8
Als Nyawĩra die Brilliant Girls High School besuchte, hatte es eine Zeit gegeben, in der sie mit ihren Namen geradezu kämpfte. Eine Zeit lang nannte sie sich Engenethi Nyawĩra Charles Matthew Mũgwanja Wangahũ und kürzte das oft mit E.N.C.M.M. Wangahũ ab. Engenethi gefiel ihr nicht und sie wurde Grace Mũgwanja. Und bei Grace Mũgwanja blieb es, zumindest in der Dorfgemeinschaft, und so behielt sie den Namen eine Weile. Ihr Vater mochte Grace lieber als Engenethi und ihre Mutter Roithi hatte Engenethi lieber als Grace. Mũgwanja konnten beide nicht ausstehen, sodass ihre Eltern sie entweder Grace oder Engenethi riefen. Sie selbst hatte mit diesen Kennzeichen ihrer Identität weiterhin ihre Schwierigkeiten, und als sie aufs College ging, entschied sie sich endgültig für Nyawĩra wa Wangahũ, auch wenn es noch immer einige gab, die es nicht über sich bringen konnten, sie anders als Grace Mũgwanja zu nennen.
Ihr Vater hatte seinerseits Spaß daran gehabt, seine beiden afrikanischen Namen, Mũgwanja und Wangahũ, mit Initialen abzukürzen und daraus Matthew M.W. Charles zu machen, sie manchmal auch ganz wegzulassen und sich Matthew Charles oder einfach Mr. Charles zu nennen. Wer ihn Carũthi nannte, die afrikanische Version von Charles, war bei ihm unten durch, selbst wenn er ein Mr. davor setzte. Natürlich hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn man ihn Sir Charles genannt hätte, aber die Dorfbevölkerung bestand in ihrer Unkenntnis darauf, ihn Bwana Carũthi zu nennen.
Wangahũs Wohlstand gründete sich auf Edelhölzer, Kaffee und Tee. Er hatte drei Kinder, zwei Jungen und Nyawĩra. Die Jungen taten sich in den aburĩrischen Schulen nicht besonders hervor, und Wangahũ schickte sie nach Amerika, wo sie sich an Colleges einschrieben, um Buchhaltung und Informatik zu studieren. Zumindest behaupteten sie das. Sie zogen von College zu College, ohne je einen Abschluss zu machen, doch jedes Jahr schickte ihnen Wangahũ aufs Neue Geld für Studiengebühren, Unterkunft und Essen. Obwohl er sich als Vater wegen ihrer mangelnden Fortschritte Sorgen machte, hatte er als Mann mit Vermögen etwas aufzuweisen, das sein beträchtliches Ansehen unter seinesgleichen noch steigerte: Zwei Söhne in Amerika mit vollen Studiengebühren, Unterkunft und Essen durchzubringen, war keine einfache Aufgabe, und er bewies damit, dass er tatsächlich ein Mann mit einigen finanziellen Möglichkeiten war. Nyawĩra schickte er nicht nach Amerika, weil er nicht wollte, dass seine Tochter einen Weißen heiratete; umgekehrt hätte er bei den Jungen nichts dagegen gehabt. Trotzdem wünschte er sich für sie einen Lebensstil, der ihrer sozialen Stellung entsprach. Die Reichen kauften ihren Söhnen und Töchtern Autos, die scherzhaft als Spielzeug bezeichnet wurden, weil es sich nicht um deutsche Fabrikate handelte – die natürlich erwachsenen Männern und Frauen vorbehalten waren –, sondern um japanische. Nyawĩra bekam einen nagelneuen Toyota Corolla und gewöhnte sich schon früh an den Lebensstil ihrer Schicht. Rauschende Feste, immer die neueste Mode, schnelle Autofahrten waren die wichtigsten Freuden ihres Lebens. Die Mühe, hinter die Fassade der Dinge zu sehen, machte sie sich nicht. In jener Zeit tauchten die Namen von Yunity Mgeuzi-Bila-Shaka oder Luminous Karamu-Mbu-ya-Ituĩka häufig in den Nachrichten auf, weil der Herrscher sie anprangerte, die Revolution zu predigen. Sie hasste die bloße Erwähnung der Namen dieser Rebellen. Warum standen sie der Regierung so kritisch gegenüber? Und warum waren sie im Exil?
