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„Hast du je von Mahabharata, Ramayana oder Bhagavad Gita gehört? Die drei, oder sagen wir besser die zwei, weil die Gita ein Kapitel im Mahabharata ist, sind die Schlüsseltexte der Religion, Kultur, Geschichte und Philosophie der Inder. Sie wurden in Sanskrit verfasst, der alten Sprache Indiens, die aber wie Latein, Altgriechisch, Ge’ez und Sabäisch längst tot ist.
Das Mahabharata erzählt von einem Krieg zwischen Kurus und Pandavas, zwei Zweigen ein und derselben Familie. Arijuana, der Held der Pandavas, ist ein hervorragender Bogenschütze, von dem man sagt, er könne mit seinem Pfeil ein Ziel auf dem Mond treffen. Arijuana und sein Lehrer Drona erfahren von einem anderen Bogenschützen, von Ekalaivan, dessen Fähigkeiten diejenigen Arijuanas bei Weitem übersteigen. Er kann sieben Pfeile in das Maul eines Hundes schießen, bevor dieser nach dem Öffnen des Mauls die Gelegenheit zu bellen hat. Ekalaivan hat sich diese Fähigkeiten selbst beigebracht, allerdings im Schatten einer Statue von Drona, die er sich als Quelle der Inspiration aufgestellt hatte. Dennoch behauptet Ekalaivan, Drona sei sein Lehrer. Dharma, das Gesetz, verlangt nun von einem Schüler, seinem Lehrer als Zeichen der Dankbarkeit ein Geschenk zu machen. Obwohl Drona Ekalaivan niemals unterrichtet hat, fordert er ein, was ihm zusteht. ‚Worum auch immer du bittest‘, sagt Ekalaivan darauf. ‚Dann gib mir deinen Daumen.‘ Sie schneiden Ekalaivan den Daumen ab. Erkennst du die Demütigung, die Grausamkeit? Drona weigert sich, Ekalaivan, einen Sohn der Armen, zu unterrichten, doch als dieser es durch eigene Gestaltungskraft zu außergewöhnlichen Leistungen bringt, macht Drona ihn zum Krüppel, damit die Söhne der Reichen konkurrenzlos bleiben. Arijuanas Überlegenheit wird durch Ekalaivans erzwungene Unterlegenheit bestätigt.
Du glaubst, dass dies nur eine Geschichte aus dem alten Indien ist? Nein, sie ereignet sich auch heute. Ein Reicher hat seinen Reichtum im Baugeschäft erworben, durch Kauf und Verkauf, Entwicklung und Verkauf, Bauleitung und die entsprechende Bezahlung. Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, der Reiche war so rücksichtsvoll, ein Schild aufzustellen, auf dem klar verkündet wird, dass es keine freien Stellen gibt. Aber du weißt, wie das ist. Die Not macht so blind wie die Liebe! Der müde Vogel landet auf jedem Ast, heißt es. Also betritt eines Abends ein Fremder das Büro des Reichen. Er sucht Arbeit. Obwohl es bereits auf das Ende des Arbeitstages zugeht, erklärt sich der Reiche zu einem Gespräch bereit. Er sieht sich die Unterlagen des Arbeitssuchenden an und stellt ihm viele Fragen. Und was, glaubst du, macht der Reiche als Nächstes? ‚Bitte folgen Sie mir‘, sagt er zu dem Fremden, ‚damit ich mich richtig mit Ihnen unterhalten kann.‘ Der Reiche geht mit dem Fremden zum Tor und bittet ihn vorzulesen, was auf dem Schild steht, weil er Auffassungsgabe und Lesefähigkeit des Fremden prüfen will. Bevor ich weitererzähle, will ich noch klarstellen, dass niemand einen Arbeitgeber dafür verurteilen kann, dass er keine Arbeit zu vergeben hat. Aber denk einmal nach und erklär mir: Wie kann man Lust daran empfinden, einen ohnehin Gedemütigten noch mehr zu erniedrigen? Erklär mir, Tajirika: Woher diese Freude am Schmerzensschrei des Elenden? Wie würdest du dich fühlen, wenn jemand seinen Spaß daran hätte, dich in dieser Gefängniszelle zu wissen?
Warum hast du das gemacht, Tajirika? Habe ich dir so viel Leid zugefügt, als ich dich um Arbeit bat?“