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Der Herr der Krähen hatte ruhig zugesehen, wie die Spiegel ausgepackt und vor ihm aufgestapelt wurden. Doch innerlich war er aufgewühlt. Die Zeit wurde knapp, und er wusste noch nicht, wie er sich aus dieser Zwangslage befreien konnte. Wie sollte er vor dieser Menschenansammlung überzeugend mit den Spiegeln operieren? Er schaufelte sich ziemlich sicher sein eigenes Grab. Zugleich war er jedoch überzeugt, dass der Herrscher vor den in- und ausländischen Medien nichts Drastisches gegen ihn unternehmen würde. Doch diese Gnadenfrist würde seinen Tod nur um ein paar Stunden hinauszögern. Was würde Nyawĩra tun, wenn sie sich in einer solchen Lage befände? War sie das nicht auch schon gewesen? Als Hinkende Hexe war sie kühn in den Leib der aburĩrischen Bestie vorgedrungen!
Er fühlte, wie ihn Mut durchströmte. Warum sieht man die Auswüchse des Landes nur, wenn sie sich in den Augen des Westens spiegeln? Nein, das Spiel mit den ausländischen Spiegeln würde er nicht mitspielen. Die Wahrheit, die er in sich trug, und die Augen der Menschen waren die einzigen Spiegel, die er verwenden würde. „Man hat mich gebeten, Spiegel zu verwenden, die aus dem Ausland eingeführt wurden, um die Feinde des Staates auszuräuchern“, setzte der Herr der Krähen an.
Er bat einen Polizisten, ihm seinen Schlagstock zu leihen. Dann nahm er den ersten Spiegel, las laut das Herkunftsland vor und zerschmetterte ihn. Er griff nach dem zweiten und dem dritten. Einen nach dem anderen zerschlug er die importierten Spiegel, und die Menge begleitete diesen trotzigen Akt mit rhythmischem Klatschen.
„Bei richtiger Weissagung geht es darum, das Verborgene bloßzulegen“, sagte er. „Ich möchte die Geheimnisse meines Herzens mit euch teilen. Ich kenne Nyawĩra. Ich liebe sie und werde sie niemals verraten, und sollte ich dafür die Reise ins Land ohne Wiederkehr antreten müssen. Ich weiß, dass Nyawĩra dort bei mir sein wird, denn sie begegnete mir, als ich gebrochen war, und sie machte mich wieder gesund. Und was sie schon einmal gemacht hat, Stücke zu einem Ganzen zu fügen, wird sie wieder tun.“ Er machte eine Pause, um Atem zu holen.
„Gerissener Kerl“, murmelten einige Skeptiker. „Versucht, sie in ihrem Versteck aufzuscheuchen, was?“ Aber selbst sie waren vom Ton seiner Stimme angerührt, als er jetzt so sanft rief, als spräche er mit jemandem dicht neben sich.
„Nyawĩra, ich umarme dich von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, und das Volk ist mein Zeuge, dass die Wahrheit nie stirbt, ihr Glanz nie vergeht. Heiligkeit liegt in der Ganzheit.“
Der Herr der Krähen spürte, wie ihm eine sanfte Brise Blumenduft in die Nase stieg, ein Duft, den er gut kannte, aber lange nicht mehr gerochen hatte. Neue Kraft durchströmte ihn, eine Kraft, die in dem sicheren Wissen wurzelte, dass seine Worte die Herzen der Versammelten getroffen und Nyawĩra erreicht hatten, wo immer sie in der Menge steckte. Er fühlte sich gut, weil die Worte tief aus seinem Innern gekommen waren und er bereit war, für sie zu sterben.
„Ihr seid Nyawĩra. Ihr und ich und andere, das ist Nyawĩra“, fuhr der Herr der Krähen furchtlos fort. „Wenn ihr davon überzeugt seid, dass ihr Nyawĩra seid, dann steht bitte auf, damit die, die nach euch gesucht haben, die euch einen Staatsfeind genannt haben, euch sehen können. Nyawĩra, zeig uns den Weg.“
Eine Frau stand auf. „Ich bin Nyawĩra“, sagte sie. Kaum hatte die Menge den Blick auf sie gerichtet, als ein Mann sich erhob und sagte: „Ich bin Nyawĩra.“ Ihm folgten alle anderen Frauen und Männer, bis sich die ganze Versammlung als Nyawĩra bezeichnet hatte.
