14
Kamĩtĩ machte es wie zuvor: Er stellte einen Spiegel in das Fenster und wieder wurde Tajirika von ihm angezogen wie die Motte vom Licht und fing an, sich zu kratzen. Diesmal versuchte Vinjinia, die sich über die kurzzeitige Erholung und den plötzlichen Rückfall ausschwieg, gar nicht erst, ihn zurückzuhalten. Kamĩtĩ nahm den Spiegel wieder weg, sein Blick und der Tajirikas waren starr geradeaus gerichtet. Er schien darum zu betteln, den Spiegel wieder an seinen Platz gestellt zu bekommen.
„Ich werde dir erlauben, in den Spiegel zu schauen“, sagte der Herr der Krähen freundlich, sanft und deutlich, als wollte er ein Kind mit der Aussicht auf eine Süßigkeit ködern, „aber erst müssen wir zwei uns unterhalten. Wenn ich den Spiegel wieder hinstelle, versprichst du mir dann, dich zu bemühen, die Worte auszusprechen, die in dir festsitzen? Wirst du mir erlauben, deine Gedanken zu vervollständigen?“
Tajirika nickte ungeduldig, als würde er alles tun, um noch einmal den Spiegel sehen zu dürfen. Kaum hatte der Herr der Krähen den Spiegel hingestellt, begann Tajirika erneut, sich zu kratzen, und murmelte zahllose „Wenns“ vor sich hin.
Jetzt schien die Stimme des Herrn der Krähen direkt aus dem Spiegel zu kommen.
„Spuck die Worte aus, die guten wie die schlechten!“
„Wenn …“, setzte Tajirika an und stockte.
„Weiter“, drängte der Herr der Krähen.
„Nur meine …“, fügte Tajirika stockend hinzu.
„Mehr.“
„Haut …“
„Nicht aufhören.“
„Nicht …“
„Gut, weiter so …“
„Schwarz wäre.“
Tajirika unterbrach sich, als müsste er erst wieder zu Atem kommen, bevor er den nächsten Berg erklomm. Wieder erhob sich die befehlende Stimme im Spiegel.
„Denk den Gedanken zu Ende. Den guten und den bösen. Denk den Gedanken zu Ende!“
„Wenn ich …“
„Ja!“
„Doch nur …“
„Nicht aufhören!“
„Weiß wäre … wie ein … richtiger … Weißer …“, sagte Tajirika, der jedes Wort beinahe buchstabierte, als lernte er lesen.
„Na also! Endlich hast du den trügerischen Gedanken ausgesprochen!“, gratulierte der Herr der Krähen und nahm den Spiegel aus dem Fenster.
Tajirika gierte nicht mehr nach dem Spiegel und sein Gesicht strahlte wie schon seit Wochen nicht mehr. Ehrfürchtig schaute er den Herrn der Krähen an.
„Ich möchte, dass du deine Gedanken jetzt ohne Hilfe des Spiegels aussprichst“, befahl ihm der Herr der Krähen.
„Wenn … nur meine … Haut … nicht … schwarz … wäre! Wenn ich doch nur weiß wäre!“, sagte Tajirika triumphierend wie ein Kind, das zum ersten Mal einen ganzen Satz gelesen hat, ohne sich zu verhaspeln. Eine Last war ihm vom Herzen gefallen, und nachdem er seine geheimen Wünsche ausgesprochen hatte, wandte er den Kopf von dem kleinen Fenster ab und sah seine Frau an. Sein Gesicht strahlte vor umfassender Dankbarkeit, wie das eines Gläubigen, der gerade seine Sünden gebeichtet und sich in die Hände von Jesus als seinem persönlichen Erlöser begeben hat.