Dann kam es zu diesem Unfall. Sie fuhr auf dem Highway, vollkommen im Geschwindigkeitsrausch, und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag, als das Auto ins Schleudern kam und im Straßengraben landete. Obwohl sie nicht schwer verletzt wurde, wusste sie, dass sie nur knapp davongekommen war. Was sie überraschte und auch später noch in Erstaunen versetzte, wenn sie sich an den beinahe tödlichen Ausgang ihres Unfalls erinnerte, war die große Anzahl von Fahrzeugen, die einfach an ihr vorbeigefahren waren. Nicht einer hatte angehalten, um zu schauen, ob jemand verletzt war oder Hilfe brauchte. Die Barfüßigen waren die Einzigen, die ihr zu Hilfe gekommen waren. Einer hatte seinen Eselskarren entladen, um sie möglichst schnell ins nächste, mehrere Meilen entfernte Krankenhaus zu bringen, wo der Esel ihre Ankunft mit lautem Geschrei und einem Haufen verkündete.
Während ihrer Genesung lernte sie Gitarre spielen. Anfangs fiel es ihr schwer, die Saiten zu drücken und die Akkorde zu greifen, aber als es ihr gelang, dem Instrument Musik zu entlocken, wirkte diese auf seltsame Weise beruhigend. Die Musik beschleunigte den Heilungsprozess. In dieser Zeit begann sie, ernsthaft über ihr Leben nachzudenken. Was hätte sie den Menschen hinterlassen, wenn sie gestorben wäre? Zum Leben musste doch mehr gehören als schnelle Autos, Feste und Schönheitssalons. Sie studierte im ersten Jahr an der Eldares University, und von da an interessierte sie sich für soziale Fragen. Sie spielte Theater, wurde aktiv in der Studentenpolitik und beschäftigte sich mit den Exilaktivitäten von Yunity Mgeuzi-Bila-Shaka und Luminous Karamu-Mbu-ya-Ituĩka, die ihre jugendliche Phantasie beflügelten. Sie liebte die Bühne, und nichts machte sie glücklicher, als diese oder jene tragische oder komische Rolle zu spielen und beim Publikum Tränen oder Gelächter hervorzurufen. Sie war eine außergewöhnliche Schauspielerin. Sie konnte sich in jede Figur verwandeln, und das mitunter so realistisch, dass selbst diejenigen, die sie gut zu kennen glaubten, weil sie sie bei vielen politischen Diskussionen der Studenten erlebt hatten, oft nicht sagen konnten, ob das auf der Bühne wirklich Nyawĩra war. Aber auch Geschichte erregte ihre Neugier, ähnlich wie der Schauplatz eines Verbrechens einen Kriminalpolizisten. Die Geschichte, vor allem die afrikanische Geschichte, war der Schauplatz vieler Verbrechen mit vielen einander widersprechenden Zeugen. Historiker waren Detektive auf diesem Feld, und sie mochte die Herausforderung, die verschiedenen Teile eines Puzzles zusammenzusetzen und die verborgenen Umrisse der vergangenen Ereignisse sichtbar zu machen. Zu guter Letzt war ihr Leben in der „beau monde“ dem Streben nach einer idealen Gesellschaft gewichen. Und dieser Wandel in ihrer Weltsicht führte zum Bruch mit ihrem Vater.
Matthew Charles Wangahũ wünschte sich, dass seine Tochter in eine wohlhabende Familie einheiratete, damit der Wohlstand noch mehr Reichtum, Macht und gesellschaftliches Ansehen bringen würde. Vor dem Unfall war auch ihr das als selbstverständlich, ja unvermeidlich erschienen. Jetzt aber wollte Nyawĩra einen Mann heiraten, mit dem sie eine neue Zukunft gestalten konnte. Im College begegnete sie einem jungen Mann, der ihrem neuen Traum von Selbstverwirklichung entsprach.