Informationsminister Big Ben Mambo und seine offizielle Begleitung blieben sitzen. Die Polizisten und Soldaten, die bereits gestanden hatten, befanden sich in einer unangenehmen Lage: Sie wussten nicht, ob sie sich setzen sollten oder nicht. Deshalb blieben sie stehen, und für ein paar Minuten sah es so aus, als wären Armee und Polizei eins mit dem Volk.
Die Kameraleute wussten nicht, wen sie ins Bild setzen sollten. Und für die Vertreter der Regierung war Nyawĩra nun überall. Eine Frau begann zu rufen: Wie viele Stämme gibt es? Andere antworteten: Zwei, Schöpfer und Parasiten.
Stimmen erhoben sich zu einem Lied:
Kommt, kommt, Schwache und Starke
Schaffen wir ein schönes Land
Mit unserem Wissen, unseren Herzen
Die ganze Versammlung tanzte. Langsam schob sich eine Gruppe an die Bühne heran. Und bevor Big Ben Mambo begreifen oder reagieren konnte, was vor sich ging, hatte sich eine schützende Menschenwand um den Herrn der Krähen gebildet.
Kamĩtĩ spürte die Gegenwart einer tanzenden Gestalt neben sich und wusste, dass es Nyawĩra war. Ihre Augen trafen sich. Sie hielten sich an den Händen und tanzten einige Schritte zu diesem Lied, ein Paar, das von den anderen Tänzern nicht zu unterscheiden war. Trotzdem hatten der Herr der Krähen und die Hinkende Hexe das Gefühl, in einer ganz eigenen Welt zu sein, die von der Einigkeit des aburĩrischen Volkes geschützt wurde.
Als der Herrscher, dessen Körper sich weiter ausdehnte, im State House sah, was sich im Fernsehen abspielte, grübelte er: Wie können sie es wagen, froh zu singen und zu tanzen, wenn ich mich in höllischen Schmerzen winde? Es wird Zeit, sie mit dem Geld auseinanderzutreiben. Er nahm alle Kraft zusammen zu einem letzten Versuch der Fernregie. Kaum hatte er einen Piloten angewiesen, Geld vom Himmel regnen zu lassen, als ihn eine neue Schmerzenswelle durchfuhr. Er ließ das Mobiltelefon fallen; es krachte auf den Fußboden. Sein Körper nahm inzwischen das gesamte Zimmer ein und drückte Ärzte und Kameraleute an die Wand.
Nyawĩra hörte das Peitschen des Hubschraubers am Himmel, schaute hoch und sah Blätter vom Himmel fallen. Die Leute schrien. Die Scheine segelten langsam herunter. Bevor sie sich zum Mikrofon durchdrängen konnte, um den Leuten zu sagen, dass es sich um Falschgeld handle, um einen Trick des Herrschers, mit dem er ihre Seelen korrumpieren und sie in Versuchung bringen und auseinandertreiben wolle, hatte sie eine Vorahnung. Sie schaute hinter sich und erblickte Kaniũrũ. Niemals zuvor hatte sie Hass und Eifersucht so intensiv in einem Menschen brennen sehen wie jetzt in seinen Augen.
Er drängte sich mit Gewalt durch die Menge und kam direkt auf die Bühne zu. Nyawĩra schaute sich schnell nach einem Fluchtweg um. Zwei Gruppierungen schoben sich aus unterschiedlichen Richtungen durch die Menge an den Herrn der Krähen heran.
Kaniũrũ trug eine Pistole. Zuerst glaubte sie, er ziele auf sie. Doch er hatte die Pistole auf den Herrn der Krähen gerichtet, und bevor sie einen Warnruf ausstoßen konnte, hatte Kaniũrũ einen Schuss abgefeuert. Sie war unfähig zu schreien; sie warf sich über den gefallenen Körper des Herrn der Krähen, als wollte sie ihn vor weiterem Schaden schützen. Sie sah, wie Kaniũrũ die Pistole auf die Stelle richtete, wo sie lag. Wir sind verloren, murmelte sie.