„Du hast es selbst gehört“, wandte sich der Herr der Krähen jetzt an Vinjinia. „Die Dämonen des Weißseins haben von deinem Mann in der Nacht Besitz ergriffen, als er mit diesen drei Säcken voller Geld nach Hause gekommen ist. Erinnerst du dich noch, wie du mir erzählt hast, er hätte nach dem Zählen des Geldes die Füße auf den Tisch gelegt und die Augen geschlossen? Das war die Stunde des Unheils! Als er in die Zukunft schaute, wurde ihm plötzlich klar, er würde, so schnell wie das Geld hereinkam, schon bald der reichste Mann Afrikas sein, doch das Einzige, was ihm fehlte, um ihn von allen anderen reichen Schwarzen zu unterscheiden, wäre die weiße Hautfarbe. Seine Hautfarbe stand zwischen ihm und dem Himmel seiner Begierden. Und wenn er sich im Gesicht kratzte, drängten ihn die Dämonen in seinem Innern, sich von seinem Schwarzsein zu lösen und eine Verbindung mit dem Weißsein einzugehen. Kurz, er leidet an einem schweren Fall von Weiß-Wahn.“
Tajirika nickte fortwährend, um zu zeigen, wie sehr auch er jedem Wort der Diagnose zustimmte. Er war glücklich und erleichtert, weil er sich schon mit diesem Selbsthass herumgeschlagen hatte, bevor er zu dem Geld gekommen war. Aber er konnte ihn stets unterdrücken. Jetzt war es diesem Hexer, dank der Krankheit und Vinjinia, die ihn hergebracht hatte, gelungen, ihn zu diesem Bekenntnis zu bewegen. Bis zum heutigen Tag gab es niemanden, mit dem er sein Geheimnis hätte teilen können, jetzt aber hatte er das Gefühl, als wären die Anwesenden Zeugen seines bevorstehenden Paktes mit seinem weißen Schicksal.
Kurz darauf befiel ihn jedoch eine tiefe Traurigkeit. Menschen konnten nicht einfach nach Belieben schwarz oder weiß werden; sie wurden so geboren. Es war ein völlig unerreichbarer Wunsch, und sich nach dem Unerreichbaren zu verzehren, bis es einen auffraß, war wahrhaftig eine Krankheit, die ihn den Rest seines Lebens peinigen würde.
„Und wie kann man diesen Weiß-Wahn heilen?“, fragte Vinjinia, die zwar glücklich war, dass ihr Mann sein Verlangen ausgesprochen hatte, gleichzeitig aber fürchtete, die Krankheit könnte wieder zurückkehren.
Tajirika wartete auf eine Antwort, und weil er glaubte, der Herr der Krähen rückte zu zögernd damit heraus, unterstützte er seine flehende Frau. „Wie kann man das heilen?“, fragte er.
„Tajirika, du weißt über Pocken Bescheid?“
„Eine schreckliche Krankheit ist das, eine Geißel geradezu. Hat Ende des neunzehnten Jahrhunderts fast alle Schwarzen ausgelöscht. In gewisser Weise war sie schlimmer als das Todesvirus, das heute umgeht. Ziemlich ansteckend, und man konnte es überhaupt nicht verhindern. Nur wenn man Glück hatte. Gott sei Dank, gibt es die nicht mehr.“
„Und wie wurde sie besiegt?“
„Durch Massenimpfungen.“
„Genau. Man hat die Menschen mit den Krankheitserregern der Pocken geimpft. So war es auch mit der Tuberkulose. Tajirika, hast du schon mal Speck gebraten?“
„Eier, Würstchen und Speck sind meine Leibspeise, wenn mich nachts der Hunger überfällt“, antwortete Tajirika. „Aber natürlich ist es meine Frau, die kocht.“
„Welches Öl nimmt sie zum Speck braten?“
„Herr der Krähen, ist das Ihr Ernst? Haben Sie nie das Sprichwort gehört, dass man ein Schwein in seinem eigenen Fett braten soll? Aber was haben Pocken, Tuberkulose und Schweinefleisch mit Weiß-Wahn zu tun?“
„Kehr die Krankheit gegen sie selbst! Werde Weißer!“
Tajirika traute seinen Ohren nicht! Hier saß er, tieftraurig wegen der Erkenntnis, niemals weiß werden zu können, egal wie wohlhabend er war, und dann kam dieser Hexenmeister und behauptete, es gebe tatsächlich einen Weg, Weißer zu werden. Das Unmögliche könnte möglich gemacht werden!
„Wie?“, fragte er zweifelnd, nachdem er sich von dem angenehmen Schock erholt hatte. „Ich hoffe, Sie denken nicht an eine Hauttransplantation?“
„Oh, nein, es ist viel einfacher und nicht so schmerzhaft“, antwortete der Herr der Krähen. „Weiß zu werden ist wirklich einfach, aber es erfordert Arbeit, harte Arbeit.“
„Erzählen Sie mehr – ich bin bereit“, warf Tajirika ein und gab sich ganz seiner Freude über diese unerwartete Wendung in den wechselvollen Gezeiten seines Erdendaseins hin, denn so konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: seinen Weiß-Wahn heilen und gleichzeitig Weißer werden. „Herr der Krähen, zeigen Sie mir, wie ich Weißer werden kann. Ich bin bereit, alles zu tun, was nötig ist. Und wenn es getan ist, gebe ich Ihnen gerne, was immer Sie sich wünschen!“
„Zunächst hilf mir, ein Rätsel zu lösen“, forderte der Herr der Krähen.
