19

„Mitternacht ist vorbei, der vierte Tag, seit du spurlos verschwunden bist“, kritzelte Nyawĩra in ein Notizheft, „und ich finde keinen Schlaf. Die Stunden am Tag und in der Nacht erscheinen mir alle gleich. Ich gehe zwar jeden Tag ins Büro, aber ich komme mir vor wie eine Schlafwandlerin, die durch die Straßen von Eldares läuft. Ich kenne niemanden, mit dem ich über dich reden kann, und selbst wenn, gäbe es, glaube ich, kaum jemanden, der dich so sehen könnte wie ich. Ich schreibe, um mein Herz zum Schweigen zu bringen, aber so sehr ich es auch versuche, mir fehlen einfach die Worte zu beschreiben, was ich empfand, als ich an jenem Abend nach Hause kam und feststellte, dass du gegangen warst.

Ich denke Tag und Nacht an dich. Jeder Tag hatte seinen Schmerz, seine Erinnerungen, seine Sorgen. Ich weiß nicht, ob du noch lebst, ob die Polizei dich erwischt hat, oder ob du tot bist, von Dieben umgebracht, obwohl es in unserem Land nicht so einfach ist, Diebe von Polizisten zu unterscheiden. Doch was sollte ein Dieb schon mit deiner Tasche anfangen, in der sich nur Bettlerlumpen befinden? Andererseits: Warum sollte die Polizei dich verhaften? Was könnte sie von dir wollen?

Man sagt, verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen. Neulich nachts habe ich mich bei dem Wunsch ertappt, ich könnte unverhofft A.G. in die Arme laufen, und er würde etwas über dich ausplaudern. Aber A.G. glaubt ja, dass du und ich ein und dieselbe Person sind; in seinen Augen gibt es nur einen Herrn der Krähen, der sich nach Belieben in einen Mann oder eine Frau verwandeln kann. Nein, A.G. kann mir nicht helfen.“

Nach Kamĩtĩs Verschwinden kam es Nyawĩra vor, als läge eine fortdauernde Grabesstille über ihrem Haus. Als sie in der ersten Nacht auf dem Bett saß und vor sich hinstarrte, dachte sie daran, dass sich vor ihrer Tür bald wieder die übliche nächtliche Warteschlange bilden würde. Was sollte sie den Leuten sagen? Wie konnte sie sie fortschicken? Das Letzte, was sie brauchte, war eine Erinnerung daran, dass er nicht da war. Sie beschloss, das zu tun, was ihrer Meinung nach Kamĩtĩ in einer ähnlich misslichen Lage getan hätte: Nutze ihre Angst vor der Hexerei, um sie fortzuschicken. Sie nahm einen Karton und schrieb: EURE FEINDE HABEN DIESES GELÄNDE MIT UNHEIL VERSEUCHT, UM EUCH ZU VERFÜHREN. ICH BIN GEGANGEN, UM REINIGENDEN TRANK ZU BESORGEN; BEMÜHT EUCH NICHT NACHZUSEHEN, OB ICH WIEDER ZURÜCK BIN: ICH WERDE EINE ANZEIGE IN DIE ZEITUNG SETZEN, UM MEINE RÜCKKEHR BEKANNTZUGEBEN. – DER HERR DER KRÄHEN. Sie befestigte die Tafel draußen an der Wand, schloss die Tür und löschte das Licht. Sie wollte sich im Haus lieber im Dunkeln bewegen. Sie hatte das Gefühl, als wären da Hunderte Augenpaare, die sie aus der Dunkelheit anstarrten. Nur im Bett fühlte sie sich sicher.

Seit der Trennung von ihrem Mann war Nyawĩra es gewöhnt, allein zu leben. Nur selten hatte sie Gäste. Sogar ihre Freundinnen aus der Schulzeit und dem Studium besuchten sie eher in der Arbeit als zu Hause. Lediglich ihre beiden Cousinen kamen zu ihr nach Hause, aber das geschah meistens am Wochenende. Anfangs war es ihr schwergefallen, allein in einem Haus zu leben. Aber im Lauf der Zeit hatte sie Gefallen daran gefunden und ihre Freiheit schätzen gelernt. Sie musste niemandem erklären, wo sie war, wie sie ihren Tag verbrachte oder warum sie spät nach Hause kam. Antworten war sie nur sich selbst schuldig. Warum diese plötzliche Einsamkeit nach dem Verschwinden eines Menschen, den sie kaum kannte?

Ihre Behelfstafel zeigte die gewünschte Wirkung; als sie später aus dem Fenster spähte, konnte sie auf der Straße keinen einzigen menschlichen Schatten entdecken. In den folgenden Tagen blieben die unerwünschten Besucher nach und nach völlig aus. Am vierten Tag nahm sie das Schild ab.

Vollständig mit Kamĩtĩ beschäftigt, blätterte Nyawĩra die Zeitungen nach Unfallmeldungen oder Anklagen durch und hoffte und fürchtete sich gleichermaßen davor, seinen Namen zu finden.

Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Was, wenn Kamĩtĩ gar nicht der war, der zu sein er vorgegeben hatte? Was, wenn er in Wirklichkeit ein auf sie angesetzter Polizeispitzel war? Könnte das nicht Tajirikas unverständliche Bemerkung über ihre Altersgenossen in der Bewegung erklären, die jetzt in Schwierigkeiten steckten? Hate Tajirika es ehrlich gemeint, als er ihr versprach, sie dem Herrscher vorzustellen? In ihrem Hirn machte sich auch die Frage breit, warum Kaniũrũ so früh am Morgen im Mars Café gesessen hatte. Doch sobald sie sich Kamĩtĩs Stimme, sein Gesicht und sein Lachen sowie seine Sorge um das Wohlergehen anderer ins Gedächtnis rief, wurde sie ruhiger.

