6

Die Schlangen blieben. Eine Weile lang verdrängte die Heimsuchung von Eldares durch Warteschlangendämonen alle Nachrichten über die Global-Bank-Delegation, die Kämpfe von Mariko und Maritha mit Satan und die Saga von fliegenden Seelen und Flugblätter verteilenden Dschinns.

Nyawĩra und Vinjinia kamen täglich ungefähr zur gleichen Zeit ins Büro. Sie unterhielten sich darüber, wie merkwürdig es war, dass sich die Schlange mit den Vertragsjägern vollständig aufgelöst hatte, wobei Nyawĩra Vinjinia verschwieg, dass sie einfach nur den Ort gewechselt hatte. Vinjinias Aufforderung, etwas gegen die verbliebene Schlange zu tun, wiegelte die Polizei von Santamaria ab. Ohne den Bericht des Polizisten mit dem Motorrad, der noch immer nicht wieder aufgetaucht war, konnten sie nicht viel unternehmen. So warteten die beiden Frauen geduldig auf die Rückkehr des Motorradfahrers, die das Ende dieser Warteschlange einleiten sollte.

Die Eintönigkeit wurde erst unterbrochen, als Vinjinia während der Schulferien ihre Kinder Gacirũ und Gacĩgua mit ins Büro brachte. Die Kinder wollten nicht zu Hause bei ihrem Vater bleiben, weil er unablässig denselben Satz vor sich hin bellte, und sie fürchteten, er könnte sich in einen Hund verwandeln.

Vom Anblick der Warteschlange fasziniert, vergaßen Gacirũ und Gacĩgua die Krankheit ihres Vaters schnell. Sie standen am Fenster, schauten hinaus und stellten endlos Fragen. Waren das da draußen Schüler? Bislang hatten sie nur in der Schule erlebt, dass man sich anstellen musste. Aber bald wurde ihnen langweilig, weil kaum etwas passierte – kein Herumgeschubse, kein Versteckspiel oder wilde Verfolgungsjagden, die strenge Verweise nach sich zogen.

Gacĩgua war der Erste, der seine Mutter bat, ihnen eine Geschichte zu erzählen, doch Vinjinia deutete auf ihre neue Tante.

Nyawĩra sang ihnen etwas vor und rezitierte Gedichte über Webervögel und Elefanten. Aber die Kinder wollten Geschichten hören, worauf Nyawĩra erklärte, Geschichten seien etwas für die Abendstunden, für zu Hause am brennenden Feuer und nichts für den Tag in einem Büro mit Telefon. Hakuna matata. Gacirũ und Gacĩgua taten einfach so, als wäre es Abend, das Büro das Zuhause und alle Leute in der Schlange wären Zuhörer. Nyawĩra gab schließlich nach. Sie würde ihnen die Geschichte vom Schmied, dem Ungeheuer und der Schwangeren erzählen.

„Was sind Ungeheuer?“, wollten die Kinder als Erstes wissen, und Nyawĩra erklärte ihnen, die marimũ seien menschenähnliche Wesen, die sich von Zeit zu Zeit von Menschen ernähren, vor allem von kleinen Kindern. Diese Kreaturen hätten zwei Mäuler, das eine vorn, das andere hinten am Kopf, und durch das Maul am Hinterkopf verspeisten sie Fliegen. Normalerweise aber sei das Maul am Hinterkopf unter ihren langen Haaren verborgen, die bis auf die Schultern fallen.

„Wie bei meiner Mutter?“, fragte Gacirũ.

„Gacirũ, willst du damit sagen, dass deine Mutter ein Ungeheuer ist?“, warf Vinjinia lachend ein.

„Nein, meine Mutter ist kein Ungeheuer“, sagte Gacĩgua. „Sie frisst keine Menschen.“

„Erzähl uns die Geschichte“, riefen beide im Chor.

Es war einmal ein Grobschmied, der machte sich auf den Weg zu einer weit entfernten Eisenschmiede. Während er fort war, bekam seine schwangere Frau zwei Kinder.

„Wie wir zwei“, sagte Gacirũ in einem Zwischenton aus Feststellung und Frage.

„Ja, wie ihr zwei, ein Mädchen und ein Junge, aber sie waren Zwillinge.“

„Und wie hießen sie?“, fragte Gacĩgua.