„Sagen Sie schon!“
„Woran erkennt man das Wesen eines Menschen zuerst?“
„An seiner Hautfarbe!“
„Falsch, Tajirika. Sehen wir uns mal die Geschichte an. Als die Afrikaner im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert als Sklaven über den Atlantischen Ozean gebracht wurden, was nahmen die Weißen den Afrikanern in der Neuen Welt als Erstes?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Tajirika, der sich fragte, was die Sklaverei vergangener Jahrhunderte mit dem zu tun haben sollte, worüber sie gerade sprachen.
„In Ordnung, dann will ich dir eine andere Frage stellen. Wenn ein Kind geboren wird, was machen da Vater und Mutter, um es von anderen Kindern zu unterscheiden?“
„Geben ihm einen Namen?“
„Genau. Und was machten die weißen Sklavenhalter mit ihren schwarzen Sklaven? Sie nahmen ihnen den Namen, um sie zu denen zu machen, die sie haben wollten. Kannst du mir folgen?“
„Ja, Herr der Krähen.“
„Um weiß zu werden, musst du also zuerst deinen Namen aufgeben. Und im Gegensatz zu den Afrikanern, die man dazu gezwungen hat, musst du deinen freiwillig ablegen und ein untertäniger Sklave werden.“
„Das ist keine große Sache. Tajirika hat sich erledigt!“ Tajirika fragte sich, wieso der Herr der Krähen gesagt hatte, es würde harte Arbeit erfordern, Weißer zu werden. „Und als Nächstes?“
„Die Sklaven wurden dazu gezwungen, den Namen ihres Herrn anzunehmen. Du aber, Tajirika, hast Glück, weil du aus Tausenden europäischen Namen frei wählen kannst.“
„Das ist ja noch einfacher. Ich habe schon einen: Titus“, erwiderte er stolz, als hätte er schon immer alles richtig gemacht.
„Titus? Na gut, sehen wir uns den mal näher an. Weißt du, woher dieser Name stammt? Ich meine, auf wen er sich bezieht?“
„Keine Ahnung.“
„Was ist in dich gefahren, Titus? Vergisst du deine Religion?“, mischte sich Vinjinia plötzlich ein. „Weißt du nicht, dass Titus ein Konvertit war und dem Heiligen Paulus geholfen hat? Der Heilige Paulus hat ihm sogar einen Brief geschrieben, der Brief des Paulus an Titus.“
„Ach, daher kommt der Name?“, sagte Tajirika.
„Es gab noch einen anderen Titus“, ergänzte der Herr der Krähen. „Titus Flavius Vespasianus, römischer Kaiser. Im Baugeschäft tätig, genau wie du. Vollendete das Kolosseum in Rom. Kaiser und Heiliger. Nicht schlecht, ein Name der beides beinhaltet.“
„Dieser Kaiser und der Heilige, waren die weiß?“, fragte Tajirika in zweifelndem Ton.
„Ja“, antwortete der Herr der Krähen.
„Titus ist also weiß!“, sagte Tajirika und war wieder glücklich.
„Nur ist das durch die Jahre des Kontakts mit deinem afrikanischen Tajirika befleckt worden“, warf Vinjinia ein.
„Stimmt. Wähle den Namen, der am besten deinen Träumen vom Weißsein entspricht. Du hast freie Auswahl. Wähle, wer und was du in Zukunft sein willst. Verstehst du, was ich meine?“
„Ja, Herr der Krähen.“
„Nun, Titus“, rief der Herr der Krähen plötzlich im Befehlston. „Wie heißt du? Wie lautet dein vollständiger neuer Name?“
„Clement Clarence Whitehead“, antwortete Tajirika stolz wie ein Pfau. „Und was jetzt?“, fragte er wieder und rieb sich die Hände.
