16

Als Nyawĩra Kamĩtĩ alles berichtet hatte, was während der Zeit seines Aufenthalts in Kĩambugi im Schrein vorgefallen war, schüttelte er ungläubig den Kopf und murmelte missbilligend: „Das war gefährlich und verantwortungslos.“

Sie saßen im Chou Chinese Gourmet, ihrem Lieblingslokal, das sich auf wunderbar angenehme Weise sowohl von den Restaurants der Oberklasse als auch den Spelunken abhob, zumal beide Extreme oft das Revier darstellten, in dem der Geheimdienst wilderte.

„Du bist derjenige, der mal zu mir gesagt hat, das beste Versteck ist immer dort, wo man am wenigsten vermutet wird.“

„Ja, aber du hast dich absichtlich in große Gefahr begeben. Auge in Auge mit John Kaniũrũ, jemandem, der dich so gut kennt? Und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal!“

Der Kellner brachte die Rechnung und zwei Glückskekse. Nyawĩra bezahlte und nahm einen Keks. Kamĩtĩ nahm den anderen. Fast gleichzeitig brachen sie sie auf und zogen das kleine Papier heraus, auf dem Prophezeiungen zu lesen sind.

„Was steht bei dir drauf?“, wollte Kamĩtĩ wissen.

„Nein, sag du erst, was bei dir draufsteht.“

Sie stichelten eine Weile, wer den Anfang machen sollte, dann schnappten sie das Zettelchen des jeweils anderen und lasen. Der Text war identisch: „Sei auf Überraschungen gefasst!“ Sie lachten.

„In Ordnung. Erzähl mir bitte den Rest von Vinjinias Geschichte, überrasch mich. Vielleicht sind das die Überraschungen, die die Glückskekse vorhersagen.“

„Schau nicht so verschreckt“, sagte Nyawĩra und versuchte, Kamĩtĩ zu besänftigen. „Kaniũrũ konnte mich nicht erkennen. Das erste Mal bin ich ihm in der Abenddämmerung begegnet. Ich hatte einen kanga um den Kopf und einen Nasenring. Beim zweiten Mal trug ich ein traditionelles Gewand und befand mich in einer Frauengruppe, die genauso gekleidet war. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich wieder im College. Wenn ich dort auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand und eine Rolle spielte, konnte ich jeden in die Irre führen. Sogar meine engsten Freundinnen.“

„Mich könntest du nicht in die Irre führen!“, stellte Kamĩtĩ fest.

„Sei dir da nicht so sicher“, gab Nyawĩra zurück und entschuldigte sich, um auf die Toilette zu gehen.

Als er allein war, dachte Kamĩtĩ über alles nach, worüber sie gesprochen hatten. Er war glücklich, dass sie wieder zusammen waren. Die Leichtigkeit ihres Gesprächs trug dazu bei, sich von der Last zu befreien, die er verspürte, seit er vom Tod Margaret Wariaras und dem Unheil erfahren hatte, das das fremde Virus über das Dorf seiner Vorfahren gebracht hatte. Früher hatte er immer die Ruhe des Dorfes gegen die beklemmende Enge der Stadt gestellt. Inzwischen waren die Dinge aber weit vielschichtiger. Seine Sorge mischte sich mit der Verachtung, die er gegen solche wie Matthew Wangahũ und Kaniũrũ hegte. Nyawĩra hatte bei ihrem drastischen Versuch, Vinjinia zu helfen, eine erstaunliche Großherzigkeit und Charakterstärke sowie Selbstaufopferung gezeigt. Er empfand Glück, dass sie seine Gefährtin war. Sie hatte ihm eine neue Sicht auf die Welt vermittelt. Während er über die Sicherheit und die Möglichkeiten ihrer Beziehung nachdachte, verlor er jedes Gefühl für seine Umgebung. Erst ihre Schritte holten ihn aus seiner Traumwelt zurück.

