7

Zwei unglückliche Bettler sahen sich von drei Polizisten verfolgt. In Lumpen gehüllt umklammerten beide ihre Taschen. Und genau diese waren ihr Verderben, denn die Polizisten waren davon überzeugt, dass sie voller Burĩ-Scheine steckten, die die beiden den Tag und die halbe Nacht über erbettelt hatten. Die Blicke der drei Polizisten hefteten sich deshalb auch mehr auf die Taschen als auf die zerlumpten Gestalten. Den Bettlern wuchsen Flügel.

Der Duft des Geldes machte die Polizisten allen Rufen gegenüber taub, zu ihrer Einheit zurückzukehren. Einer der Polizisten rief den Bettlern das Versprechen hinterher, sie laufen zu lassen, wenn sie ihre Taschen fallen ließen, aber umsonst. Entmutigt gab er auf. Die anderen beiden verfolgten die Bettler weiter, wie Hunde auf einer frischen Fährte; als wären sie besessen und könnten ihren Füßen keinen Einhalt gebieten. Sie merkten nicht einmal, dass sie inzwischen die gut beleuchteten Straßen des Stadtzentrums hinter sich gelassen hatten und in den dämmrigen Gassen von Santalucia gelandet waren.

Santalucia war ein weitläufiges Dorf aus winzigen Häusern unterschiedlichster Formen und Materialien. Ziegeldächer über Mauern aus fein behauenem Stein wechselten in den engen Gassen mit Blechdächern und Häusern aus rotem Lehm und Pappe. Die Kanalisation war immer verstopft, sodass ständig ein Gestank in der Luft hing, der an heißen Tagen besonders ekelerregend war. Wenn aber – wie heute Nacht – der Mond schien, sah das Dorf friedlich und recht malerisch aus.

Der Bettler vorn schien sich in den engen Gassen auszukennen. Der zweite folgte dicht auf. Die Polizisten hofften, dass die Bettler früher oder später müde werden, in einem Haus verschwinden oder in einer Sackgasse landen würden. Aber die Bettler gaben nicht auf; sie rannten quer durch Santalucia bis an den Rand der Stadt und in die weite Halbsteppe, die ganz Eldares umgab.

Einer der Polizisten war von dieser Entwicklung der Ereignisse so außer Atem, dass er mit seinem Kumpel zu streiten begann, die Verfolgung abzubrechen. Es sei dumm, einfach weiterzumachen; was, wenn sie direkt in einen Hinterhalt bewaffneter Diebe geführt würden? Warum für Geld sein Leben riskieren? Aber sein Kollege wollte nichts davon hören. So beschloss auch er umzukehren.

Der dritte Polizist schien wie besessen. Er hatte inzwischen völlig vergessen, warum er so rannte, und erhöhte sogar noch sein Tempo in dieser absurden Verfolgung zweier in Lumpen gehüllter Schatten durch die Steppe.

Sie kamen zu einem Buschwald, und obwohl es darin noch finsterer war, sprangen die Bettler einfach hinein. Der Polizist zögerte nicht und folgte ihnen, fiel aber über etwas Hartes, vermutlich einen Stein. Sofort war er wieder auf den Beinen und arbeitete sich weiter durch das Gehölz, konnte jedoch lediglich den Geräuschen der Bettler folgen. Als er sich schließlich durch den Busch gekämpft hatte, fand er sich am Rand von Santalucia wieder. Rannten sie im Kreis mit ihm? Zwischen Buschwald und Stadtrand lag ein offenes Feld. Der Polizist konnte aber nur einen der Bettler ausmachen, der gerade die freie Fläche überquerte und wieder nach Santalucia hineinlief. Wohin war der andere verschwunden?, rätselte er, während der Bettler vor seinen Augen hinter ein paar Häusern verschwand.

Der Polizist verfolgte ihn bis zum Ende der Straße. Er schaute nach links, nach rechts und zurück, konnte aber weder einen Schatten sehen noch irgendein Geräusch vernehmen. Er hatte keine Ahnung, wohin der Bettler verschwunden war.

