4

Nyawĩra hatte die Mutige gespielt, um sich in Kaniũrũs Gegenwart keine Blöße zu geben, aber ihr Herz hatte vor Unruhe gerast. Sie war überzeugt, dass Sikiokuu und Kaniũrũ kaum etwas über die Bewegung wussten. Trotzdem war Vorsicht keine Feigheit, und sie wollte verhindern, dass Kaniũrũ sie noch einmal aufspürte. Eine Möglichkeit war, ihren Job zu kündigen. Doch wie sollte die Bewegung dann an Informationen über Marching to Heaven und die Global-Bank-Delegation herankommen? Den Arbeitsplatz zu wechseln, war eine andere Möglichkeit. Aber sollte sie wegen eines Mannes, diesem Kaniũrũ, ständig auf der Flucht sein?

Sie dachte an Kaniũrũ und die Jahre, in denen sie sich nahegestanden waren. Anfangs hatte alles so vielversprechend ausgesehen, zumindest für sie. Sie hatte sich schöne Bilder ihrer gemeinsamen Zukunft ausgemalt: Wie sie bei Morgengrauen aufwachten und sich, die jugendlichen Augen zum Blau des Himmels gerichtet, bei der Hand nahmen und unerschrocken in die Welt hinaustraten, um sich ein Heim zu bauen, das Fundament ihrer Zukunft! Wie anders alles gekommen war! Ihre unerfüllt gebliebenen Träume sahen sie unterschiedlich: Während sie mit jedem Tag mehr davon überzeugt war, ihn niemals so weit zu bewegen, seine Art zugunsten ihrer Vorstellungen zu ändern, glaubte Kaniũrũ – selbst nach der Scheidung –, dass er sie dazu bringen könnte, sich seiner Sicht auf die Welt anzupassen. Schließlich war er, der Mann, zu führen bestimmt, und sie, die Frau, hatte zu folgen.

Nyawĩra war so in Gedanken versunken, dass sie von der Busfahrt und der Fahrt mit dem matatu kaum etwas mitbekam. Aber sie war diese Strecke so oft gefahren, dass sie instinktiv wusste, wann sie aussteigen musste und auch den Weg nach Hause fand sie im Schlaf.

So kam es, dass Nyawĩra plötzlich mit offenem Mund vor ihrem Haus stand. Das Mondlicht verstärkte die armselige Straßenbeleuchtung. Sie war sprachlos: Vor ihrem Haus stand eine Schlange!

Zuerst glaubte sie, sich verlaufen zu haben. War sie vielleicht in den falschen Bus gestiegen? Sie hätte im Mars Café nicht so viel Zeit vertrödeln sollen, dann hätte sie auch nicht ihren regulären Bus und das matatu verpasst. Oder war sie an der falschen Haltestelle ausgestiegen? Oder in die falsche Richtung gegangen? Vielleicht hatten die Arbeitssuchenden gesehen, wie sie das Büro verlassen hatte und waren ihr nach Hause gefolgt? Sie hätte schwören können, dass die Schlange, die an dem Anschlag vor ihrem Büro begann, noch da war, als sie das Mars Café verließ. Während sie sich die Männer, die aufgereiht vor ihrer Haustür standen, genauer ansah, fiel ihr auf, dass alle Anzüge trugen, die anders aussahen als die mit Flicken besetzten und abgetragenen Gewänder der Arbeitssuchenden. Die Gesichter jedoch konnte sie nicht erkennen, denn die Männer trugen Kapuzen und breitkrempige Hüte.

Nyawĩra wollte einen von ihnen fragen, was hier los sei. Sie machte einen Schritt, zögerte dann aber und blieb stehen. Was, wenn es sich hier um die gerade aktivierten Augen und Ohren und Nasen des Herrschers handelte? Plötzlich fiel ihr Kamĩtĩ ein. Was war mit ihm passiert? Ihre Angst wuchs. Immerhin war Sikiokuu nach Kaniũrũs Aussage mit besonderer Macht ausgestattet worden, um die Gegner des Regimes auszulöschen. Kaniũrũ hatte es auf Kamĩtĩ abgesehen und könnte die Staatssicherheitskräfte zu ihrem Haus geführt haben. Oder war A.G. mit einer Polizeieinheit zurückgekommen? A.G. hatte so etwas angedeutet, und jetzt, da er die Aufgabe bekommen zu haben schien, Dschinns zu verhaften, war er vielleicht auf den Gedanken gekommen, den Herrn der Krähen festzunehmen?