Kaniũrũ war Künstler und ging ganz in seiner Kunst auf. Obwohl ihm die Studentenpolitik vollkommen gleichgültig war, schien er nichts gegen ihr Engagement zu haben. Er gehörte nicht zu den Männern, die ihren Freundinnen oder Frauen verboten, sich zu öffentlichen Angelegenheiten zu äußern, oder zu denen, die glaubten, Politik und staatsbürgerliche Angelegenheiten seien Männerdomänen. Sie wiederum glaubte, den Gefährten ihres Lebens gefunden zu haben, weil Kaniũrũ eben nicht aus einer wohlhabenden Familie kam. Er erzählte ihr, dass er als Waise aufgewachsen war; seine Eltern waren gestorben, als er noch klein war, und seine Großmutter, die ihn bei sich aufgenommen hatte, starb, als er aufs College wechselte. Nyawĩra hatte Mitleid mit ihm und verliebte sich in ihr Idealbild eines Mannes, der sich alles selbst hart erarbeiten musste.
Grace Nyawĩra merkte nicht, dass Kaniũrũ ihre Vorstellung von einer reinen und glückseligen Verbindung nicht teilte. Wenn seine Blicke auf ihr ruhten, dann sahen sie neben ihrem guten Aussehen auch die verlockende Aussicht auf Wangahũs Wohlstand und Besitz. Durch Nyawĩra könnte er aus den Niederungen von Armut und Elend in den Himmel des Müßiggangs und des Wohlergehens aufsteigen. Er träumte von dem Tag, an dem Nyawĩra und er durch das Mittelschiff der Kirche hinauf zum Altar schritten, Nyawĩra in weißem Satin und er in einem umwerfend gut aussehenden dunklen Anzug mit einer Blüte im Knopfloch. Zehn Brautjungfern waren dabei und zehn Trauzeugen, eine gewaltige Trauung mit hundert Mercedes-Benz-Limousinen, die Stoßstange an Stoßstange die Ehrengäste zur anschließenden Hochzeitsfeier brachten. Sich an den Händen haltend, würden Nyawĩra und er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, glücklich Rede um Rede all der Würdenträger über sich ergehen lassen, dieses endlose Vorspiel zu dem Augenblick, in dem Nyawĩra und er die zehnstöckige Hochzeitstorte anschnitten. Jedes Mal, wenn Nyawĩra dieses Glitzern in seinen Augen bemerkte, glaubte sie, darin den Widerschein von Verlangen und Liebe zu sehen, und kam sich angesichts seiner großen Hingabe sehr klein vor. In Nyawĩras Träumen dagegen gab es nur eine bescheidene Zeremonie, kein Zurschaustellen von Überfluss. Sie wünschte sich eine Feier für das Leben, keine Darstellung seiner Verneinung.
Was ihren Vater Wangahũ betraf, wäre er überrascht gewesen zu erfahren, wie weit seine Vorstellungen mit denen Kaniũrũs übereinstimmten. Aber Wangahũs Verachtung für alle, die es nicht geschafft hatten, saß so tief, dass er selbst eine Übereinstimmung in ihren Vorstellungen als Anmaßung des Mittellosen aufgenommen hätte. Der Gedanke, seine Tochter könnte einen Mann heiraten, der nicht einmal eine Familie hatte, war ihm zu quälend, um so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Und was war schon ein Künstler? Bilder zu malen war für Wangahũ der Zeitvertreib von Krüppeln, Kindern, schwachen Frauen oder Männern, die sich scheuten, ihre Muskeln zu betätigen. Er würde nie zulassen, dass sein eigen Fleisch und Blut eine Verbindung mit derartigem Elend einging.
So streiften Nyawĩra und Kaniũrũ einander ohne den Segen eines dankbaren Vaters die Trauringe auf die Finger. Die erhoffte Menschenmenge beschränkte sich auf den Standesbeamten, und die Trauzeugen waren ein Mann und eine Frau, denen sie erst kurz vor der Trauung begegnet waren. Damit war der Bruch zwischen Vater und Tochter besiegelt und Wangahũ fragte sich unaufhörlich: Warum hat sie mich in aller Öffentlichkeit bloßgestellt, warum? Sie hat mich vor meiner gesamten Kirchgemeinde nackt dastehen lassen, warum nur? Warum hat sie mich zum Gespött aller gemacht? Warum brennt sie mit einem Mann durch, der arm ist und nicht einmal eine Familie hat? Wie will er sie ernähren? Etwa indem er auf der Straße handgeschnitzte Giraffen und Rhinos an Touristen verhökert?
