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Kaniũrũ hatte schon immer sein Bild in der Zeitung sehen wollen. Er war frustriert und wütend auf die Presse, denn selbst als er zum Anführer der Jugendbrigaden und später zum Stellvertreter des Vorsitzenden von Marching to Heaven berufen worden war, hatte sich nicht eine einzige Zeitung für ihn interessiert und sein Bild veröffentlicht. Deshalb war er sehr zufrieden, als er bei seinem ersten Seminar sah, wie zwei Reporter ihre Fotokameras auspackten.

Das eintägige Seminar zum „Kaniũrũ-Memorandum zu Neuen Bildungsinitiativen für Jugendliche und Frauen zum Zwecke ihrer Ausrichtung auf Nationale Ideale und die Philosophie des Herrschers“ sollte der Beginn einer Reihe von Seminaren in den verschiedenen Landesteilen sein, weshalb viel von seinem Erfolg abhing. Es fand in der Ruler’s Hall in Eldares statt und sollte morgens um zehn beginnen. Die Beteiligung war eine Katastrophe. Nicht einmal die Mitglieder der Jugendbrigade tauchten auf, weil sie annahmen, das Seminar sei für diejenigen gedacht, die die Papageiologie noch nicht als Norm akzeptierten. Um elf Uhr waren die Hauptredner – ein Professor für Geschichte der Papageiologie, ein Professor der Politischen Wissenschaft der Papageiologie, ein Professor für Literaturwissenschaft, ein Professor für Psychologie und Philosophie der Papageiologie, ein Professor für die Naturwissenschaft der Papageiologie und schließlich Kaniũrũ, der Leiter des Seminars – die einzigen Anwesenden. Sie saßen auf dem Podium und warteten auf Teilnehmer, aber die beiden Reporter blieben das einzige Publikum. „Scheint, dass es hier nach afrikanischer Zeit geht“, versuchte Kaniũrũ mit den Reportern zu scherzen.

Als die erwarteten Studenten um zwei Uhr immer noch nicht aufgetaucht waren, wurden die Reporter unruhig und fragten: „Wann wird der Herrscher eintreffen?“ Oh, sind sie deshalb so frühzeitig gekommen?, dachte Kaniũrũ. Er hatte bei den Zeitungen angedeutet, dass der Herrscher das Seminar eröffnen könnte, doch weil er um den gegenwärtigen Zustand des Herrschers wusste, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, das Thema bei ihm nochmals anzuschneiden. Kaniũrũ sagte den Reportern, der Herrscher komme zwar nicht, aber er habe eine Botschaft geschickt. Sie baten ihn um eine Abschrift der Botschaft, damit sie gehen könnten. Das brachte Kaniũrũ zu dem Entschluss, das Seminar ohne Zuhörerschaft zu eröffnen, denn, so zitierte er eine Redewendung, die Sonne warte auf niemanden, nicht einmal auf einen König – und er sei nicht einmal ein König. Er legte den unruhigen Reportern nahe, ihre Fotoapparate auf das Podium und nicht auf die leeren Plätze zu richten. Außerdem bot er ihnen ein Interview an, allerdings erst nach der Versammlung.

Kaniũrũ eröffnete das Seminar mit der Ankündigung, dass er gegen Ende der Sitzung die Grußbotschaft des Staatsoberhauptes an das Seminar verlesen werde. Bis dahin habe er noch ein paar andere Dinge zu sagen. Der Schlangenwahn im Land sei zum großen Teil von Universitätsstudenten ausgelöst und angeheizt worden, und unglücklicherweise seien ihrem schlechten Beispiel viele Menschen gefolgt, bis …

Bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte, sah er, wie sich eine lange Reihe junger Leute der Halle näherte. Erfreut beeilte er sich, seine Worte abzuschwächen.

„Das heißt natürlich nicht, dass alle Warteschlangen zu jeder Zeit und überall schlecht und unmoralisch sind“, fuhr Kaniũrũ fort und winkte den beiden Zeitungsleuten, ihre Fotoapparate auf die Ankömmlinge zu richten. „Wenn durch intelligente Menschen, die wissen, warum sie sich in einer Reihe aufstellen und worauf ihre Schlangen gerichtet sind, ordentliche Warteschlangen entstehen, wie bei diesen guten jungen Menschen, die gerade die Halle betreten … Ich will sie am Eingang begrüßen.“

Kaniũrũ, der unbedingt auf das Foto wollte, stolperte vor Aufregung fast über die eigenen Füße, als er vom Podium sprang und zur Tür hetzte, um die jungen Leute zu begrüßen.