Die Straßen von Santalucia sind eng und schlecht beleuchtet, und obwohl der Mond schien, sahen für den Polizisten, der hier fremd war, alle Häuser und Straßen gleich aus. Verfolgte er nun einen oder zwei Bettler, fragte er sich und überlegte, was er jetzt machen solle. Zum ersten Mal während dieser Verfolgung war er unentschlossen, aber nur für einen Augenblick. Eine beharrliche innere Stimme befahl ihm, nicht aufzugeben. Egal welchen Bettler er zuerst erwischte, er würde ihn zwingen, ihn zum Versteck des anderen zu bringen.

Die beiden Bettler hatten sich inzwischen in einem Haus versteckt. Geduckt hinter einem Fenster, lauschten sie angestrengt auf das kleinste Geräusch von draußen. Sie hörten die Schritte des Polizisten deutlich, konnten ihn aber nicht sehen und waren unsicher, wo er sich gerade befand.

Einer der Bettler spähte durch ein zweites Fenster. Jetzt konnte er den Polizisten deutlich erkennen: Mit gezogener Waffe ging er von Tür zu Tür und verhörte die Bewohner der Häuser. Vor einem Haus, über dessen Tür so etwas wie ein Bündel hing, blieb er stehen. Er zögerte und ging weiter. Dem Bettler kam eine Idee.

„Hast du ein Stück Papier?“, flüsterte er seinem Kumpanen zu. Es waren die ersten Worte, die seit der Flucht vom Paradise zwischen ihnen fielen. Der Angesprochene antwortete nicht, sondern kramte in seiner Tasche und holte ein Blatt Papier heraus. „Nicht so ein kleines, ein größeres. Und schau mal nach, ob sich nicht hier auch ein paar Knochen, trockene Maiskolben, Lumpen und ein Stück Schnur finden.“

Wenn der andere von den Forderungen überrascht war, dann zeigte er es nicht. Er tastete lediglich in der Dunkelheit herum, kam mit einem Stück Karton, einem Knochen, ein paar Fetzen Stoff und einem Stück Schnur zurück, die er dem anderen schweigend übergab, und nahm seinen Beobachtungsposten am Fenster wieder ein.

Der zweite Bettler band den Knochen und die Stofffetzen zusammen. Dann zog er einen Filzstift aus seiner Tasche und schrieb in Großbuchstaben auf den Karton: ACHTUNG! DIESES ANWESEN GEHÖRT EINEM ZAUBERER, DESSEN MACHT FALKEN UND KRÄHEN VOM HIMMEL HOLT. SIE NÄHERN SICH DIESEM HAUS AUF EIGENE GEFAHR. – DER HERR DER KRÄHEN. Er gab sich Mühe, kein Geräusch zu machen, öffnete langsam die Haustür und entdeckte etwas noch Besseres: eine tote Eidechse und einen vertrockneten Frosch. Beide steckte er in das Bündel aus Knochen und Lumpen und hängte es als Omen direkt über die Tür, bevor er sich schnell zurückzog und zu dem anderen Bettler ans Fenster trat.

Dicht aneinandergedrängt, konnten die beiden den Platz vor der Tür gerade so überblicken. Bald sahen sie den Polizisten näherkommen und hielten ängstlich den Atem an. Würde er die Tür eintreten? Als der Polizist das Bündel aus Knochen und Lumpen sah, trat er einen Schritt zurück. Dann nahm er allen Mut zusammen und ging wieder näher an das Bündel heran. Er wollte es bereits berühren, als er einen Froschschenkel und den Schwanz der Eidechse entdeckte. Starr vor Schreck las er, was auf dem Karton stand, fand seine Stimme wieder und stieß einen Schrei des Entsetzens aus: Oh, der Herr der Krähen! Auf der Stelle lief er davon, wobei er ständig vor sich hin murmelte: „Ich wusste, dass das keine Bettler waren. Das waren Teufel, Dschinns aus der Steppe, die der Herr der Krähen geschickt hat, um mich ins Verderben zu führen. Wehe mir! Er hat mich verhext. Wehe mir! Ich werde sterben! Ich bin ein Todgeweihter!“

Die beiden Bettler konnten sich vor Lachen kaum halten. Eine Stimme schien einem Mann zu gehören, die andere einer Frau, doch fiel keinem der Unterschied auf. Der Bettler, der sich in dem Haus auszukennen schien, machte Licht. Das Lachen brach ab. Die beiden starrten einander an und konnten ihren Augen kaum trauen. Als sie dann etwas sagten, trafen sich ihre Fragen im Raum:

„Nyawĩra?“

„Kamĩtĩ?“

Herr der Krähen
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