Die Entfremdung zwischen Vater und Tochter führte zu Spannungen zwischen dem jungen Paar. Kaniũrũ sah die Nabelschnur, die ihn aus seinem Meer von Schwierigkeiten herausziehen sollte, durchtrennt. Nyawĩra war jetzt der einzige Mensch, der noch über die Mittel und Möglichkeiten verfügte, alles wieder einzurenken. Sie waren gerade erst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt, als Kaniũrũ Nyawĩra zu drängen begann, ihren Vater auf Knien um Vergebung zu bitten. Nyawĩra aber war fest entschlossen, mit ihrer Vergangenheit zu brechen. Sie wollte es aus eigener Kraft schaffen und sich Achtung erwerben durch harte Arbeit, durch die schlichte Würde ihres gemeinsamen Heims und durch ein glückliches Familienleben. Das junge Paar zankte sich jeden Tag. Kaniũrũ hörte nicht auf, ihr zuzusetzen. Auch dann nicht, als er eine Anstellung am Ruler’s Polytechnic in Eldares gefunden hatte. Immer wieder machte er ihr den Vorwurf, durch ihre Weigerung, sich mit ihrem Vater zu versöhnen, ihr gemeinsames Leben zu ruinieren, bis Nyawĩra eines Tages explodierte: „Wolltest du mich oder das Geld meines Vaters heiraten?“
Auf dem Höhepunkt ihres Streits gingen sie zum District Commissioner, ließen sich scheiden und gaben ihre erfolglose eheliche Gemeinschaft nach nicht einmal einem Jahr wieder auf.
Für Nyawĩra war es ein neuer Weg in die Freiheit. Kaniũrũ hingegen meinte, er sei von seinem Pfad zum Reichtum abgekommen, und versuchte immer wieder, sie zurückzugewinnen.
Nyawĩra musste lachen, als sie Kamĩtĩ von all den jämmerlichen Versuchen erzählte.
Die beiden Bettler saßen inzwischen am Tisch, ließen sich ugali mit Kohlgemüse schmecken, das Nyawĩra schnell in der Küche zubereitet hatte. Kamĩtĩ war ihr insgeheim dankbar. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gutes traditionelles Essen bekommen hatte, und musste sich sehr beherrschen, nicht alles herunterzuschlingen.
Das kleine Haus bestand aus einem Schlafzimmer, an dessen Wand gut sichtbar eine Gitarre hing, einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Bad mit Toilette und Dusche. Die beiden hatten bereits geduscht und sich umgezogen: Kamĩtĩ in Hemd und Hose, die er immer trug, wenn er auf Arbeitssuche war, Nyawĩra im einfachen Hauskleid.
„Und was macht Kaniũrũ jetzt?“, fragte er.
„Ich glaube, er ist immer noch Lehrer am Ruler’s Polytechnic. Vor Kurzem ist er angeblich den glorreichen Jugendbrigaden des Herrschers beigetreten. Nach dem Zwischenfall mit den Schlangen im Park hat der Herrscher in seiner berühmten Fernsehrede an die Nation über sie gesprochen, als Versuch, die Jugend von der Propaganda der Bewegung für die Stimme des Volkes abzulenken.“
„Wirklich ein neues Aburĩria“, meinte Kamĩtĩ trocken. „Ein Collegelehrer als Mitglied der Jugendbrigaden!“
Sie schwiegen.
