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Eines Morgens machte sich Vinjinia in aller Frühe auf den Weg, stellte wie bei ihrem ersten Besuch den Wagen an der Straße ab und ging die letzten Meter zum alten Schrein zu Fuß. Dort fand sie eine Wegbeschreibung zu dem neuen Gebäudekomplex mit Holz- und Steinwänden und einem Blechdach, der um einiges sauberer war als die vielen staatlich geführten Kliniken und Krankenhäuser, die sie unlängst aufgesucht hatte. Ein Mitarbeiter führte sie in ein Zimmer im Inneren, und nachdem man sie dort eine Ewigkeit hatte warten lassen, vernahm sie plötzlich das Geräusch eines sich öffnenden Fensters, in dem sich ein Gesicht zeigte.
„Ich möchte den Herrn der Krähen sprechen“, sagte Vinjinia.
„Dieser Wunsch wurde dir erfüllt“, antwortete eine Stimme, und Vinjinia war überrascht, eine Frauenstimme zu hören.
„Als ich zuletzt hier war, hatte er die Stimme eines Mannes.“
„Ich habe viele Gesichter. Ich spreche mit vielen Stimmen. Was führt dich heute zu mir?“
Vinjinia zögerte. Doch dann öffneten sich plötzlich die Schleusen ihres Schmerzes und sie erzählte von ihren Problemen bei der Suche nach ihrem verschwundenen Ehemann. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, fühlte sie sich besser, als hätte allein die Tatsache, dass der Herr der Krähen ihr zuhörte, die Last von ihr genommen, die sie ganz allein zu tragen gehabt hatte.
„Könnte er sich nicht in den gleichen Händen befinden, in denen du dich vor nicht allzu langer Zeit befunden hast?“, fragte Nyawĩra und erinnerte sich plötzlich an ihr ungläubiges Staunen, als sie im Wald die Nachricht von Vinjinias Gefangennahme erreicht hatte.
Vinjinia fiel fast vom Stuhl. Wie konnte der Zauberer wissen, dass sie ebenfalls in eine solche Finsternis gestoßen worden war?
„Der Herr der Krähen weiß, was er weiß“, sprach die Stimme als Antwort auf ihre unausgesprochenen Gedanken, was sie noch mehr überraschte und beeindruckte.
„Sie haben sich geweigert, seine Verhaftung zu bestätigen“, sagte Vinjinia. „Genauer gesagt, sie haben sie geleugnet.“
„Sie werden also nicht zugeben, ihn gefangen zu halten, nicht einmal, wenn ich meinen Spiegel einsetze, um ihn zu finden.“
„Ja, aber es würde mir das Herz erleichtern, wenn ich es wüsste.“
„Oder noch mehr belasten.“
„Ich weiß nicht, was schlimmer ist.“
„Und du hast selbst gesehen, wie sie ihn fortgebracht haben?“
„Ja.“
„Du willst also nicht wissen, ob sie ihn haben. Du willst, dass sie zugeben, ihn zu haben.“
„Sie haben meine Gedanken gelesen“, antwortete Vinjinia.
Was würde Vinjinia tun, wenn sie meine wahre Identität herausfände?, fragte sich Nyawĩra. Würde Vinjinia sie unverzüglich bei genau den Kräften anzeigen, die ihr eigenes Leben so elend gemacht hatten? Hatte Vinjinia ihren Häschern während der Inhaftierung irgendetwas über Nyawĩra erzählt? Waren es neben Tajirikas Entführung nicht auch die Fragen, die sie sich selbst stellte und auf die sie keine Antwort wusste, die ihr so zusetzten? Sie erkannte sich in Vinjinia wieder. Nach ihrem Autounfall hatte auch sie angefangen, Fragen zu stellen, die sie sich vor dem traumatischen Erlebnis nie gestellt hatte. Nyawĩra empfand ein starkes Mitgefühl mit dieser Frau, und ihre eigene politische Haltung zum machthabenden Regime verstärkte dieses Band. So sehr sie all die Tajirikas verabscheute, stand sie doch dafür ein, dass er dieselben Rechte hatte wie jeder andere Aburĩrier. Wie aber konnte sie Vinjinia helfen? Sie wünschte, Kamĩtĩ wäre da, um mit ihm zu überlegen, wie die Regierung zu einer öffentlichen Erklärung gebracht werden könnte, dass sie Tajirika festhielt. Aber Kamĩtĩ war noch nicht aus Kĩambugi zurück.
Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an den Unterschied zwischen Vinjinias öffentlicher Treue zu ihrem Mann und ihrer öffentlichen Verstoßung durch ihren Vater, und Nyawĩra spürte Traurigkeit aufsteigen. Kaniũrũ hatte die Bindung zu ihrem Vater zerstört. Die Erinnerung an die Worte Kaniũrũs in den Medien machte den Schmerz und die Bitterkeit in ihr wieder lebendig. Kaniũrũ glaubte, seinen Erfolg auf der Zerstörung anderer Menschen aufbauen zu können. Während sie über die Arroganz und den armseligen Geist dieses Mannes nachdachte, reifte in ihr langsam eine Idee.
„Hör mir genau zu“, sagte sie zu Vinjinia. „Am Freitag wird im Schrein der Tag des Wegs begangen. Ich möchte, dass du wiederkommst, gekleidet als normale Arbeiterin. Und zu Fuß wie die meisten Kunden. Bring traditionelle Frauenkleidung mit: zwölf Lederröcke mit Schürzen und zwölf Oberteile in rotem Ocker.“