Plötzlich war Kaniũrũ von den Jugendlichen umringt, die Fahndungsplakate hochhielten, auf denen er Arm in Arm mit Nyawĩra zu sehen war, und schrien: „Hier ist er! Hier ist er!“ Die Professoren waren von dem Tumult verwirrt, doch als sie die Plakate sahen, sprangen sie aus den Fenstern und riefen, man habe sie verleitet, an einem Seminar teilzunehmen, das von einem Terroristen organisiert werde. Die Reporter machten Schnappschüsse und dokumentierten die außergewöhnliche Szene, in der die Studenten Kaniũrũs Hände fesselten und ihn davonschleppten. Andere stießen ihn von hinten, und wieder andere stolzierten neben ihm her und hielten ihre Plakate in die Höhe. Sie brachten ihn zur nächsten Polizeiwache.

Als Kaniũrũ den Polizisten erzählte, wer er war, glaubten sie ihm nicht. „Hör auf zu lügen“, sagten sie, zeigten auf das Fahndungsplakat mit seinem Bild, und setzten auf Kiswahili hinzu: „Bist das nicht du, der mit der Terroristin Nyawĩra Händchen hält?“ Kaniũrũ gab zu, dass das Bild tatsächlich ihn zeigte. Aber er wurde wütend, als sie sich weigerten, seine Erklärung anzuhören, und ihn lachend unterbrachen, als er sie aufforderte, im State House anzurufen, um sich seine Identität bestätigen zu lassen. Noch misstrauischer wurden die Polizisten jedoch, als sie ihm schließlich anboten, Sikiokuu anzurufen, den Staatsminister im Büro des Herrschers, er aber Panik bekam und sie anflehte, stattdessen den Herrscher zu kontaktieren.

Als die Polizisten den Staatsminister anriefen, um zu erfragen, wie sie mit dem Kriminellen verfahren sollten, konnten sie weder Sikiokuu noch einen anderen Verantwortlichen erreichen, der die Angelegenheit klären konnte. Deshalb behielt man Kaniũrũ über Nacht in der Polizeistation.

Das Bild Kaniũrũs mit gefesselten Händen erschien am nächsten Morgen neben einem Foto des Fahndungsplakats auf der Titelseite von zwei Zeitungen; die Schlagzeilen lauteten: STUDENTEN NEHMEN NYAWĨRAS KOMPLIZEN FEST.

Ironischerweise bewahrten das Bild und der Artikel Kaniũrũ davor, länger im Gefängnis zu bleiben, denn als ASS Kahiga die Zeitung sah, rief er im State House an und fragte, warum man seinen Chef verhaftet habe und was er unternehmen solle. Der Herrscher befahl Kaniũrũs sofortige Freilassung.

Als Sikiokuu wegen des Plakats befragt wurde, behauptete er, er habe Kaniũrũ keineswegs schaden wollen. Er sei lediglich darauf aus gewesen, Nyawĩra zu verhaften, aber das einzige Foto, das er von ihr besitze, zeige sie Hand in Hand mit Kaniũrũ. So erfuhr der Herrscher zum ersten Mal von der Verbindung zwischen Kaniũrũ und Nyawĩra und sagte sich: Da steckt mehr dahinter, als auf den ersten Blick zu erkennen ist, aber ich werde das aufdecken! Dennoch befahl er, Kaniũrũs Bild vom Plakat zu entfernen.

Kaniũrũ hatte häufig behauptet, er sei von seiner blinden Großmutter aufgezogen worden, weil seine Eltern gestorben waren, als er noch ein Säugling war. In Wahrheit war jedoch seine Großmutter gestorben. Nun musste er weitere Verunglimpfungen ertragen, als die Zeitungen einige Tage später Fotos seiner alten Eltern aus einem abgelegenen Dorf veröffentlichten, die in den Straßen von Eldares nach ihm suchten, weil sie die Fotos gesehen hatten, auf denen er abgeführt worden war.

Trotz seiner Freilassung war Kaniũrũ verbittert darüber, dass die ersten Fotos von ihm, die je in der Presse erschienen waren, ein demütigendes Fiasko für ihn darstellten.

Herr der Krähen
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