Die zweite und dritte Nacht waren einfacher für sie, weil sie an Versammlungen der Bewegung teilnahm. Sie hatte alles berichtet, was sie über Marching to Heaven wusste. Sie hatte weitergegeben, dass der Herrscher und der Außenminister beabsichtigten, die Vertreter der Global Bank zu den dichtesten und längsten Warteschlangen zu führen, als Beweis für die Unterstützung des Volkes für das Projekt Marching to Heaven. Am wichtigsten aber war, dass die Regierung bald einen Tag bestimmen würde, an dem der Herrscher den Bauplatz für Marching to Heaven einweihen sollte. Lang und breit diskutierten sie darüber, wie sie reagieren konnten. Einige schlugen vor, weitere Flugblätter zu verteilen, um die zynischen Pläne des Herrschers aufzudecken. Die Leute sollten aufgefordert werden, die Schlangen aufzulösen und die Pläne zu durchkreuzen, durch die sie ausgebeutet werden sollten. Andere argumentierten, die Warteschlangen seien das Ergebnis der hohen Arbeitslosigkeit und die Leute würden sie deshalb niemals auflösen. Sie diskutierten eine andere Vorgehensweise: Wie konnte man die Schlangen nutzen, um dem Herrscher die Schau zu stehlen?

Bis jetzt waren Kirchen, Moscheen und andere genehmigte Orte der Verehrung die einzigen freien Räume in Aburĩria gewesen. Hinzu kamen Schnapsläden, Bars und andere genehmigte Zentren des Alkoholkonsums sowie Gefängnishöfe und die Zellen der Polizeistationen. Wo immer die Autorität ihre furchterregende Macht ausübte, war sie unbesorgt gegenüber den Worten der unbewaffneten Häftlinge. Auch die Warteschlangen der Arbeitslosen bildeten einen solchen demokratischen Raum, in dem Versammlungen keine polizeiliche Erlaubnis brauchten. Die Bewegung entschied deshalb, eine Schlange zu bilden, wenn sie sich beraten wollte. Sie würden die Menschenschlangen zur politischen Mobilisierung nutzen.

Die Mitglieder beschlossen außerdem, die Weihezeremonie des Herrschers um jeden Preis zu stören, wie zuvor seine Geburtstagsfeier. Zusätzlich zu ihrer Aufgabe, Informationen über Marching to Heaven zu sammeln, erhielt Nyawĩra den Auftrag, alles über die Pläne der Regierung für den Einweihungstag herauszubekommen.

Nyawĩra waren die Sitzungen und Aufgaben sehr willkommen. Sie lenkten sie von ihrem inneren Aufruhr und ihren Zweifeln an Kamĩtĩ ab. Aber schon kurz nach dem Treffen wurde ihr Seelenfriede erneut von seinen vielen Gesichtern bedrängt, mit einer Intensität, die fast schon an Rache grenzte. Dennoch glaubte sie fest daran, dass er ein Mann von Weisheit und Integrität war, den die Bewegung für sich anwerben könnte. Aber wie hatte er einfach so fortgehen können, ohne sich zu verabschieden? Wie sollte sie ihm trauen?

Früher hatte Nyawĩra, wenn sie niedergeschlagen war, Gitarre gespielt. Ihr Klang hatte sowohl nach ihrem Autounfall als auch nach ihrer Scheidung wie eine Therapie gewirkt. Auch jetzt nahm sie die Gitarre und versuchte, die Saiten anzuschlagen. Aber sie hatte das Gefühl, als würden die Töne ihren Schmerz vertiefen, statt ihn zu lindern. Sie hängte sie wieder an die Wand.

Dann packte sie plötzlich die Wut. Was hatte sie so blind gemacht zu glauben, Kamĩtĩ sei anders als andere Männer? Ich habe ihn in mein Haus gelassen, ihm sogar Raum für seinen Hexenunsinn gewährt, und wie dankt er mir dafür? Die Wut verlieh ihr neue Energie. Sie musste sich wieder in den Griff bekommen.

Am fünften Morgen erwachte sie, kochte Tee und setzte sich an den Tisch. Sie wollte nicht zum Sofa hinübersehen, auf dem Kamĩtĩ immer geschlafen hatte. Nichts, keine Erinnerung an sein Lachen, sollte sie von ihrem Entschluss ablenken. Sie holte den Brief hervor, den sie ihm geschrieben hatte, und nachdem sie ihn noch einmal gelesen hatte, zerriss sie ihn ruhig in winzige Stücke, von denen einige neben dem Tischbein auf den Boden fielen. Dann dachte sie, es wäre besser, alle Papierfetzen zu verbrennen, damit die Wörter für immer verschwänden, so als wären sie nie gedacht oder geschrieben worden.

Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, fiel ihr Blick auf einen Zettel mit einer anderen Handschrift. Er war von Kamĩtĩ. Er hatte ihr einen Brief geschrieben und musste ihn auf den Tisch gelegt haben. Da er heruntergefallen war, hatte sie ihn nicht bemerkt.

Herr der Krähen
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