Entschlossen ging sie zum Haus eines Nachbarn, um herauszufinden, was vor sich ging. Auf dem Weg dorthin sah sie einen Mann aus seinem Haus treten, nach hinten gehen und an die Wand pinkeln. Sie trat auf ihn zu, als er gerade wieder ins Haus zurückwollte.

„Was ist denn hier los?“, fragte sie unbekümmert und wies beiläufig zur Schlange hinüber, ohne preiszugeben, dass sie in diesem Haus wohnte.

„Die da drüben? Lass die bloß in Ruhe!“, antwortete der Mann. „Das ist alles wegen diesem Zauberheiler, diesem – wie nennt er sich gleich? – Herrn der Krähen. Die Methoden dieser Hexenmeister sind sonderbar. Erst vor zwei Tagen hat er einen Aushang an seiner Tür angebracht, auf dem er sein dunkles Geschäft ankündigte. Zunächst kamen nicht mehr als zehn Leute, um ihn zu konsultieren. Doch jetzt schau dir das an! Ich habe keine Ahnung, was da los ist. Lady, geh deiner Wege, ich geh den meinen; es ist nicht gut, im Dunkeln zu viele Fragen zu stellen.“

Nyawĩra hatte in Santalucia schon viele Wunder erlebt, aber das übertraf alle. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie ging auf die Rückseite ihres Hauses und klopfte ans Fenster. Keine Antwort. Sie wartete einen Augenblick und klopfte erneut. Beim dritten Versuch teilten sich die Gardinen und sie sah die Umrisse eines Menschen. Als sie Kamĩtĩ erkannte, war Nyawĩra erleichtert. Er half ihr, durch das Schlafzimmerfenster zu klettern und gab ihr ein Zeichen, still zu sein und sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann ging er wieder an die Arbeit.

