5

Von ihrem Platz im Schlafzimmer konnte Nyawĩra die handelnden Personen nicht sehen, aber sie hörte jedes Wort, das zwischen Kamĩtĩ und seinen Kunden gewechselt wurde. Das Ganze kam ihr wie rituelles Theater vor.

„Was plagt dich?“, hörte sie Kamĩtĩ den Mann auf der anderen Seite des kleinen Fensters fragen.

„Meine Feinde.“

„Deine Feinde?“

„Ja, meine Geschäftspartner. Wir gehen gemeinsam Essen und Trinken, wir lachen und klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, aber das ist alles eine einzige Lüge. Jetzt sieht es so aus, als würde die Global Bank Gelder für Marching to Heaven bereitstellen. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Ein Vertrag über die Lieferung von Tee, Butter, Zigaretten oder selbst den einfachsten Artikeln würde einen für den Rest des Lebens steinreich machen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Wenn wir schon in Zeiten, in denen es um wenig geht, gegeneinander intrigieren, dann können Sie sich vorstellen, was jetzt los ist. Ich besitze viele Steinbrüche. Mein einziger Wunsch ist es, zum Cheflieferanten von Zement, Steinen und Sand für Marching to Heaven zu werden. Aber glauben Sie mir, Herr Zauberer, ich habe unzählige Feinde, und sie stecken überall, sie sind skrupellos und wollen das, was ich haben will.“

„Warum bist du zum Schrein des Herrn der Krähen gekommen?“

„Ich wünsche mir, dass Sie meinen Händen Entschlossenheit verleihen, meiner Zunge Gewandtheit und meinen Augen Kraft, damit sich, wenn ich den Herrn Vorsitzenden Titus treffe, zwischen ihm und mir sofort ein Band knüpft. Ich will ihn mit meinen Augen hypnotisieren, mit meiner Zunge sein Herz sanft stimmen und das Freundschaftsangebot mit einem herzlichen Händedruck besiegeln. Gleichzeitig sollen Sie meinen Mitbewerbern alle Überredungskünste nehmen. Machen Sie ihre Hände kraftlos und nass vor Schweiß, damit es ihn ekelt, wenn sie dem Herrn Vorsitzenden Titus die Hand schütteln; rauen Sie ihre Zungen auf, damit sie, wenn sie ihr Lob auf ihn singen wollen, nur krächzende Geräusche hervorbringen, die schlimmer klingen als Metall auf Metall; lassen Sie Eiter aus ihren Augen triefen, damit, wenn sie ihn ihren Wünschen unterwerfen wollen, nur Abscheu in ihm aufsteigt und ihn abschreckt. Kennen Sie die Geschichte von der großen Schlacht zwischen Sonne und Wind, in der es darum geht, wer den Menschen verleiten könnte, seinen Mantel abzulegen? Der Wind bewirkt nur, dass sich der Mensch enger in seinen Mantel hüllt. Die Sonne aber schafft es, dass er sich ihr bereitwillig unterwirft. Herr der Krähen, machen Sie meine Feinde zum Wind. Und mich zur Sonne. Machen Sie mich zum Primus, zum Ersten unter Gleichen in List und Kaltblütigkeit.“

„Kennst du deine Feinde? Weißt du, wer sie sind?“

„Nicht genau. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Wir haben von Ihren erstaunlichen Fähigkeiten gehört, die Feinde eines jeden auszumachen, noch bevor man selber weiß, dass man welche hat; und dass Sie die Schatten dieser Feinde in einem Spiegel fangen können und sie anschließend vom Antlitz dieser Erde kratzen. Ich bitte Sie nicht, meine Feinde zu töten – ich bin ein gläubiger Christ und glaube an die Kraft der Vergebung – aber ich wünsche mir, dass Sie tun, was allein Sie tun können.“

