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Das Paradise, in dem Machokali den Empfang für die Delegation der Global Bank gab, war eines der größten Hotels am Ruler’s Square und berühmt für seine sieben Statuen des Herrschers, die – versunken in würdevollem Schweigen – von sieben Fontänen umringt waren, die aus den Mündern von sieben Cherubim hervorsprudelten und eine Art Wassertanz in Huldigung des Herrschers aufführten. Vier Statuen befanden sich an den Ecken des Platzes und zeigten den Herrscher in unterschiedlichen Posen zu Pferde, während die drei in der Platzmitte ihn auf einem Löwen, einem Leoparden und einem Tiger darstellten. Die Cherubim spien abwechselnd Wasser in die Luft, Tag und Nacht. In den Stunden von Dunst oder Dunkelheit strahlten Scheinwerfer die Skulpturen und Fontänen an.

Die Herkunft der Gäste der einzelnen Sieben-Sterne-Hotels konnte man anhand ihrer Reaktion auf die Statuen und Springbrunnen leicht bestimmen: Ausländische Gäste blieben oft stehen, um einen Moment den Tanz der Fontänen zu bewundern und anschließend ihre Bemerkungen zu machen; einheimische Würdenträger hingegen marschierten wegen des vertrauten Anblicks einfach über den Platz, ohne das Schauspiel eines Blickes zu würdigen; es sei denn, sie waren in Begleitung von Ausländern, dann hielten sie kurz inne und erklärten, was in der Gestaltgebung der Statuen, der Anordnung der Springbrunnen und in der Choreographie der Wasserspiele in Aburĩria so einzigartig sei. Natürlich vergaßen sie nie, die Bedeutung der Zahl sieben zu erwähnen. Das ist die heilige Zahl des Herrschers, erklärten sie, als verrieten sie ein Geheimnis. Und die Raubkatzen?, mochte ein Besucher fragen. Das sind die Totems des Herrschers, verkündeten sie dann ehrfürchtig.

Auch an diesem Abend war es nicht anders, als die Gäste zum Paradise strömten. Einige Ausländer blieben stehen und machten ein paar oberflächliche Bemerkungen, während die Mehrheit der Einheimischen direkt in die Empfangshalle marschierte, als fürchteten sie, etwas zu verpassen.

Es ging das Gerücht um, dass die Mitglieder der Delegation eine Menge Bares mitgebracht hatten, das an die Armen verteilt werden sollte, denn schließlich hieß die Global Bank nicht umsonst so. Außer den geladenen Gästen, die in Mercedes-Limousinen samt Fahrer vorfuhren, und anderen, für die die Anwesenheit Pflicht war, hatten sich deshalb noch viele weitere Menschen versammelt. Barfüßig warteten sie voller Hoffnung vor den Toren des Paradise auf die Brosamen der Freigiebigkeit. Die Menge, die sich vor den Toren befand, gliederte sich in drei unterschiedliche Gruppen.

Die Polizei war da, um die Besucher vor jeglicher Störung durch zwielichtige Bettler zu schützen, hatte aber den Befehl, keine übermäßige Gewalt anzuwenden. Die hochrangigen Gäste sollten nicht den Eindruck bekommen, es gebe in Aburĩria Konflikte. Wenn man Gelder für Marching to Heaven einwerben wollte, war es wichtig, das Bild eines friedlichen Landes zu vermitteln.

Die Medien waren in großer Zahl erschienen, denn wie auch immer man zu der Angelegenheit stand, die Sache war eine Nachricht wert. Keiner hatte je davon gehört oder gelesen, nicht einmal im Buch der Rekorde, dass ein Land um einen Kredit für ein derartiges Vorhaben nachgesucht hatte, zumindest nicht in jüngerer Zeit. Das einzige vergleichbare Vorhaben stammte aus biblischen Zeiten, nur waren die Kinder Israels damals nicht in der Lage gewesen, den Turm zu Babel zu vollenden. Die Medien beschäftigten vor allem zwei Fragen: Was hielten die Vertreter der Bank von der Wiederaufnahme eines Vorhabens, mit dem sich sogar das erwählte Volk Gottes übernommen hatte? Und würde die Global Bank das Geld zur Verfügung stellen?