„Zuerst verliert der Sklave seinen Namen und anschließend seine Sprache. Also, Mr. Clement Clarence Whitehead, Sie wissen, was als Nächstes zu tun ist. Ihre Sprache. Geben Sie sie auf!“
„Schon geschehen.“
„Dann sprich von nun an Englisch wie ein Weißer.“
„Damit habe ich bereits angefangen“, versicherte Tajirika dem Herrn der Krähen und rasselte ein paar Sätze herunter: „Hi! Give me fi! I am Clement Clarence Whitehead …”
„Nein, kein amerikanisches Englisch, Mr. Whitehead. Das sogenannte amerikanische Englisch ist durch und durch vom schwarzen Englisch durchsetzt, das man jetzt Ebonics nennt.“
„Daran sind diese billigen amerikanischen Fernsehserien schuld, die wir immer sehen. Die verderben uns die Sprache. Ich will kein Ebonics – ich will das Original. Ich schwöre, mich von jetzt an zu bemühen, mein Englisch zu verbessern. Das ist schwer und ich werde viel üben müssen.“
„Gut gesprochen“, sagte der Herr der Krähen. „Von nichts kommt nichts.“
„Also haben wir, was wir brauchen. Und jetzt?“, fragte Tajirika ein wenig ungeduldig, bereit, auch die verbleibenden Schritte zum Weißsein zu unternehmen.
„Mr. Whitehead, wir kommen jetzt zum schwierigsten Teil, und deshalb sollten Sie ganz genau zuhören. Was sagt die Bibel über die Ehe, den heiligen Bund der Ehe?“
„Dass die Frauen ihren Männern untertan sein sollen.“
„Ja, aber das kommt erst, nachdem sie geheiratet haben. Was steht da zur Eheschließung selbst? Was sagt die Bibel dazu?“
„Herr der Krähen, kommen Sie da nicht ein bisschen vom Thema ab?“, fragte Tajirika nach, wobei er sich Mühe gab, es beiläufig zu sagen, weil er seinen Wohltäter nicht beleidigen wollte.
„Wenn zwei Menschen den heiligen Bund der Ehe eingehen, dann werden sie eins im Fleische. Oder so ähnlich.“
„Und, hat das damit zu tun, Weißer zu werden?“
„Das ist doch logisch, Mr. Clement Clarence Whitehead, einfache weiße Logik. Ein afrikanischer Weiser hat gesagt, die Weißen werden von Vernunft gesteuert und die Schwarzen vom Gefühl. Denken Sie also mit weißer Logik und nicht mit schwarzem Gefühl. Wenn es stimmt, dass ein Mann und eine Frau durch den heiligen Bund der Ehe eins im Fleische werden, dann ist der kürzeste und sicherste Weg zur Veränderung der eigenen Hautfarbe, eine Frau mit der Hautfarbe zu heiraten, die man selber anstrebt. Das bedeutet, Mr. Whitehead, Sie müssen eine Weiße heiraten, um die weiße Hautfarbe Ihrer Liebsten anzunehmen.“
„Ich verstehe, und was ich bisher gehört habe, klingt gut“, sagte Tajirika. „Aber wie kann ich sicher sein, dass meine Frau nicht ebenfalls schwarz wird wie ich und ich damit im selben schwarzen Loch stecken bleibe wie eh und je? Oder wird sie etwa schwarz und ich weiß?“
„Warum sollte Sie das kümmern? Hier geht es doch nur darum, dass Sie weiß werden wollen. Suchen Sie sich eine weiße Frau, die schwarz werden will, eine von denen, die immer in der Sonne braten, und dann tauschen Sie einfach die Hautfarbe. Eine Art Tauschgeschäft mit der Hautfarbe, meinen Sie nicht?“
Bis zu diesem Punkt hatte Vinjinia an den Maßnahmen nichts auszusetzen gehabt, die der Herr der Krähen zur Heilung von Tajirikas Weiß-Wahn vorgeschlagen hatte. Als das Gespräch nun jedoch die Möglichkeit eröffnete, Tajirika könnte eine Weiße heiraten, wurde sie argwöhnisch. Visionen einer zerbrochenen Ehe, einer zerstörten Familie befielen sie, und sie konnte sich nicht länger zurückhalten.