Sie bemerkte seinen erschrockenen Blick und deutete ihn als noch andauernde Angst wegen der Gefahr, in die sie sich während seiner zweiwöchigen Abwesenheit begeben hatte. Sie versuchte, ihn zu beruhigen.

„Hör zu, ich wäre alles andere als aufrichtig, wenn ich nicht zugeben würde, dass mir, als ich Kaniũrũ Auge in Auge gegenüberstand, so war, als müsste ich alle Tarnung abwerfen und ihm zeigen, dass ich noch lebe und wohlauf bin, oder ihm einfach mit einem Messer die Nase abschneiden. Aber ich habe mir jede Dummheit versagt, weil das alles, wofür ich eintrete, gefährdet hätte. Außerdem ging es mir wirklich um Vinjinia. Ich habe nicht vergessen, dass sie einmal meinetwegen verhaftet wurde. Und auch der Stolz hat mich dazu gebracht, ihr zu helfen. Ich will nicht eines Tages den Vorwurf hören, es sei jemand zum Schrein des Herrn der Krähen gekommen, sei aber wieder weggeschickt worden, ohne dass man sich seiner Nöte angenommen hätte. Jetzt freue ich mich, dass Vinjinia friedlich schlafen kann, weil sie weiß, was sie nun weiß.“

„Was denn?“

„Wenn sich der Staat über eine Person ausschweigt, die er verhaftet hat, dann ist das meistens ein Todesurteil. Tajirika war bereits tot. Wir haben ihn ins Leben zurückgeholt.“

