3

Später, als sie am Ufer auf dem Rücken lagen, drehte Kamĩtĩ sich zu Nyawĩra und kam ohne Umschweife auf seine Rückkehr aus Amerika zu sprechen.

„Warum willst du dich so kurz nach unserer Landung aus den Wolken mit schmerzhaften Erinnerungen quälen?“

„Die Liebe erinnerte mich an den Verlust. Als ich dich gesucht habe, fühlte ich mich wegen der vielen Dinge, die ich dich hatte fragen wollen, aber nicht gefragt habe, oft den Tränen nahe. Dieses Bedauern wurde immer größer, je mehr es so aussah, als würde ich dich niemals wiedersehen. Es geschieht nicht oft im Leben, dass man sagen kann, man habe eine zweite Chance bekommen. Und jetzt möchte ich sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.“

„Frag und schau, ob dir gegeben wird“, meinte Nyawĩra.

„Findest du nicht auch, es wäre Zeit, ein neues Heim zu bauen?“

„Den Schrein wieder aufbauen?“

„Ich spreche nicht über ein Gebäude. Ich rede davon, den Knoten festzuziehen.“

Nyawĩra dachte über diesen Vorschlag nach, aber nicht lange, denn auch sie ging nicht zum ersten Mal dieser Frage nach.

„Weißt du eigentlich, dass ich in der ganzen Zeit, in der Kaniũrũ und ich befreundet waren und zusammengelebt haben, nicht ein einziges Mal davon geträumt habe, mit ihm Kinder zu haben? Seit ich dich kenne, träume ich jeden Tag davon und stelle mir oft vor, wie unsere Kinder aussehen und ob sie mehr von dir oder von mir haben würden. Diese Träume sind ständig da, sogar jetzt, wenn wir hier sitzen. Irgendwie sind wir bereits verheiratet. Gibt es einen festeren Knoten als die freie Vereinigung der Seelen? Der Rest ist eine Zeremonie, mit der diese Vereinigung gesegnet wird, und die können wir haben, wann immer die Zeit und die Umstände es erlauben. Im Augenblick gibt es viel zu tun, um Fäulnis und Unrat zu beseitigen, die über das Land gekommen sind, und die Luft zu reinigen.“

In ihrem Ton lag eine solche Bestimmtheit, dass Kamĩtĩ nicht weiter in sie drang. Sie merkte, dass sie ein wenig zu harsch gewesen war, und ließ ihre Stimme jetzt sanfter klingen.

„Nichts ist umsonst. Hier ist eine Aufgabe für dich. Jedes Mal, wenn es dir nicht gelungen ist, mich unter meiner Verkleidung zu erkennen, hast du behauptet, dass es dir nicht noch einmal passieren würde.“

„Ich muss zugeben, dass ich dich als Hinkende Hexe niemals erkannt hätte“, sagte er bewundernd. „Aber nächstes Mal wird es anders sein. Ich sehe wirklich nicht, wie du diese Vorstellung noch übertreffen willst.“

„Wollen wir wetten?“

„Das hängt vom Einsatz ab.“

„Wenn es dir gelingt, mich zu durchschauen, kaufe ich die Eheringe, wenn du verlierst, kaufst du sie.“

„Einverstanden. Auch wenn das die Frage nach dem Zeitpunkt nicht beantwortet. Erzähl mir bitte mehr über die Bewegung für die Stimme des Volkes.“

Überrascht drehte sich Nyawĩra zu ihm hin und schaute ihn an.

„Weißt du“, sagte sie nach einer Pause, „du musst nicht politisch Stellung beziehen, nur um mich glücklich zu machen. Auch wenn wir so weiterleben wie jetzt, werden wir, so Gott will, das Heim unserer Träume haben.“

„Ich weiß, aber lass mich ausreden. Während unseres Aufenthalts hier habe ich über vieles nachgedacht, worüber wir seit unserer ersten Begegnung gesprochen haben. Jetzt stimme ich dir zu, dass die Aufgabe, das Land zu heilen, weder von einer Person noch von vielen bewältigt werden kann, wenn jeder nur für sich allein handelt.“