„Wovon reden Sie da, Herr der Krähen? Reden Sie meinem Mann ein, er soll sich von mir scheiden lassen und eine Weiße heiraten? Und du, Titus, wie kannst du es wagen, überhaupt daran zu denken? Du willst dich nach all den Jahren, die wir gemeinsam verbracht haben, einfach von mir trennen? Und das, obwohl Gott uns mit Kindern gesegnet hat?“ Das alles sprudelte aus ihr heraus, da sie nicht genau wusste, an wen sie ihren Kummer richten sollte.
„Vinjinia, halt dich da raus und lass den Herrn der Krähen vollenden, was er gerade sagte“, fuhr Tajirika sie mit stechendem Blick wütend an. „Ich hab es immer gewusst, schwarze Frauen können sich nicht benehmen“, sagte er zu sich selbst, bevor er sich wieder zum Herrn der Krähen umdrehte und seine Frau völlig ignorierte. „Nachdem ich eine Weiße geheiratet habe, was kommt dann?“
Nyawĩra konnte kaum glauben, was sie hörte und was sich da vor ihren Augen abspielte. Sie wollte lachen, aber das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sich die nächste Krise vor ihnen anbahnte.
Vinjinia begann wie eine Besessene zu zittern und zu schlottern. Zuerst glaubte Nyawĩra, sie zitterte vor Wut. Dann jedoch sah sie Vinjinia vom Stuhl fallen und sich auf dem Boden wälzen. Tajirika stürzte zu ihr und versuchte sie aufzuheben, aber es gelang ihm nicht. Nyawĩra wollte ihm zu Hilfe eilen, hielt sich aber zurück. Die beiden sollten ihre Streitigkeiten unter sich ausmachen. Allerdings schien Tajirika nicht in der Stimmung, irgendetwas klären zu wollen, er war aufgebracht, die magischen Rituale des Zauberers nun weiblichen Dämonen zugewandt zu sehen. Nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, Vinjinia wieder auf die Beine zu bekommen, gelang es ihm schließlich, sie aufzusetzen. Ihre Augen blickten wild umher, und es schien, als wäre ihr nicht einmal bewusst, wer Tajirika überhaupt war. Gefangen in dieser Welt, holte sie jetzt einen Spiegel aus ihrer Handtasche und betrachtete ihr Gesicht. Und dann begann Vinjinia zu Nyawĩras äußerstem Erstaunen zu husten und vor sich hin zu murmeln: „Wenn! Wenn ich bloß!“
Für Tajirika war das der sprichwörtliche letzte Nagel zum Sarg seiner Träume.
„Oh, Vinjinia, warum hast du mir das angetan?“, stöhnte er, als er sich Hilfe suchend zum Herrn der Krähen umdrehte.
„Sie hat Ihre Krankheit“, erklärte der Herr der Krähen. „Die Krankheit ist ansteckend, wissen Sie.“
Er bat Vinjinia und Tajirika, die Plätze zu tauschen, sodass jetzt Vinjinia direkt vor dem Fenster saß, während Tajirika schweigend zuschaute.
Der Zauberer ließ sie die gleiche Prozedur durchlaufen wie zuvor Tajirika.
„Die Weisheit, die in einem Herzen eingeschlossen ist, hat noch nie einen Gerichtsprozess gewonnen“, sagte er und versuchte, ihre Seele zu beruhigen. „Also spuck jedes Wort aus und lass deinen Gedanken furchtlos freien Lauf.“
Er musste Vinjinia nicht lange bitten.
„Wenn meine Haut nicht schwarz wäre, hätte mein Mann dann daran gedacht, mich zu verlassen? Wenn ich doch nur weiß werden könnte!“, sagte sie.
In dem Augenblick, in dem sie das letzte Wort sagte, spürte Vinjinia, wie sich eine schwere Last von ihrer Seele hob; auch sie erlebte die Freude und Erleichterung desjenigen, der seine Sünden gebeichtet hat. Sie durchlief dieselben Schritte, die ihr Mann bereits hinter sich hatte und änderte sogar ihren Namen in Virgin Beatrice Whitehead, bevor sie sich schließlich zu ihrem Mann umdrehte, als wollte sie sagen: Ich bin ein schwarzer Sünder wie du, drum lass uns unser Heil gemeinsam im Weißsein suchen.
„Was müssen wir tun, um weiß zu werden?“, fragten Mann und Frau im Chor.
„Bei den Weißen gibt es verschiedene Stämme: Deutsche, Franzosen, Russen, Italiener, Portugiesen, Spanier oder auch Japaner …“
„Wir wollen Engländer werden“, unterbrachen sie ihn.