Herr der Krähen
titlepage.xhtml
cover.xhtml
copy.xhtml
titel.xhtml
wid.xhtml
zitate.xhtml
inhalt.xhtml
book1.xhtml
ch01.xhtml
ch02.xhtml
ch03.xhtml
ch04.xhtml
ch05.xhtml
ch06.xhtml
ch07.xhtml
ch08.xhtml
ch09.xhtml
ch10.xhtml
ch11.xhtml
ch12.xhtml
ch13.xhtml
ch14.xhtml
ch15.xhtml
book2.xhtml
book2p1.xhtml
ch16.xhtml
ch17.xhtml
ch18.xhtml
ch19.xhtml
ch20.xhtml
ch21.xhtml
ch22.xhtml
ch23.xhtml
ch24.xhtml
ch25.xhtml
ch26.xhtml
ch27.xhtml
ch28.xhtml
ch29.xhtml
ch30.xhtml
ch31.xhtml
ch32.xhtml
book2p2.xhtml
ch33.xhtml
ch34.xhtml
ch35.xhtml
ch36.xhtml
ch37.xhtml
ch38.xhtml
ch39.xhtml
ch40.xhtml
ch41.xhtml
ch42.xhtml
ch43.xhtml
ch44.xhtml
ch45.xhtml
ch46.xhtml
ch47.xhtml
ch48.xhtml
ch49.xhtml
ch50.xhtml
ch51.xhtml
ch52.xhtml
ch53.xhtml
book2p3.xhtml
ch54.xhtml
ch55.xhtml
ch56.xhtml
ch57.xhtml
ch58.xhtml
ch59.xhtml
ch60.xhtml
ch61.xhtml
ch62.xhtml
ch63.xhtml
ch64.xhtml
ch65.xhtml
ch66.xhtml
ch67.xhtml
ch68.xhtml
book3.xhtml
book3p1.xhtml
ch70.xhtml
ch71.xhtml
ch72.xhtml
ch73.xhtml
ch74.xhtml
ch75.xhtml
ch76.xhtml
ch77.xhtml
ch78.xhtml
ch79.xhtml
ch80.xhtml
ch81.xhtml
ch82.xhtml
ch83.xhtml
ch84.xhtml
ch85.xhtml
ch86.xhtml
ch87.xhtml
book3p2.xhtml
ch88.xhtml
ch89.xhtml
ch90.xhtml
ch91.xhtml
ch92.xhtml
ch93.xhtml
ch94.xhtml
ch95.xhtml
ch96.xhtml
ch97.xhtml
ch98.xhtml
ch99.xhtml
ch100.xhtml
ch101.xhtml
ch102.xhtml
ch103.xhtml
ch104.xhtml
ch105.xhtml
ch106.xhtml
ch107.xhtml
ch108.xhtml
ch109.xhtml
ch110.xhtml
book3p3.xhtml
ch111.xhtml
ch112.xhtml
ch113.xhtml
ch114.xhtml
ch115.xhtml
ch116.xhtml
ch117.xhtml
ch118.xhtml
ch119.xhtml
ch120.xhtml
ch121.xhtml
ch122.xhtml
ch123.xhtml
ch124.xhtml
ch125.xhtml
ch126.xhtml
book4.xhtml
book4p1.xhtml
ch127.xhtml
ch128.xhtml
ch129.xhtml
ch130.xhtml
ch131.xhtml
ch132.xhtml
ch133.xhtml
ch134.xhtml
ch135.xhtml
ch136.xhtml
ch137.xhtml
ch138.xhtml
ch139.xhtml
ch140.xhtml
ch141.xhtml
ch142.xhtml
ch143.xhtml
ch144.xhtml
ch145.xhtml
ch146.xhtml
ch147.xhtml
ch148.xhtml
ch149.xhtml
ch150.xhtml
ch151.xhtml
book4p2.xhtml
ch152.xhtml
ch153.xhtml
ch154.xhtml
ch155.xhtml
ch156.xhtml
ch157.xhtml
ch158.xhtml
ch159.xhtml
ch160.xhtml
ch161.xhtml
ch162.xhtml
ch163.xhtml
ch164.xhtml
ch165.xhtml
ch166.xhtml
ch167.xhtml
ch168.xhtml
ch169.xhtml
ch170.xhtml
ch171.xhtml
ch172.xhtml
book4p3.xhtml
ch173.xhtml
ch174.xhtml
ch175.xhtml
ch176.xhtml
ch177.xhtml
ch178.xhtml
ch179.xhtml
ch180.xhtml
ch181.xhtml
ch182.xhtml
ch183.xhtml
ch184.xhtml
ch185.xhtml
ch186.xhtml
ch187.xhtml
ch188.xhtml
ch189.xhtml
ch190.xhtml
ch191.xhtml
ch192.xhtml
ch193.xhtml
ch194.xhtml
ch195.xhtml
ch196.xhtml
ch197.xhtml
book5.xhtml
book5p1.xhtml
ch198.xhtml
ch199.xhtml
ch200.xhtml
ch201.xhtml
ch202.xhtml
ch203.xhtml
ch204.xhtml
ch205.xhtml
ch206.xhtml
ch207.xhtml
ch208.xhtml
ch209.xhtml
ch210.xhtml
ch211.xhtml
ch212.xhtml
ch213.xhtml
ch214.xhtml
ch215.xhtml
ch216.xhtml
ch217.xhtml
ch218.xhtml
ch219.xhtml
ch220.xhtml
ch221.xhtml
ch222.xhtml
ch223.xhtml
ch224.xhtml
ch225.xhtml
ch226.xhtml
book5p2.xhtml
ch227.xhtml
ch228.xhtml
ch229.xhtml
ch230.xhtml
ch231.xhtml
ch232.xhtml
ch233.xhtml
ch234.xhtml
ch235.xhtml
ch236.xhtml
ch237.xhtml
ch238.xhtml
book5p3.xhtml
ch239.xhtml
ch240.xhtml
book6.xhtml
ch241.xhtml
ch242.xhtml
ch243.xhtml
ch244.xhtml
ch245.xhtml
ch246.xhtml
ch247.xhtml
ch248.xhtml
ch249.xhtml
ch250.xhtml
ch251.xhtml
ch252.xhtml
ch253.xhtml
ch254.xhtml
dank.xhtml
author.xhtml
bm2.xhtml