Herr der Krähen
titlepage.xhtml
cover.xhtml
copy.xhtml
titel.xhtml
wid.xhtml
zitate.xhtml
inhalt.xhtml
book1.xhtml
ch01.xhtml
ch02.xhtml
ch03.xhtml
ch04.xhtml
ch05.xhtml
ch06.xhtml
ch07.xhtml
ch08.xhtml
ch09.xhtml
ch10.xhtml
ch11.xhtml
ch12.xhtml
ch13.xhtml
ch14.xhtml
ch15.xhtml
book2.xhtml
book2p1.xhtml
ch16.xhtml
ch17.xhtml
ch18.xhtml
ch19.xhtml
ch20.xhtml
ch21.xhtml
ch22.xhtml
ch23.xhtml
ch24.xhtml
ch25.xhtml
ch26.xhtml
ch27.xhtml
ch28.xhtml
ch29.xhtml
ch30.xhtml
ch31.xhtml
ch32.xhtml
book2p2.xhtml
ch33.xhtml
ch34.xhtml
ch35.xhtml
ch36.xhtml
ch37.xhtml
ch38.xhtml
ch39.xhtml
ch40.xhtml
ch41.xhtml
ch42.xhtml
ch43.xhtml
ch44.xhtml
ch45.xhtml
ch46.xhtml
ch47.xhtml
ch48.xhtml
ch49.xhtml
ch50.xhtml
ch51.xhtml
ch52.xhtml
ch53.xhtml
book2p3.xhtml
ch54.xhtml
ch55.xhtml
ch56.xhtml
ch57.xhtml
ch58.xhtml
ch59.xhtml
ch60.xhtml
ch61.xhtml
ch62.xhtml
ch63.xhtml
ch64.xhtml
ch65.xhtml
ch66.xhtml
ch67.xhtml
ch68.xhtml
book3.xhtml
book3p1.xhtml
ch70.xhtml
ch71.xhtml
ch72.xhtml
ch73.xhtml
ch74.xhtml
ch75.xhtml
ch76.xhtml
ch77.xhtml
ch78.xhtml
ch79.xhtml
ch80.xhtml
ch81.xhtml
ch82.xhtml
ch83.xhtml
ch84.xhtml
ch85.xhtml
ch86.xhtml
ch87.xhtml
book3p2.xhtml
ch88.xhtml
ch89.xhtml
ch90.xhtml
ch91.xhtml
ch92.xhtml
ch93.xhtml
ch94.xhtml
ch95.xhtml
ch96.xhtml
ch97.xhtml
ch98.xhtml
ch99.xhtml
ch100.xhtml
ch101.xhtml
ch102.xhtml
ch103.xhtml
ch104.xhtml
ch105.xhtml
ch106.xhtml
ch107.xhtml
ch108.xhtml
ch109.xhtml
ch110.xhtml
book3p3.xhtml
ch111.xhtml
ch112.xhtml
ch113.xhtml
ch114.xhtml
ch115.xhtml
ch116.xhtml
ch117.xhtml
ch118.xhtml
ch119.xhtml
ch120.xhtml
ch121.xhtml
ch122.xhtml
ch123.xhtml
ch124.xhtml
ch125.xhtml
ch126.xhtml
book4.xhtml
book4p1.xhtml
ch127.xhtml
ch128.xhtml
ch129.xhtml
ch130.xhtml
ch131.xhtml
ch132.xhtml
ch133.xhtml
ch134.xhtml
ch135.xhtml
ch136.xhtml
ch137.xhtml
ch138.xhtml
ch139.xhtml
ch140.xhtml
ch141.xhtml
ch142.xhtml
ch143.xhtml
ch144.xhtml
ch145.xhtml
ch146.xhtml
ch147.xhtml
ch148.xhtml
ch149.xhtml
ch150.xhtml
ch151.xhtml
book4p2.xhtml
ch152.xhtml
ch153.xhtml
ch154.xhtml
ch155.xhtml
ch156.xhtml
ch157.xhtml
ch158.xhtml
ch159.xhtml
ch160.xhtml
ch161.xhtml
ch162.xhtml
ch163.xhtml
ch164.xhtml
ch165.xhtml
ch166.xhtml
ch167.xhtml
ch168.xhtml
ch169.xhtml
ch170.xhtml
ch171.xhtml
ch172.xhtml
book4p3.xhtml
ch173.xhtml
ch174.xhtml
ch175.xhtml
ch176.xhtml
ch177.xhtml
ch178.xhtml
ch179.xhtml
ch180.xhtml
ch181.xhtml
ch182.xhtml
ch183.xhtml
ch184.xhtml
ch185.xhtml
ch186.xhtml
ch187.xhtml
ch188.xhtml
ch189.xhtml
ch190.xhtml
ch191.xhtml
ch192.xhtml
ch193.xhtml
ch194.xhtml
ch195.xhtml
ch196.xhtml
ch197.xhtml
book5.xhtml
book5p1.xhtml
ch198.xhtml
ch199.xhtml
ch200.xhtml
ch201.xhtml
ch202.xhtml
ch203.xhtml
ch204.xhtml
ch205.xhtml
ch206.xhtml
ch207.xhtml
ch208.xhtml
ch209.xhtml
ch210.xhtml
ch211.xhtml
ch212.xhtml
ch213.xhtml
ch214.xhtml
ch215.xhtml
ch216.xhtml
ch217.xhtml
ch218.xhtml
ch219.xhtml
ch220.xhtml
ch221.xhtml
ch222.xhtml
ch223.xhtml
ch224.xhtml
ch225.xhtml
ch226.xhtml
book5p2.xhtml
ch227.xhtml
ch228.xhtml
ch229.xhtml
ch230.xhtml
ch231.xhtml
ch232.xhtml
ch233.xhtml
ch234.xhtml
ch235.xhtml
ch236.xhtml
ch237.xhtml
ch238.xhtml
book5p3.xhtml
ch239.xhtml
ch240.xhtml
book6.xhtml
ch241.xhtml
ch242.xhtml
ch243.xhtml
ch244.xhtml
ch245.xhtml
ch246.xhtml
ch247.xhtml
ch248.xhtml
ch249.xhtml
ch250.xhtml
ch251.xhtml
ch252.xhtml
ch253.xhtml
ch254.xhtml
dank.xhtml
author.xhtml
bm2.xhtml