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Als Nyawĩra Kamĩtĩ alles berichtet hatte, was während der Zeit seines Aufenthalts in Kĩambugi im Schrein vorgefallen war, schüttelte er ungläubig den Kopf und murmelte missbilligend: „Das war gefährlich und verantwortungslos.“
Sie saßen im Chou Chinese Gourmet, ihrem Lieblingslokal, das sich auf wunderbar angenehme Weise sowohl von den Restaurants der Oberklasse als auch den Spelunken abhob, zumal beide Extreme oft das Revier darstellten, in dem der Geheimdienst wilderte.
„Du bist derjenige, der mal zu mir gesagt hat, das beste Versteck ist immer dort, wo man am wenigsten vermutet wird.“
„Ja, aber du hast dich absichtlich in große Gefahr begeben. Auge in Auge mit John Kaniũrũ, jemandem, der dich so gut kennt? Und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal!“
Der Kellner brachte die Rechnung und zwei Glückskekse. Nyawĩra bezahlte und nahm einen Keks. Kamĩtĩ nahm den anderen. Fast gleichzeitig brachen sie sie auf und zogen das kleine Papier heraus, auf dem Prophezeiungen zu lesen sind.
„Was steht bei dir drauf?“, wollte Kamĩtĩ wissen.
„Nein, sag du erst, was bei dir draufsteht.“
Sie stichelten eine Weile, wer den Anfang machen sollte, dann schnappten sie das Zettelchen des jeweils anderen und lasen. Der Text war identisch: „Sei auf Überraschungen gefasst!“ Sie lachten.
„In Ordnung. Erzähl mir bitte den Rest von Vinjinias Geschichte, überrasch mich. Vielleicht sind das die Überraschungen, die die Glückskekse vorhersagen.“
„Schau nicht so verschreckt“, sagte Nyawĩra und versuchte, Kamĩtĩ zu besänftigen. „Kaniũrũ konnte mich nicht erkennen. Das erste Mal bin ich ihm in der Abenddämmerung begegnet. Ich hatte einen kanga um den Kopf und einen Nasenring. Beim zweiten Mal trug ich ein traditionelles Gewand und befand mich in einer Frauengruppe, die genauso gekleidet war. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich wieder im College. Wenn ich dort auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand und eine Rolle spielte, konnte ich jeden in die Irre führen. Sogar meine engsten Freundinnen.“
„Mich könntest du nicht in die Irre führen!“, stellte Kamĩtĩ fest.
„Sei dir da nicht so sicher“, gab Nyawĩra zurück und entschuldigte sich, um auf die Toilette zu gehen.
Als er allein war, dachte Kamĩtĩ über alles nach, worüber sie gesprochen hatten. Er war glücklich, dass sie wieder zusammen waren. Die Leichtigkeit ihres Gesprächs trug dazu bei, sich von der Last zu befreien, die er verspürte, seit er vom Tod Margaret Wariaras und dem Unheil erfahren hatte, das das fremde Virus über das Dorf seiner Vorfahren gebracht hatte. Früher hatte er immer die Ruhe des Dorfes gegen die beklemmende Enge der Stadt gestellt. Inzwischen waren die Dinge aber weit vielschichtiger. Seine Sorge mischte sich mit der Verachtung, die er gegen solche wie Matthew Wangahũ und Kaniũrũ hegte. Nyawĩra hatte bei ihrem drastischen Versuch, Vinjinia zu helfen, eine erstaunliche Großherzigkeit und Charakterstärke sowie Selbstaufopferung gezeigt. Er empfand Glück, dass sie seine Gefährtin war. Sie hatte ihm eine neue Sicht auf die Welt vermittelt. Während er über die Sicherheit und die Möglichkeiten ihrer Beziehung nachdachte, verlor er jedes Gefühl für seine Umgebung. Erst ihre Schritte holten ihn aus seiner Traumwelt zurück.
Sie bemerkte seinen erschrockenen Blick und deutete ihn als noch andauernde Angst wegen der Gefahr, in die sie sich während seiner zweiwöchigen Abwesenheit begeben hatte. Sie versuchte, ihn zu beruhigen.
„Hör zu, ich wäre alles andere als aufrichtig, wenn ich nicht zugeben würde, dass mir, als ich Kaniũrũ Auge in Auge gegenüberstand, so war, als müsste ich alle Tarnung abwerfen und ihm zeigen, dass ich noch lebe und wohlauf bin, oder ihm einfach mit einem Messer die Nase abschneiden. Aber ich habe mir jede Dummheit versagt, weil das alles, wofür ich eintrete, gefährdet hätte. Außerdem ging es mir wirklich um Vinjinia. Ich habe nicht vergessen, dass sie einmal meinetwegen verhaftet wurde. Und auch der Stolz hat mich dazu gebracht, ihr zu helfen. Ich will nicht eines Tages den Vorwurf hören, es sei jemand zum Schrein des Herrn der Krähen gekommen, sei aber wieder weggeschickt worden, ohne dass man sich seiner Nöte angenommen hätte. Jetzt freue ich mich, dass Vinjinia friedlich schlafen kann, weil sie weiß, was sie nun weiß.“
„Was denn?“
„Wenn sich der Staat über eine Person ausschweigt, die er verhaftet hat, dann ist das meistens ein Todesurteil. Tajirika war bereits tot. Wir haben ihn ins Leben zurückgeholt.“