Auf diese Frage war Nyawĩra nicht vorbereitet, denn in der Version, die sie kannte, hatten die beiden Kinder keine Namen.

„Zu der Zeit, in der sich die Geschichte ereignete, hatte die Frau ihnen noch keine Namen gegeben“, antwortete sie.

„Warum nicht?“, fragte Gacirũ.

„Weil ihr ein Ungeheuer bei der Geburt geholfen hatte, das sie jetzt pflegte und das aber die Namen nicht erfahren sollte“, improvisierte Nyawĩra.

„Und warum hat das Ungeheuer das gemacht?“, fragte Gacirũ.

„Dummkopf. Weil der Mann nicht da war, natürlich“, mischte sich Gacĩgua ein.

„Mama! Mama, Gacĩgua hat Dummkopf zu mir gesagt!“

„Schluss jetzt, ihr beiden!“, rief Vinjinia herüber, „oder ich sage Nyawĩra, dass sie euch keine Geschichten mehr erzählt.“

Das Ungeheuer war eine miese Krankenschwester. Nachdem es Essen gekocht hatte, tat es dieses auf einen Teller und stellte ihn der Frau hin. Doch sobald sie die Hand ausstreckte, um das Essen zu nehmen, zog das Ungeheuer es schnell wieder weg und sagte: „Ich seh schon, du magst mein Essen nicht. Aber das ist nicht schlimm, ich werde es selber essen.“ Genauso verhielt es sich beim Wasser: „Du magst es nicht? Dann trinke ich es für dich.“

„Gacĩgua veralbert mich auch immer so“, klagte Gacirũ.

„Du mich doch auch“, schoss Gacĩgua zurück.

Sie stritten sich, beschuldigten sich gegenseitig und hätten so weitergemacht, wenn Nyawĩra sie nicht gewarnt hätte, dass sie mit der Geschichte aufhören würde.

„Nein, erzähl uns, wie es weiterging“, bettelten die beiden.

Alle vier bekamen dicke Bäuche: die Mutter und die Kinder, weil sie unter Kwashiorkor litten, das Ungeheuer, weil es immer fetter wurde. Eines Tages sah die Mutter im Garten einen Webervogel.

„War das der Webervogel, von dem du gesungen hast?“, fragte Gacirũ.

„Welcher?“, fragte Nyawĩra, die das Lied schon wieder vergessen hatte.

„Wie soll sie denn die Geschichte erzählen, wenn ihr sie ständig mit euren endlosen Fragen löchert?“, mischte sich Vinjinia ein.

„Wir fragen jetzt nicht mehr“, versprachen Gacirũ und Gacĩgua. „Bis zum Ende der Geschichte.“

Für ein paar Rizinussamen erklärte sich der Vogel bereit, dem fernen Grobschmied eine Nachricht zu bringen. Nyawĩra beschrieb, wie der Vogel flog und flog und flog, bis er schließlich die Schmiede erreichte und sich auf einem Ast niederließ. Er war sehr müde, trotzdem sang er:

Grobschmied, der das Eisen schmiedet

eil dich, eil dich

Deine Frau hat geboren

mit einem Ungeheuer als Amme

mit einem Ungeheuer als Krankenschwester

Eil dich, eil dich

bevor es zu spät ist

Nyawĩra bat Gacĩgua und Gacirũ, in das Lied einzustimmen. Damit könnten sie helfen, das Ungeheuer zu besiegen. Der Webervogel flatterte von Baum zu Baum und versuchte, die Aufmerksamkeit des Schmieds zu erreichen. Der Grobschmied war in Gesellschaft, und so scheuchten sie den Vogel anfangs einfach fort, weil er sie belästigte, doch als sie seine Hartnäckigkeit bemerkten, nahmen sie sich die Zeit, ihm aufmerksam zu lauschen. Da fiel dem Grobschmied seine schwangere Frau zu Hause wieder ein, und er begriff, dass ihm der Vogel von der Gefahr berichtete, der seine Frau und die Kinder ausgesetzt waren. Er nahm seinen Speer und seinen Schild und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Bald erreichte er den Hof mit seiner Frau und den Kindern, und mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das böse Ungeheuer zu besiegen.

