der aburĩrische Staat und die großen amerikanischen, europäischen und japanischen Unternehmen mit den einheimischen afrikanischen, indischen und europäischen Reichen einig unter dem Slogan: Die Plünderung geht weiter. Sie wussten genau, wie man nahm, aber nicht, wie man der Erde etwas zurückgab. Das wilde Abholzen der Wälder wirkte sich auf den Rhythmus der Regenfälle aus, sodass sich langsam eine Halbwüste vom Grasland auf die Berge zuschob.

Man benötigte einen ganzen Tag, um die Ebene zu Fuß zu durchqueren. Nyawĩra war früh aufgebrochen, doch brauchte sie länger, weil sie hoffte, irgendwo eine Spur von Kamĩtĩ zu entdecken. Außerdem trug sie einen Korb, gefüllt mit Dingen, von denen sie wusste, dass Kamĩtĩ sie brauchen konnte. Auch diese Last verlangsamte ihre Schritte. Doch so müde sie auch war, es machte ihr nichts aus. Sie war fest entschlossen, Kamĩtĩ aufzuspüren, wo immer er sich aufhielt. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen, wegen der Wut, die sie verspürte, bevor sie seinen Brief gelesen hatte. Im Brief war unbestimmt die Rede davon gewesen, dass er in die Wildnis zurückkehren wolle, doch ohne einen genauen Ort anzugeben. Sie erinnerte sich, dass er oft von einem seiner Lieblingsplätze gesprochen hatte, inmitten einiger Felsen zwischen dem Ende der Prärie und den Gebirgsausläufern. Dorthin war sie jetzt unterwegs. Was aber, wenn sie ihn dort nicht fand, noch sonst irgendwo? Dann müsste sie zurück, das Grasland allein im Dunkeln durchqueren. Daran mochte sie nicht denken.

Sie ging am Fuß der Bergkette entlang, wagte sich aber nicht in den Wald hinein. Langsam verließ sie die Hoffnung, und sie begann, sich wegen dieses erneuten Rückschlags Vorwürfe zu machen. Bin ich denn auch verhext? Warum folge ich einem Fremden an Orte, die ich nicht kenne? Wie jenes Mädchen in der Geschichte, das auf dem Markt einen gut aussehenden Mann sieht, ihm bis zu seinem Versteck im Wald folgt und dort herausfindet, dass er ein Menschen fressendes Ungeheuer ist? Die äußere Erscheinung kann täuschen. Hatte sie sich von Kamĩtĩs Aussehen und seinen Handlungen täuschen lassen? Hatte er sie mit seinem Brief absichtlich in die Irre geführt? Wer war Kamĩtĩ wa Karĩmĩri eigentlich? Sie dachte an den feinen Herrn in Amos Tutuolas Buch „Der Palmweintrinker“, der die geborgten Körperteile ihren Besitzern wiedergegeben hatte und nun – als Schädel unter anderen Schädeln – im Wald wohnte. Was wäre wenn …? Plötzlich schien alle Kraft aus ihren Beinen gewichen.

Sie entdeckte am Hang eines Hügels einen Baumstumpf und setzte sich, um sich auszuruhen und über ihre Lage nachzudenken. Sie musste eine Entscheidung treffen. Sollte sie die scheinbar sinnlose Suche fortsetzen oder in die Stadt zurückkehren? Sie ließ den Blick über die offene Ebene schweifen; sie schien weder Anfang noch Ende zu haben, auch wenn in der Ferne die Skyline von Eldares im Dunst rauchender Fabrikschlote und nahender Dunkelheit zu ahnen war.

„Nyawĩra“, rief eine Stimme hinter ihr. Ihr Herz raste, Wärme durchströmte sie. Sie hatte die Stimme erkannt, mochte aber ihren Ohren trotz des Widerhalls nicht trauen. Langsam wandte sie den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien. Da stand Kamĩtĩ, halb hinter einem Busch verborgen.

Sie erhob sich, ging auf ihn zu, und Kamĩtĩ nahm ihre Hand. Bei der Berührung spürte Nyawĩra ihren ganzen Körper zittern, während Kamĩtĩ das Gefühl hatte, sein Blut strömte in die Fingerspitzen und sein ganzer Körper empfände eine Erregung, wie er sie seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte. Nyawĩra ließ sich von ihm tiefer in den Buschwald zu einer grasbedeckten Lichtung führen, die wie ein Innenhof von grauen Steinen umringt war. Er brachte sie in eine Felsenhöhle.

„Herzlich willkommen“, sagte er mit zitternder Stimme.

Nyawĩra war von sich selbst überrascht. Alles, was sie Kamĩtĩ sagen wollte, während sie durch das Grasland gelaufen war, war verschwunden: Sie war unfähig zu sprechen. Wenn sie jetzt redete, würde sie die Wärme, die in der Luft lag, verschrecken. Also standen sie einfach da – vom Dunkel des Abends und tiefem Schweigen umfangen – und hielten sich die Hände, als könnten sie beide nicht glauben, dass dieser Augenblick Wirklichkeit war.

„Ich bin wegen des Honigs des Lebens hier – hast du es nicht so genannt?“, setzte Nyawĩra an, um das Schweigen zu brechen und stellte den Verpflegungskorb an die Felswand.

„Ja“, erwiderte Kamĩtĩ.

Beide glaubten, ihre Worte wären das Vorspiel zu ihrem üblichen unbeschwerten Geplänkel, aber sie begannen, einander auszuziehen. Mit funkelnden Augen, schwer atmend, die Körper vor Erwartung gespannt. Er wollte ihr gerade das Hemd ausziehen, als er plötzlich zögerte.

„Es tut mir leid, aber ich habe keine Kondome hier“, sagte er.

„Nein, hör nicht auf“, sagte Nyawĩra. „Ich habe welche.“ Dann knöpfte sie ihm die Hose auf.

Auf dem Boden der Höhle, umfangen von der Dunkelheit, trug es sie über Täler und Hügel. Sie schwebten durch blaue Wolken hoch zu den Gipfeln reiner Verzückung, wo sie, im Raum verloren, das Gefühl hatten, als drehte sich die ganze Welt, bevor sie wieder herabschwebten, einen Regenbogen herunterrutschten, der Erde entgegen, ihrer Erde, wo das Gras, die Pflanzen und die Tiere ein Schlaflied der Stille zu singen schienen. Nyawĩra und Kamĩtĩ schliefen, jetzt eng umschlungen, den Schlaf von Säuglingen bis zum Anbruch eines neuen Tages.

Herr der Krähen
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