„Engländer also? Hakuna matata“, beruhigte der Herr der Krähen sie. „Nur noch eine kleine Hürde und wir sind auf dem besten Weg dahin. Bei den Engländern gibt es, wie bei allen anderen Weißen auch, unterschiedliche Sorten. Dazu kommen heutzutage noch die schwarzen Briten, die aus Bangladesch, Pakistan, Indien, Hongkong, der Karibik und sogar aus Afrika stammen …“
„Wir wollen eine rein englische Haut“, sagten sie prompt.
Während Nyawĩra in beständigem Staunen das Schauspiel betrachtete, das vor ihr ablief, forderte der Herr der Krähen Mann und Frau auf, die Augen zu schließen und sich die Art Engländer vorzustellen, die sie werden wollten. Er würde diese Abbilder im Spiegel einfangen, damit sie ihre Träume klarer und deutlicher erkannten. Beide machten die Augen zu.
Er begann bei Tajirika, der schnell sagte, dass er ein Bild in seinem Kopf habe. Allerdings sehr undeutlich, fügte er hinzu.
„Dann halt es dort fest und lass es nicht los“, befahl der Herr der Krähen Tajirika. „Dort, ich sehe ihn … ja, der Mann ist weiß wie nur irgendetwas, in zerlumpten Hosen und einer Lederjacke mit Messingknöpfen, sein Haar ist blau und grün und gelb und steht ihm vom Kopf wie bei einem Stachelschwein … ein Punk, zweifellos, ein Punk …“
Tajirika unterbrach ihn erschrocken: „Nein, nicht so ein Engländer. Ich habe doch gesagt, ich will ein richtiger Engländer werden.“
Der Herr der Krähen befahl ihm, die Augen zu öffnen, damit das Bild des Punks verschwand.
Jetzt war Vinjinia an der Reihe. Sie war zunächst sehr aufgeregt, als der Herr der Krähen von einer Frau sprach, die – in einen Pelz gehüllt – durch die Straßen Londons spazierte. Oxford Street. Dean Street. Eine Nebenstraße. Nur war diese Frau eine Prostituierte vom Soho Square. Als anständige Christin schrie Vinjinia laut ihren Protest heraus. Daraufhin sagte ihr der Herr der Krähen, sie solle die Augen öffnen, damit das unerwünschte Bild verschwand.
Es brach ein hitziges Wortgefecht zwischen Mann und Frau aus, in dem jeder den anderen wegen des gewählten Bildes beschimpfte: Punk und Prostituierte.
Der Streit hätte sich zugespitzt, wenn der Herr der Krähen nicht dazwischen gegangen wäre und sie gewarnt hätte, sie würden als streitsüchtiges englisches Ehepaar enden, wenn sie nicht mit dem Gezanke aufhörten. Vor allen Dingen würde der Streit die Entstehung anderer Bilder beeinträchtigen, die eine weit wünschenswertere Wahl darstellten.
Der Herr der Krähen befahl ihnen, die Augen wieder zu schließen. Sie sollten ihr Bestes versuchen, sich ein harmonischeres, gemeinsames Bild eines erfüllten hohen Alters vorzustellen.
„Im Kolonialstil. Wie die, die früher hier in Aburĩria über uns geherrscht haben“, verdeutlichte Tajirika.
„Sie waren schneeweiß und hatten ihre eigenen Klubs und abgerichtete Hunde“, fügte Vinjinia hinzu.
„Herren, Aristokraten. Blaublütig“, stimmten sie überein.
Sie machten die Augen zu und frohlockten bald darauf, als sie hörten, dass es dem Herrn der Krähen gelungen war, ihre gemeinsame Vorstellung im Spiegel einzufangen.
„Es ist ein Film, ein bewegtes Bild“, sagte der Herr der Krähen. „Ich sehe ein Paar mit grau-silbernem Haar, Sir Clement Clarence Whitehead und Lady Virgin Beatrice Whitehead, die Hand in Hand in der Nähe der Palastgärten in London über die Straße gehen und sich über ihr Leben in den alten Tagen der Kolonialzeit unterhalten. Ein authentisches Paar aus der Kolonialaristokratie. Sie reden gerade davon, wie er um ein Haar Gouverneur von Aburĩria geworden wäre …“
„Gouverneur? Haben Sie Gouverneur gesagt?“, fragten Vinjinia und Tajirika gleichzeitig.