„Und wer hat dir von mir erzählt?“

„Das ist eine lange Geschichte. Aber ich fasse mich kurz. Ich stand in einer Schlange vor dem Büro des Herrn Vorsitzenden Titus. Er konnte nicht ins Büro kommen, aber wir ließen nicht locker und warteten weiter geduldig einer hinter dem anderen den ganzen Tag auf ihn. Dann erzählte es ein Freund, der es von einem Freund hatte, der es wiederum von einem Freund hatte und der davon durch einen Polizisten erfahren hatte der ihn im Austausch gegen einen Obolus mit nützlichen Informationen versorgt – Sie wissen ja, wie es heutzutage in Aburĩria ist, nichts bekommt man umsonst und Informationen bedeuten Macht. Wie dem auch sei, dieser Polizist berichtete ihm, was Sie für einen seiner Kollegen getan haben: Sie haben veranlasst, dass sich seine Feinde ins Jenseits verzogen haben und dass er befördert wurde, wie er das in seinen kühnsten Träumen niemals für möglich gehalten hatte. Später, so sagen die Gerüchte, haben Sie zehn weitere Polizisten empfangen, zu denen auch dieser Informant gehörte. Also, dachte ich mir, stehle ich mich aus dieser Schlange vor Titus’ Büro davon und sichere mir größere Macht, bevor ich morgen den Herrn Vorsitzenden Titus treffe.“

Jetzt begriff Nyawĩra, warum sich die Schlange der Reichen und Mächtigen gegen sechs auf geheimnisvolle Weise aufgelöst und sie und Vinjinia verwundert zurückgelassen hatte.

„Verehrter Herr der Krähen“, sagte der Kunde gerade, „ich verspreche Ihnen, Sie werden bekommen, was Sie wollen, wenn Sie Ihren Spiegel einsetzen. Wie viel nehmen Sie für eine Weissagung mit dem Spiegel?“

„Ich verlange nichts für die Weissagung. Der Spiegel aber verlangt einige Anstrengungen und Entscheidungen von dem, der seine Kräfte bemüht, um das Verborgene offenzulegen. Der Spiegel sieht und reflektiert nur, was vor ihm liegt. Je mehr du ihm zeigst, desto mehr sieht er, je weniger du zeigst, desto weniger kann er bewirken. Die Entscheidung liegt einzig bei dem, der die Macht der Weissagung in Anspruch nimmt.“

„Geld bedeutet mir nichts“, hörte Nyawĩra den Mann rufen. „Ich wünsche mir, dass Sie den allermächtigsten Spiegel einsetzen, den es gibt. Die maximale Zauberkraft. Ich werde dem Orakel den dicksten Umschlag zu Füßen legen, den man sich nur vorstellen kann, und bin mir sicher, es wird den Spiegel zufriedenstellen.“

„Ich gewähre dir deinen Wunsch“, sagte Kamĩtĩ und begann mit denselben Schritten, denen auch Constable A.G. und die zehn Polizisten gefolgt waren. „Mach ganz fest die Augen zu. Halte nach dem Abbild Ausschau, das vor deinem geistigen Auge aufsteigt. In dem Augenblick, in dem du es siehst, musst du es dem Herrn der Krähen sagen. Sobald ich das Abbild in deinen Gedanken mit dem Spiegel eingefangen habe, werde ich ihm Hände, Mund und Augen auskratzen, um es zu schwächen. Die Schwächung der Organe des Feindes ist gleichbedeutend mit einer Stärkung der deinen. Wie bei einer Waage. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Gleichgewicht zwischen den Kräften beider Seiten zu verändern. Entweder legt man auf der einen Seite Gewicht nach oder man nimmt auf der anderen Gewicht weg. Das Weissagen ist eine Wissenschaft.“

„Nicht die Liebe zur Wissenschaft hat mich zu Ihrem Schrein geführt“, sagte der Mann voller Leidenschaft. „Ich wünsche etwas, das ohne einen erkennbaren Rhythmus oder Grund geschieht. Ich will das reine Spiel von okkulten Mächten. Ich will Magie, nicht Wissenschaft.“

Nyawĩra traute ihren Ohren nicht. Wenn man ihr erzählt hätte, was sie gerade gehört hatte, sie hätte es mit ziemlicher Sicherheit ins Reich der Lüge verwiesen. Die Reichen und Mächtigen geben die wissenschaftliche Vernunft zugunsten eines unlogischen Hokuspokus auf? Diese Männer gehörten doch derselben Schicht an wie die Führer der neuen Nationen? Wie sollte die Zukunft des Landes aussehen, wenn solche Männer das Ruder in die Hand nahmen?

