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Nyawĩra hatte die Mutige gespielt, um sich in Kaniũrũs Gegenwart keine Blöße zu geben, aber ihr Herz hatte vor Unruhe gerast. Sie war überzeugt, dass Sikiokuu und Kaniũrũ kaum etwas über die Bewegung wussten. Trotzdem war Vorsicht keine Feigheit, und sie wollte verhindern, dass Kaniũrũ sie noch einmal aufspürte. Eine Möglichkeit war, ihren Job zu kündigen. Doch wie sollte die Bewegung dann an Informationen über Marching to Heaven und die Global-Bank-Delegation herankommen? Den Arbeitsplatz zu wechseln, war eine andere Möglichkeit. Aber sollte sie wegen eines Mannes, diesem Kaniũrũ, ständig auf der Flucht sein?
Sie dachte an Kaniũrũ und die Jahre, in denen sie sich nahegestanden waren. Anfangs hatte alles so vielversprechend ausgesehen, zumindest für sie. Sie hatte sich schöne Bilder ihrer gemeinsamen Zukunft ausgemalt: Wie sie bei Morgengrauen aufwachten und sich, die jugendlichen Augen zum Blau des Himmels gerichtet, bei der Hand nahmen und unerschrocken in die Welt hinaustraten, um sich ein Heim zu bauen, das Fundament ihrer Zukunft! Wie anders alles gekommen war! Ihre unerfüllt gebliebenen Träume sahen sie unterschiedlich: Während sie mit jedem Tag mehr davon überzeugt war, ihn niemals so weit zu bewegen, seine Art zugunsten ihrer Vorstellungen zu ändern, glaubte Kaniũrũ – selbst nach der Scheidung –, dass er sie dazu bringen könnte, sich seiner Sicht auf die Welt anzupassen. Schließlich war er, der Mann, zu führen bestimmt, und sie, die Frau, hatte zu folgen.
Nyawĩra war so in Gedanken versunken, dass sie von der Busfahrt und der Fahrt mit dem matatu kaum etwas mitbekam. Aber sie war diese Strecke so oft gefahren, dass sie instinktiv wusste, wann sie aussteigen musste und auch den Weg nach Hause fand sie im Schlaf.
So kam es, dass Nyawĩra plötzlich mit offenem Mund vor ihrem Haus stand. Das Mondlicht verstärkte die armselige Straßenbeleuchtung. Sie war sprachlos: Vor ihrem Haus stand eine Schlange!
Zuerst glaubte sie, sich verlaufen zu haben. War sie vielleicht in den falschen Bus gestiegen? Sie hätte im Mars Café nicht so viel Zeit vertrödeln sollen, dann hätte sie auch nicht ihren regulären Bus und das matatu verpasst. Oder war sie an der falschen Haltestelle ausgestiegen? Oder in die falsche Richtung gegangen? Vielleicht hatten die Arbeitssuchenden gesehen, wie sie das Büro verlassen hatte und waren ihr nach Hause gefolgt? Sie hätte schwören können, dass die Schlange, die an dem Anschlag vor ihrem Büro begann, noch da war, als sie das Mars Café verließ. Während sie sich die Männer, die aufgereiht vor ihrer Haustür standen, genauer ansah, fiel ihr auf, dass alle Anzüge trugen, die anders aussahen als die mit Flicken besetzten und abgetragenen Gewänder der Arbeitssuchenden. Die Gesichter jedoch konnte sie nicht erkennen, denn die Männer trugen Kapuzen und breitkrempige Hüte.
Nyawĩra wollte einen von ihnen fragen, was hier los sei. Sie machte einen Schritt, zögerte dann aber und blieb stehen. Was, wenn es sich hier um die gerade aktivierten Augen und Ohren und Nasen des Herrschers handelte? Plötzlich fiel ihr Kamĩtĩ ein. Was war mit ihm passiert? Ihre Angst wuchs. Immerhin war Sikiokuu nach Kaniũrũs Aussage mit besonderer Macht ausgestattet worden, um die Gegner des Regimes auszulöschen. Kaniũrũ hatte es auf Kamĩtĩ abgesehen und könnte die Staatssicherheitskräfte zu ihrem Haus geführt haben. Oder war A.G. mit einer Polizeieinheit zurückgekommen? A.G. hatte so etwas angedeutet, und jetzt, da er die Aufgabe bekommen zu haben schien, Dschinns zu verhaften, war er vielleicht auf den Gedanken gekommen, den Herrn der Krähen festzunehmen?
Entschlossen ging sie zum Haus eines Nachbarn, um herauszufinden, was vor sich ging. Auf dem Weg dorthin sah sie einen Mann aus seinem Haus treten, nach hinten gehen und an die Wand pinkeln. Sie trat auf ihn zu, als er gerade wieder ins Haus zurückwollte.
„Was ist denn hier los?“, fragte sie unbekümmert und wies beiläufig zur Schlange hinüber, ohne preiszugeben, dass sie in diesem Haus wohnte.
„Die da drüben? Lass die bloß in Ruhe!“, antwortete der Mann. „Das ist alles wegen diesem Zauberheiler, diesem – wie nennt er sich gleich? – Herrn der Krähen. Die Methoden dieser Hexenmeister sind sonderbar. Erst vor zwei Tagen hat er einen Aushang an seiner Tür angebracht, auf dem er sein dunkles Geschäft ankündigte. Zunächst kamen nicht mehr als zehn Leute, um ihn zu konsultieren. Doch jetzt schau dir das an! Ich habe keine Ahnung, was da los ist. Lady, geh deiner Wege, ich geh den meinen; es ist nicht gut, im Dunkeln zu viele Fragen zu stellen.“
Nyawĩra hatte in Santalucia schon viele Wunder erlebt, aber das übertraf alle. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie ging auf die Rückseite ihres Hauses und klopfte ans Fenster. Keine Antwort. Sie wartete einen Augenblick und klopfte erneut. Beim dritten Versuch teilten sich die Gardinen und sie sah die Umrisse eines Menschen. Als sie Kamĩtĩ erkannte, war Nyawĩra erleichtert. Er half ihr, durch das Schlafzimmerfenster zu klettern und gab ihr ein Zeichen, still zu sein und sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann ging er wieder an die Arbeit.