„Und wie bist du als Bettlerin auf der Straße gelandet?“, fragte Kamĩtĩ, der überlegte, ob sie seine verzweifelte Lage teilte. Hatten ihre Scheidung von Kaniũrũ und das Zerwürfnis mit ihrem Vater etwas damit zu tun? „Ich hätte nie geglaubt, einer Frau mit Universitätsabschluss als Bettlerin zu begegnen!“
„Hast du nicht gerade von einem neuen Aburĩria geredet? Wenn fünfzigjährige Hochschuldozenten bei den Jugendbrigaden des Herrschers mitmachen dürfen, warum sollen dann Universitätsabsolventen nicht Bettler werden?“
„Ich meinte nicht Universitätsabsolventen im Allgemeinen, sondern Frauen mit Abschluss. Wie du zum Beispiel.“
„Trifft schlechtes Wetter bevorzugt Männer oder Frauen? Setzt die Sonne nur Männern zu, während es die Frauen angenehm und kühl haben?“, fragte Nyawĩra spitz. „Frauen tragen die Hauptlast der Armut. Welche Möglichkeiten hat denn eine Frau im Leben, vor allem in Zeiten der Not? Sie kann heiraten oder mit einem Mann zusammenleben. Sie kann Kinder kriegen und großziehen und sich von ihrem Mann misshandeln lassen. Hast du ‚Zwanzig Säcke Muschelgeld‘ von Buchi Emecheta aus Nigeria gelesen? Oder ‚Der Preis der Freiheit‘ von Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe? ‚Ein so langer Brief‘ von Mariama Bâ aus dem Senegal? Das sind drei Frauen aus unterschiedlichen Gegenden Afrikas, die ähnliche Gedanken über die Lage der Frauen in Afrika in Worte fassen.“
„Ich lese nicht gerade viele literarische Bücher“, sagte Kamĩtĩ. „Noch weniger Romane afrikanischer Frauen. In Indien findet man solche Bücher selten.“
„Aber es gibt doch in Indien sicherlich auch Schriftstellerinnen? Indische Schriftstellerinnen?“ Nyawĩra blieb hartnäckig. „Arundhati Roy, zum Beispiel, ‚Der Gott der kleinen Dinge‘. Meena Alexander mit ‚Fault Lines‘? Susie Tharu. Lies mal ,Women Writing in India‘. Oder ihr zweites Buch, ,We Were Making History‘, über die Frauen im Freiheitskampf!“
„Ich habe ein bisschen in den Epen der indischen Literatur geblättert“, versuchte Kamĩtĩ sich zu rechtfertigen. „Das Mahabharata, das Ramayana, und vor allem die Bhagavad Gita. Es gibt noch ein paar andere, sie heißen Puranas, Rigveda, Upanishaden … Nicht, dass ich alles gelesen habe, aber …“
„Ich bin sicher, dass diese Epen und Puranas, selbst die Gita, allesamt von Männern verfasst wurden“, erwiderte Nyawĩra. „Denselben Männern, die das Kastensystem erfunden haben. Wann werdet ihr endlich anfangen, die Stimmen der Frauen wahrzunehmen?“
„Um ehrlich zu sein“, wandte Kamĩtĩ ein und versuchte, das Gespräch vom Thema Schriftstellerinnen wegzulenken, „am meisten faszinieren mich Bücher über Ägypten und Äthiopien, das Niltal, das Rote Meer und die Küste. Ich habe eine Theorie, dass die Küsten des Indischen Ozeans einst Orte kultureller Begegnung mit ständiger Migration und Austausch gewesen sind. Es gibt kaum Frauen, die darüber schreiben. Aber ich will gern anfangen, Bücher von Schriftstellerinnen zu lesen. Vielleicht kannst du mir welche empfehlen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Was hattest du in Bettlerkleidern am Ruler’s Square zu suchen?“
„Und du?“, erwiderte Nyawĩra. „Was hattest du dort verloren?“
Bevor Kamĩtĩ antworten konnte, lachte sie wieder, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen.
„Was hast du?“, fragte Kamĩtĩ. Lachte sie wegen seiner Unkenntnis über Schriftstellerinnen?
„Es ist mir eingefallen, als du über Ägypten und Äthiopien erzählt hast. Woher weißt du so viel über Hexerei und Zaubertrank?“, brachte sie, von Lachen geschüttelt, hervor.
Als sie seinen Ausflug in die Magie erwähnte und ihm wieder einfiel, welches Gesicht der Polizist gemacht hatte, brach auch Kamĩtĩ in Gelächter aus.