Irgendjemand sprang Kaniũrũ an und rang ihn nieder. Ein weiterer Schuss ging los. Die Umstehenden schrien vor Entsetzen. Kaniũrũ und sein Widersacher rollten über den Boden. Der Mann versuchte, an die Waffe zu kommen; Kaniũrũ leistete erbitterten Widerstand. Sie hatte das Gesicht dieses Mannes schon irgendwo gesehen, dachte Nyawĩra. Doch ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
Auf einmal zerriss Donner den Himmel. Die Menschen spürten die Erde beben. Sofort ließen Kaniũrũ und sein Widersacher voneinander. Kaniũrũ, der um sein Leben fürchtete, ließ die Waffe fallen und rannte davon. Seine für ihren Mut berühmten Jungs waren schon fort. Einige schrien vor Entsetzen: „Mein Gott, man hat uns erwischt“, stolperten über andere, die ebenfalls flohen.
Als er sich ohne seinen Beschützer sah, ergriff auch der ehemalige Müllfahrer die Flucht und klagte leise: „Das ist Satan“, und schaute nicht mehr zurück. Zum Glück stieß er bei den verkohlten Überresten eines Gebäudes auf eine Gruppe der Soldaten Christi, unterwarf sich auf der Stelle Christus und nahm einen neuen Namen an: Pilot-der-Seelen.
Kaniũrũs Widersacher verfolgte ihn durch die Menschenmenge und schoss ihm ins Bein. Kaniũrũ stürzte, doch gelang es ihm, trotz seiner Verletzung davonzuhumpeln.
Und dann ertönte erneut ein Donnerknall, dem sechs weitere folgten, von denen jeder noch lauter als der vorhergehende war. „Es regnet Bomben auf das Land!“, riefen einige, und das Gelände war ein einziges riesiges Chaos aus angsterfüllten Schreien und fliehenden Menschen.
Die völlig unvorbereiteten Soldaten auf dem Versammlungsgelände nahmen an, dass im State House ein Staatsstreich vor sich ging. Soldaten und Polizisten warteten auf einen Befehl ihrer Vorgesetzten, die wiederum auf ein Wort ihrer Vorgesetzten warteten, die ihrerseits auf einen Befehl des Oberbefehlshabers warteten. Die Befehlskette schien irgendwie unterbrochen. Unsicherheit und Panik führten zu vereinzelten Schüssen. Erschrockene Menschen liefen in alle Richtungen, zeigten zum Himmel und riefen: „Das ist das Jüngste Gericht!“
Die pilzförmigen Wolken, die sich nach den sieben Donnerschlägen über dem State House bildeten, versetzten alle in Erstaunen.
Sikiokuu hatte, als er den Hubschrauber am Himmel sichtete, seinen Gefolgsleuten das Zeichen gegeben, den Zauberer zu ergreifen. Nun suchte er sich ein Blatt Papier, um seine Unterstützung der Revolution schriftlich zu dokumentieren. Ein Hoch auf die Revolution, schrieb er und klemmte den Mutbeweis hinter die Scheibenwischer. Verwundert sah er den überwältigenden Rauch, der sogar den Hubschrauber verschlang. Doch obwohl er jetzt ein Anhänger der Revolution war, wollte er nicht ins Kreuzfeuer zwischen den Revolutionären und den Verteidigern des Regimes geraten. Bei einem Staatsstreich ist sich jeder selbst der Nächste.
Jeder, der ein Auto hatte, versuchte aus der Stadt aufs Land zu fliehen. Der Stau war furchteinflößend. Ungeduldige Hupen plärrten. Die Sicht war durch dichten, stinkenden Rauch eingeschränkt, der alle peinigte, die in Autos oder zu Fuß flohen. Nyawĩra, die den Körper des Herrn der Krähen mit ihrem bedeckte, spürte warmes Blut. „Bitte, Kamĩtĩ, bitte stirb nicht“, flehte sie.