„Hast du gesagt ‚mit vereinten Kräften‘?“, fragte Gacirũ nach. „Ich habe geglaubt, dass Babys gar nicht kämpfen können.“

„Oder Frauen?“, fügte Gacĩgua hinzu.

„Wer hat dir gesagt, dass Frauen nicht kämpfen können?“, fuhr Gacirũ dazwischen. „Ich lass mich von keinem Jungen besiegen, von keinem, ohne mich ordentlich gewehrt zu haben“, fügte sie hinzu und warf einen wütenden Blick auf Gacĩgua.

„Ich habe davon erzählt, dass sie ihre Kräfte zusammenlegten, die großen wie die kleinen“, sagte Nyawĩra und erklärte ihnen, dass die Babys mithalfen, indem sie nicht so oft schrien, und wie die Frau, obwohl noch ziemlich schwach, dem Mann alle Einzelheiten über das Ungeheuer erzählte und sogar darauf hinwies, wie das Ungeheuer am besten besiegt werden könnte, weil sie inzwischen alles über das böse Wesen wusste. Sie wollte es verspotten, um es abzulenken, und ihr Mann sollte dann aus seinem Versteck hervorkommen und angreifen. Und genau das geschah.

Die vier verbrachten den Tag damit, Geschichten zu erzählen, Lieder zu singen und Rätsel zu raten, und am nächsten Tag machten sie weiter. Für Gacirũ und Gacĩgua waren es die perfekten Ferien, und sie hofften, dass das ganze Leben so wäre: Ein unendliches Fest des Geschichtenerzählens mit Nyawĩra als bester Erzählerin, weil sie ihre Stimme klingen lassen konnte wie die eines Vogels, eines Löwen, einer alten Frau, eines Mannes, eines Kindes, oder was man sich nur vorstellen konnte. Am besten gefielen ihnen die Geschichten vom Hasen, dem Trickster, auch wenn die Furcht einflößenden Geschichten über das Ungeheuer sie ebenso beeindruckten.

Einige Tage später kam Gacirũ tatsächlich noch einmal auf die Angelegenheit mit dem Ungeheuer und dem zweiten Maul unter dem dicken, langen Haarschopf zurück. Diesmal hatte Gacirũ Nyawĩra ganz für sich allein und setzte sich auf ihren Schoß. Vinjinia und Gacĩgua schauten auf die endlose Menschenschlange draußen vor dem Fenster.

„Weißt du, ich habe über die Geschichte mit dem Ungeheuer nachgedacht, und ich glaube nicht, dass das Maul am Hinterkopf nur von seinen Haaren verdeckt wurde. Das Maul und die Haare steckten unter den Hüten, die die Ungeheuer immer tragen. Meinst du nicht auch? Hüte können doch auch einen Mund verbergen, oder? Wie bei den Polizisten draußen? Sag mal, sind Polizisten auch Ungeheuer?“

„Psst!“, sagte Vinjinia von ihrem Platz am Fenster.

„Das ist clever“, meinte Nyawĩra. „Ich meine, das mit den Hüten. Wie bist du darauf gekommen?“

„Ganz einfach: Meine Mutter hat lange Haare, aber sie trägt keinen Hut. Darum bist du auch kein Ungeheuer, Mama“, rief sie zu ihrer Mutter hinüber.

„Vielen Dank“, meinte Vinjinia. „Bist du deshalb heute Nacht aufgewacht, weil du mir unter die Haare schauen wolltest?“

„Weißt du, Mama, Ungeheuer sind böse, und sie können sich in jemand anderen verwandeln. In der Schule hat uns die Lehrerin die Geschichte vom Rotkäppchen vorgelesen, das seine kranke Großmutter besuchen wollte, und weißt du was, Mama? Das Mädchen begegnet einem großen, bösen Wolf, der sich im Bett versteckt und so tut, als wäre er die Großmutter. Und weißt du was? Der Wolf hatte die Großmutter bereits gefressen …“

Plötzlich rief Gacĩgua, der nicht zugehört hatte: „Fahren Ungeheuer auf Motorrädern?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Nyawĩra.

„Da kommt ein Fremder auf einem Motorrad …“

Herr der Krähen
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