„Was möchtest du wissen? Wo wir stehen? Unsere Sicht unterscheidet sich nicht sonderlich von der, die du bei der Volksversammlung umrissen hast. In Aburĩria gibt es die, die ernten, was sie nie gesät haben, und die, die säen und kaum je ernten, was sie säten. Das erste Lager ist, auch wenn man seine Verbündeten im Ausland einrechnet, klein, und doch kann es über das zweite herrschen, weil es ihm gelingt, dieses durch ethnische Ausgrenzung und manchmal nach religiöser und Geschlechterzugehörigkeit zu spalten. Unsere Bewegung möchte das umkehren. Wir fragen die Menschen nicht nach dem Volk, zu dem sie gehören, sondern nach ihrer Haltung zu den gegensätzlichen Interessen der beiden Lager. Für die ethnische Zugehörigkeit kann man nichts, man wird hineingeboren, aber man kann souverän entscheiden, mit wem man sich einlässt. Biologie ist Schicksal. Politik ist Wahl. Nein, das Leben selbst des Geringsten unter uns ist heilig, und es darf keine Region oder Gemeinschaft geben, die schweigt, wenn Menschen einer anderen Region oder Gemeinschaft abgeschlachtet werden. Die Errungenschaften von Wissenschaft, Technologie und Kunst sollen das Leben der Menschen bereichern und nicht ihre Abschlachtung ermöglichen. Wir sind dagegen, den Frauen die Last des Althergebrachten aufzubürden, für das es ein Umfeld gab, auf dem es einst nötig und vielleicht sogar nützlich war. Das Umfeld ist weg, aber die Praxis bleibt“, sagte sie.

„Was ich eigentlich wissen will, ist, wie kann man einer von euch werden?“

„Frag oder werde gefragt. Du bist einmal gebeten worden. Dein Schweigen wurde so ausgelegt, dass du nicht bereit warst oder nicht wolltest. Wir zwingen niemanden mit Tricks, Schwüren, Gewalt oder Bestechung in die Bewegung. Jetzt musst du darum bitten, dich uns anschließen zu dürfen.“

„Ich verstehe. Weißt du, obwohl ich die innere Wirkungsweise eurer Bewegung nicht kenne, weder ihre Führer noch ihr Programm, habe ich die Ergebnisse ihrer Arbeit gesehen. Wie die Bewegung dem spontanen Schlangenbilden Zweck und Richtung gegeben hat, bewies mir ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Die meisten Politiker wollen das Volk beherrschen. Eure Leute wollen jedoch zuerst sich selbst beherrschen, bevor sie über andere herrschen. Ich möchte mit euch zusammenarbeiten. Ich frage jetzt: Kann ich mich den anderen anschließen?“, sagte Kamĩtĩ entschlossen.

„Ich werde deine Bitte unserem Komitee vortragen.“

„Und da ich jetzt geheilt bin: Was machen wir nun?“, fragte er.

„Wir gehen zurück nach Eldares“, antwortete sie. „Das Volk ist unser bester Schutz.“

„Stimmt, und da der Staat uns bereits zwei Mal für tot erklärt hat“, fügte Kamĩtĩ nachdenklich hinzu, „werden sie nicht nach uns suchen. Und wenn sie uns zufällig sehen, werden sie glauben, wir seien Geister, und davonrennen.“

„Oder uns auf der Stelle umbringen und vergraben“, erwiderte Nyawĩra düster. „Wir müssen trotzdem zurück. Wir dürfen das Schicksal der Nation nicht den Menschenfressern überlassen.“