Plötzlich wurden ihre Gedanken von einem Schrei der Verzückung unterbrochen.

„Ich sehe etwas! Ich sehe es!“, kreischte der Mann im Ton eines Kindes, das eine neue Fertigkeit an sich entdeckt.

„Kannst du erkennen, wessen Abbild es ist?“, fragte der Herr der Krähen.

„Nein! Nein! Aber das spielt keine Rolle – dieses Abbild kann für all meine Feinde stehen.“

„Halt es fest! Halt es genau an dieser Stelle fest. Lass es nicht entwischen“, forderte Kamĩtĩ ihn auf und fing an, auf dem Spiegel herumzukratzen.

„Das Abbild ist weg. Stattdessen fallen jetzt zahllose kleine Sterne durch die Finsternis“, berichtete der Mann. „Vielleicht sind das meine Feinde, die wie zerbrochenes Glas in unzählige Splitter zersprungen sind! Das ist wunderbar! Sterne fallen um mich herum, sie lassen mich als einzigen Stern am Firmament zurück!“

„Dann ist es vollbracht. Du hast gesehen, was du zu sehen gewünscht hast. Du kannst jetzt die Augen wieder öffnen. Dein Glück liegt vor dir.“

„Danke! Vielen Dank, Herr Zauberer“, sagte der Mann. „Neue Kräfte durchströmen mich. Ich kann jetzt mit Marching to Heaven Schritt halten.“

Er ging, und sofort nahm ein anderer seinen Platz ein. Nyawĩra erschien diese Abfolge wie Bilder in einem Film, die ineinander übergehen. Die handelnden Personen mochten unterschiedlich sein, die Geschichte aber blieb immer dieselbe. Irgendwann wurde Nyawĩra es leid, ständig dasselbe zu hören, und schlief ein.

Das Plätschern von Wasser weckte sie. Kamĩtĩ duschte. Sie wartete darauf, dass er fertig war. Er schrubbte sich mit grimmiger Entschlossenheit.

„Du hast fast das ganze Wasser aufgebraucht“, sagte sie, als sie schließlich im Wohnzimmer saßen.

„Wegen des Gestanks, den sie zurückgelassen haben“, antwortete Kamĩtĩ. „Ich habe das Gefühl, ihn nie wieder loszuwerden. Schau mal aus dem Fenster, ob wirklich alle verschwunden sind.“

Nyawĩra spähte hinaus. Die Schlange der vermummten Schattengestalten schien nicht kürzer geworden zu sein. Sie schloss das Fenster und sah Kamĩtĩ skeptisch an.

„Als es auf Mitternacht zuging“, erklärte Kamĩtĩ, „habe ich eine Nachricht geschrieben. HEUTE NACHT GESCHLOSSEN. KOMMEN SIE MORGEN WIEDER. Ich habe den letzten Kunden gebeten, sie draußen anzubringen.“

„Sie machen hier dasselbe wie vor Tajirikas Büro, als ich die Mitteilung über seine Abwesenheit rausgehängt habe“, sagte Nyawĩra.

„Wovon redest du?“, fragte Kamĩtĩ verblüfft.

Sie erzählte Kamĩtĩ von ihrem Tag im Büro und den neuen Machtbefugnissen Sikiokuus, um die Bewegung für die Stimme des Volkes zu vernichten. Kamĩtĩ berichtete im Gegenzug von seinen Abenteuern als Herr der Krähen.

„Ein Traum, aus dem man nicht mehr aufwacht“, schloss er.

„Klingt eher nach einem endlosen Albtraum“, meinte Nyawĩra, schaute auf die Uhr und stand abrupt auf. „Es ist schon sehr spät. Wir brauchen morgen alle Kraft, um uns den Warteschlangendämonen zu stellen.“

„Wenn wir aufwachen“, sagte Kamĩtĩ, „werden sie verschwunden sein.“

Herr der Krähen
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