Die Mitglieder der dritten Gruppe waren ebenfalls keine Fremden auf diesem Gelände. Zu allen Tages- und Nachtzeiten trieben sich die Bettler bei solchen Hotels herum. An diesem Abend jedoch war ihre Zahl außergewöhnlich groß, und die ganze Welt konnte sehen, wie Elend aussah. Die Blinden schienen blinder als gewöhnlich, die Buckligen noch gebeugter, und die, denen Beine oder Hände fehlten, taten so, als fehlten ihnen auch andere Körperteile. Sie schienen zu glauben, die Global Bank sei ihretwegen angereist, um ihre Misere zu lindern. Weil sie annahmen, die Delegationsmitglieder seien aus allen Winkeln der Welt gekommen, sangen sie in mehreren Sprachen: „Ihr seid der Weg. Wir sind die Welt! Helft den Armen! Helft den Armen!“ Ab und zu schob ein Bettler den anderen aus dem Weg, doch so lange sie nicht versuchten, den Sicherheitsgürtel um das Paradise zu durchbrechen, mischte sich die Polizei nicht ein. Sie hielt sich auch dann noch zurück, als einige versuchten, sie zu provozieren.

Als jedoch alle Gäste das Paradise mit einem kurzen „Kein Kommentar“ betraten, wurden die Medien im Hof angesichts dieser Einmütigkeit unverkennbar nervös. Nachrichten gab es bei Stürmen, nicht bei Flauten. Einige richteten ihre Kameras auf die Bettler mit ihren Krücken und Missbildungen. Vor allem die ausländischen Journalisten waren sehr an diesen Szenen interessiert, weil sie überzeugt waren, Nachrichten aus Afrika wären ohne Bilder von Menschen, die an schrecklicher Armut, Hungersnot oder ethnischen Konflikten zugrundegingen, für ihr Publikum zu Hause kaum interessant.

Als würden sie die Gebete der Medien erhören, begann eine Gruppe von Bettlern Parolen zu skandieren, die die Anstandsregeln des Bettelns verletzten: „Marching to Heaven is Marching to Hell.“ „Eure Kredite sind Sklavenketten.“ „Eure Kredite sind die Ursache des Bettelns.“ „Wir Bettler betteln um das Ende des Bettelns.“ „Marching to Heaven wird von gefährlichen Schlangen angeführt.“ Vor allem diese Parole wurde immer wieder gerufen.

Viele Beobachter stimmten darin überein, dass die Parolen kaum mehr als eine sanfte Rüge seitens der Polizei zur Folge gehabt hätten, wäre nicht das Wort „Schlangen“ vorgekommen, was die Erinnerung an jene Schlangen wachrief, die die Geburtstagsfeier des Herrschers gestört hatten. Der M5 übermittelte Sikiokuu, die Bettler verhielten sich feindselig, und hob besonders hervor, dass diese Ganoven das Wort „Schlange“ nicht nur ein Mal gerufen, sondern mehrfach wiederholt hätten.

Sikiokuu saß noch im Büro, hatte aber seine Ohren am Geschehen und hoffte, dass im Paradise etwas schieflief, damit er für eine Eskalation sorgen konnte. Die Nachricht vom M5 kam ihm daher sehr gelegen. Er erinnerte sich daran, wie der Herrscher ihn zur Verantwortung gezogen hatte, weil er nicht rasch genug reagiert hatte, um die Störung seiner Geburtstagsfeier zu verhindern. Jetzt war er fest entschlossen, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Deshalb konsultierte er den Herrscher erst gar nicht und gab seine Befehle.

Auch wenn sie sich bisher um stoische Ruhe bemüht und einige sogar Humor unter Beweis gestellt hatten, ärgerten sich die Polizeikräfte, dass ihnen Zurückhaltung befohlen worden war. Umso mehr freuten sie sich, als sie jetzt etwas zu tun bekamen. Mit ihrer Ausrüstung aus Knüppeln, Schilden und Gewehren ging die Polizei gegen die Menge vor.

Gleich und gleich mag sich in friedlichen Zeiten gern zueinandergesellen, wenn aber Gefahr droht, flieht jeder für sich. Sowie sich die Bettler zerstreuten, geschah ein Wunder. Als sie von den Toren des Paradise verschwanden, flohen die Buckligen aufrecht, die Blinden konnten wieder sehen, und die ohne Arme und Beine hatten ihre Glieder wieder.

Herr der Krähen
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