Herr der Krähen
titlepage.xhtml
cover.xhtml
copy.xhtml
titel.xhtml
wid.xhtml
zitate.xhtml
inhalt.xhtml
book1.xhtml
ch01.xhtml
ch02.xhtml
ch03.xhtml
ch04.xhtml
ch05.xhtml
ch06.xhtml
ch07.xhtml
ch08.xhtml
ch09.xhtml
ch10.xhtml
ch11.xhtml
ch12.xhtml
ch13.xhtml
ch14.xhtml
ch15.xhtml
book2.xhtml
book2p1.xhtml
ch16.xhtml
ch17.xhtml
ch18.xhtml
ch19.xhtml
ch20.xhtml
ch21.xhtml
ch22.xhtml
ch23.xhtml
ch24.xhtml
ch25.xhtml
ch26.xhtml
ch27.xhtml
ch28.xhtml
ch29.xhtml
ch30.xhtml
ch31.xhtml
ch32.xhtml
book2p2.xhtml
ch33.xhtml
ch34.xhtml
ch35.xhtml
ch36.xhtml
ch37.xhtml
ch38.xhtml
ch39.xhtml
ch40.xhtml
ch41.xhtml
ch42.xhtml
ch43.xhtml
ch44.xhtml
ch45.xhtml
ch46.xhtml
ch47.xhtml
ch48.xhtml
ch49.xhtml
ch50.xhtml
ch51.xhtml
ch52.xhtml
ch53.xhtml
book2p3.xhtml
ch54.xhtml
ch55.xhtml
ch56.xhtml
ch57.xhtml
ch58.xhtml
ch59.xhtml
ch60.xhtml
ch61.xhtml
ch62.xhtml
ch63.xhtml
ch64.xhtml
ch65.xhtml
ch66.xhtml
ch67.xhtml
ch68.xhtml
book3.xhtml
book3p1.xhtml
ch70.xhtml
ch71.xhtml
ch72.xhtml
ch73.xhtml
ch74.xhtml
ch75.xhtml
ch76.xhtml
ch77.xhtml
ch78.xhtml
ch79.xhtml
ch80.xhtml
ch81.xhtml
ch82.xhtml
ch83.xhtml
ch84.xhtml
ch85.xhtml
ch86.xhtml
ch87.xhtml
book3p2.xhtml
ch88.xhtml
ch89.xhtml
ch90.xhtml
ch91.xhtml
ch92.xhtml
ch93.xhtml
ch94.xhtml
ch95.xhtml
ch96.xhtml
ch97.xhtml
ch98.xhtml
ch99.xhtml
ch100.xhtml
ch101.xhtml
ch102.xhtml
ch103.xhtml
ch104.xhtml
ch105.xhtml
ch106.xhtml
ch107.xhtml
ch108.xhtml
ch109.xhtml
ch110.xhtml
book3p3.xhtml
ch111.xhtml
ch112.xhtml
ch113.xhtml
ch114.xhtml
ch115.xhtml
ch116.xhtml
ch117.xhtml
ch118.xhtml
ch119.xhtml
ch120.xhtml
ch121.xhtml
ch122.xhtml
ch123.xhtml
ch124.xhtml
ch125.xhtml
ch126.xhtml
book4.xhtml
book4p1.xhtml
ch127.xhtml
ch128.xhtml
ch129.xhtml
ch130.xhtml
ch131.xhtml
ch132.xhtml
ch133.xhtml
ch134.xhtml
ch135.xhtml
ch136.xhtml
ch137.xhtml
ch138.xhtml
ch139.xhtml
ch140.xhtml
ch141.xhtml
ch142.xhtml
ch143.xhtml
ch144.xhtml
ch145.xhtml
ch146.xhtml
ch147.xhtml
ch148.xhtml
ch149.xhtml
ch150.xhtml
ch151.xhtml
book4p2.xhtml
ch152.xhtml
ch153.xhtml
ch154.xhtml
ch155.xhtml
ch156.xhtml
ch157.xhtml
ch158.xhtml
ch159.xhtml
ch160.xhtml
ch161.xhtml
ch162.xhtml
ch163.xhtml
ch164.xhtml
ch165.xhtml
ch166.xhtml
ch167.xhtml
ch168.xhtml
ch169.xhtml
ch170.xhtml
ch171.xhtml
ch172.xhtml
book4p3.xhtml
ch173.xhtml
ch174.xhtml
ch175.xhtml
ch176.xhtml
ch177.xhtml
ch178.xhtml
ch179.xhtml
ch180.xhtml
ch181.xhtml
ch182.xhtml
ch183.xhtml
ch184.xhtml
ch185.xhtml
ch186.xhtml
ch187.xhtml
ch188.xhtml
ch189.xhtml
ch190.xhtml
ch191.xhtml
ch192.xhtml
ch193.xhtml
ch194.xhtml
ch195.xhtml
ch196.xhtml
ch197.xhtml
book5.xhtml
book5p1.xhtml
ch198.xhtml
ch199.xhtml
ch200.xhtml
ch201.xhtml
ch202.xhtml
ch203.xhtml
ch204.xhtml
ch205.xhtml
ch206.xhtml
ch207.xhtml
ch208.xhtml
ch209.xhtml
ch210.xhtml
ch211.xhtml
ch212.xhtml
ch213.xhtml
ch214.xhtml
ch215.xhtml
ch216.xhtml
ch217.xhtml
ch218.xhtml
ch219.xhtml
ch220.xhtml
ch221.xhtml
ch222.xhtml
ch223.xhtml
ch224.xhtml
ch225.xhtml
ch226.xhtml
book5p2.xhtml
ch227.xhtml
ch228.xhtml
ch229.xhtml
ch230.xhtml
ch231.xhtml
ch232.xhtml
ch233.xhtml
ch234.xhtml
ch235.xhtml
ch236.xhtml
ch237.xhtml
ch238.xhtml
book5p3.xhtml
ch239.xhtml
ch240.xhtml
book6.xhtml
ch241.xhtml
ch242.xhtml
ch243.xhtml
ch244.xhtml
ch245.xhtml
ch246.xhtml
ch247.xhtml
ch248.xhtml
ch249.xhtml
ch250.xhtml
ch251.xhtml
ch252.xhtml
ch253.xhtml
ch254.xhtml
dank.xhtml
author.xhtml
bm2.xhtml