„Psssssst! Jetzt habt ihr das Bild zum Verschwinden gebracht“, schimpfte der Zauberer.
„Wir sagen kein Wort mehr“, versprach Vinjinia.
„Bitte suchen Sie es. Holen Sie das Bild zurück, vor allem den Teil, in dem es um den Gouverneur von Aburĩria ging“, bettelte Tajirika.
„Gut, da ist es wieder, das Bild ist wieder da“, sagte der Herr der Krähen, „und, tatsächlich, sie reden immer noch davon, wie er fast Gouverneur von Aburĩria geworden wäre, und sie die First Lady der Kolonie. Sie erinnern sich an ihren Palast auf einem Hügel mit Blick über die Stadt und an ihre Urlaube am Meer. Zehn Diener im Palast und fünf im Anwesen am Meer. Sie erinnern sich an die ausgedehnten Rasenflächen, die grünen Hecken, den Swimmingpool, die Autoflotte, die zu groß war, um sich an alle Modelle erinnern zu können, nur daran, dass es teilweise Jaguar und Rolls-Royce waren.
Zwei Reiter, ganz offensichtlich Polizisten, galoppieren vorbei, und Sir Clarence und Lady Beatrice mustern kritisch die Pferde und schütteln die Köpfe, weil sie an ihre Vollblüter in den kolonialen Stallungen denken müssen, die bei den anderen Siedlern Neid und Gerede hervorriefen. Sie gehen über eine andere Straße. Wohin sind sie unterwegs? Oh, ja, sie bleiben vor Harrods stehen. Früher sind sie einmal im Jahr zum Einkaufen eingeflogen. Jetzt machen sie einen Schaufensterbummel. Ich wünsche mir diesen Seidenschal zu Weihnachten. Ich möchte diese Handtasche. Sie streiten sich ein wenig über dieses und jenes und die Preise und werfen einander Extravaganz vor. Ihr Streit endet plötzlich, als sie bemerken, überhaupt kein Geld zu haben, um die protzigen Kostbarkeiten in den Schaufenstern von Harrods zu bezahlen.
Da! Sie gehen wieder über eine Straße, gleichgültig den Autos gegenüber, die ziemlich scharf bremsen müssen, um sie nicht zu überfahren. Jetzt bleiben sie neben ein paar Mülltonnen stehen. Was? Ein obdachloses Paar? Nein, nein, sie gehen weiter, noch immer in ihr Gespräch vertieft. Aber kann man das tatsächlich als Unterhaltung bezeichnen? Lautstark beklagen, beweinen und verfluchen sie die schmutzige Politik der Sechzigerjahre, die das goldene Zeitalter des Kolonialismus beendete. Sie sind sich uneins, ob die Amerikaner oder die Russen oder beide daran schuld waren, aber sie verfluchen entschieden alle Kräfte, die das britische Weltreich zum Einsturz gebracht haben. Wartet einen Augenblick. Ich habe sie verloren. Wo sind sie nur hin?
Ah, da sind sie wieder. Ich sehe, wie sie jetzt in einer Kirche vor dem Altar niederknien, und sie beten zu Gott für die Rekolonisierung Afrikas und Asiens, nun da der Kommunismus endlich besiegt ist. Wieder gehen sie über die Straße – wie oft müssen die beiden die Straßen Londons noch überqueren? Und nun? Oh, mein Gott! Sir Clement Clarence Whitehead und Lady Virgin Beatrice Whitehead gehen wirklich in ein Altenheim. Sie träumen noch immer von der möglichen Wiederkehr der guten, alten Zeiten und von den Tagen voller Macht und Glorie in Afrika.
Kurz gesagt“, schloss der Herr der Krähen und sah Tajirika und Vinjinia unverwandt an, „euer weißes englisches Schicksal ist das eines obdachlosen, vormals kolonialen Ehepaares, das allein von den Erinnerungen an das lebt, was einmal war. Nun, wie schnell möchtet ihr euer weißes Schicksal erreichen?“
„Nein! Niemals!“, riefen Tajirika und Vinjinia wie aus einem Munde und machten erschrocken die Augen wieder auf. „Black is beautiful! Geben Sie uns unser Schwarzsein zurück!“, forderten sie klagend, als hätte der Herr der Krähen ihnen die schwarze Haut bereits geraubt.