12

Eines Morgens machte sich Vinjinia in aller Frühe auf den Weg, stellte wie bei ihrem ersten Besuch den Wagen an der Straße ab und ging die letzten Meter zum alten Schrein zu Fuß. Dort fand sie eine Wegbeschreibung zu dem neuen Gebäudekomplex mit Holz- und Steinwänden und einem Blechdach, der um einiges sauberer war als die vielen staatlich geführten Kliniken und Krankenhäuser, die sie unlängst aufgesucht hatte. Ein Mitarbeiter führte sie in ein Zimmer im Inneren, und nachdem man sie dort eine Ewigkeit hatte warten lassen, vernahm sie plötzlich das Geräusch eines sich öffnenden Fensters, in dem sich ein Gesicht zeigte.

„Ich möchte den Herrn der Krähen sprechen“, sagte Vinjinia.

„Dieser Wunsch wurde dir erfüllt“, antwortete eine Stimme, und Vinjinia war überrascht, eine Frauenstimme zu hören.

„Als ich zuletzt hier war, hatte er die Stimme eines Mannes.“

„Ich habe viele Gesichter. Ich spreche mit vielen Stimmen. Was führt dich heute zu mir?“

Vinjinia zögerte. Doch dann öffneten sich plötzlich die Schleusen ihres Schmerzes und sie erzählte von ihren Problemen bei der Suche nach ihrem verschwundenen Ehemann. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, fühlte sie sich besser, als hätte allein die Tatsache, dass der Herr der Krähen ihr zuhörte, die Last von ihr genommen, die sie ganz allein zu tragen gehabt hatte.

„Könnte er sich nicht in den gleichen Händen befinden, in denen du dich vor nicht allzu langer Zeit befunden hast?“, fragte Nyawĩra und erinnerte sich plötzlich an ihr ungläubiges Staunen, als sie im Wald die Nachricht von Vinjinias Gefangennahme erreicht hatte.

Vinjinia fiel fast vom Stuhl. Wie konnte der Zauberer wissen, dass sie ebenfalls in eine solche Finsternis gestoßen worden war?

„Der Herr der Krähen weiß, was er weiß“, sprach die Stimme als Antwort auf ihre unausgesprochenen Gedanken, was sie noch mehr überraschte und beeindruckte.

„Sie haben sich geweigert, seine Verhaftung zu bestätigen“, sagte Vinjinia. „Genauer gesagt, sie haben sie geleugnet.“

„Sie werden also nicht zugeben, ihn gefangen zu halten, nicht einmal, wenn ich meinen Spiegel einsetze, um ihn zu finden.“

„Ja, aber es würde mir das Herz erleichtern, wenn ich es wüsste.“

„Oder noch mehr belasten.“

„Ich weiß nicht, was schlimmer ist.“

„Und du hast selbst gesehen, wie sie ihn fortgebracht haben?“

„Ja.“

„Du willst also nicht wissen, ob sie ihn haben. Du willst, dass sie zugeben, ihn zu haben.“

„Sie haben meine Gedanken gelesen“, antwortete Vinjinia.

Was würde Vinjinia tun, wenn sie meine wahre Identität herausfände?, fragte sich Nyawĩra. Würde Vinjinia sie unverzüglich bei genau den Kräften anzeigen, die ihr eigenes Leben so elend gemacht hatten? Hatte Vinjinia ihren Häschern während der Inhaftierung irgendetwas über Nyawĩra erzählt? Waren es neben Tajirikas Entführung nicht auch die Fragen, die sie sich selbst stellte und auf die sie keine Antwort wusste, die ihr so zusetzten? Sie erkannte sich in Vinjinia wieder. Nach ihrem Autounfall hatte auch sie angefangen, Fragen zu stellen, die sie sich vor dem traumatischen Erlebnis nie gestellt hatte. Nyawĩra empfand ein starkes Mitgefühl mit dieser Frau, und ihre eigene politische Haltung zum machthabenden Regime verstärkte dieses Band. So sehr sie all die Tajirikas verabscheute, stand sie doch dafür ein, dass er dieselben Rechte hatte wie jeder andere Aburĩrier. Wie aber konnte sie Vinjinia helfen? Sie wünschte, Kamĩtĩ wäre da, um mit ihm zu überlegen, wie die Regierung zu einer öffentlichen Erklärung gebracht werden könnte, dass sie Tajirika festhielt. Aber Kamĩtĩ war noch nicht aus Kĩambugi zurück.

Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an den Unterschied zwischen Vinjinias öffentlicher Treue zu ihrem Mann und ihrer öffentlichen Verstoßung durch ihren Vater, und Nyawĩra spürte Traurigkeit aufsteigen. Kaniũrũ hatte die Bindung zu ihrem Vater zerstört. Die Erinnerung an die Worte Kaniũrũs in den Medien machte den Schmerz und die Bitterkeit in ihr wieder lebendig. Kaniũrũ glaubte, seinen Erfolg auf der Zerstörung anderer Menschen aufbauen zu können. Während sie über die Arroganz und den armseligen Geist dieses Mannes nachdachte, reifte in ihr langsam eine Idee.

„Hör mir genau zu“, sagte sie zu Vinjinia. „Am Freitag wird im Schrein der Tag des Wegs begangen. Ich möchte, dass du wiederkommst, gekleidet als normale Arbeiterin. Und zu Fuß wie die meisten Kunden. Bring traditionelle Frauenkleidung mit: zwölf Lederröcke mit Schürzen und zwölf Oberteile in rotem Ocker.“

Herr der Krähen
titlepage.xhtml
cover.xhtml
copy.xhtml
titel.xhtml
wid.xhtml
zitate.xhtml
inhalt.xhtml
book1.xhtml
ch01.xhtml
ch02.xhtml
ch03.xhtml
ch04.xhtml
ch05.xhtml
ch06.xhtml
ch07.xhtml
ch08.xhtml
ch09.xhtml
ch10.xhtml
ch11.xhtml
ch12.xhtml
ch13.xhtml
ch14.xhtml
ch15.xhtml
book2.xhtml
book2p1.xhtml
ch16.xhtml
ch17.xhtml
ch18.xhtml
ch19.xhtml
ch20.xhtml
ch21.xhtml
ch22.xhtml
ch23.xhtml
ch24.xhtml
ch25.xhtml
ch26.xhtml
ch27.xhtml
ch28.xhtml
ch29.xhtml
ch30.xhtml
ch31.xhtml
ch32.xhtml
book2p2.xhtml
ch33.xhtml
ch34.xhtml
ch35.xhtml
ch36.xhtml
ch37.xhtml
ch38.xhtml
ch39.xhtml
ch40.xhtml
ch41.xhtml
ch42.xhtml
ch43.xhtml
ch44.xhtml
ch45.xhtml
ch46.xhtml
ch47.xhtml
ch48.xhtml
ch49.xhtml
ch50.xhtml
ch51.xhtml
ch52.xhtml
ch53.xhtml
book2p3.xhtml
ch54.xhtml
ch55.xhtml
ch56.xhtml
ch57.xhtml
ch58.xhtml
ch59.xhtml
ch60.xhtml
ch61.xhtml
ch62.xhtml
ch63.xhtml
ch64.xhtml
ch65.xhtml
ch66.xhtml
ch67.xhtml
ch68.xhtml
book3.xhtml
book3p1.xhtml
ch70.xhtml
ch71.xhtml
ch72.xhtml
ch73.xhtml
ch74.xhtml
ch75.xhtml
ch76.xhtml
ch77.xhtml
ch78.xhtml
ch79.xhtml
ch80.xhtml
ch81.xhtml
ch82.xhtml
ch83.xhtml
ch84.xhtml
ch85.xhtml
ch86.xhtml
ch87.xhtml
book3p2.xhtml
ch88.xhtml
ch89.xhtml
ch90.xhtml
ch91.xhtml
ch92.xhtml
ch93.xhtml
ch94.xhtml
ch95.xhtml
ch96.xhtml
ch97.xhtml
ch98.xhtml
ch99.xhtml
ch100.xhtml
ch101.xhtml
ch102.xhtml
ch103.xhtml
ch104.xhtml
ch105.xhtml
ch106.xhtml
ch107.xhtml
ch108.xhtml
ch109.xhtml
ch110.xhtml
book3p3.xhtml
ch111.xhtml
ch112.xhtml
ch113.xhtml
ch114.xhtml
ch115.xhtml
ch116.xhtml
ch117.xhtml
ch118.xhtml
ch119.xhtml
ch120.xhtml
ch121.xhtml
ch122.xhtml
ch123.xhtml
ch124.xhtml
ch125.xhtml
ch126.xhtml
book4.xhtml
book4p1.xhtml
ch127.xhtml
ch128.xhtml
ch129.xhtml
ch130.xhtml
ch131.xhtml
ch132.xhtml
ch133.xhtml
ch134.xhtml
ch135.xhtml
ch136.xhtml
ch137.xhtml
ch138.xhtml
ch139.xhtml
ch140.xhtml
ch141.xhtml
ch142.xhtml
ch143.xhtml
ch144.xhtml
ch145.xhtml
ch146.xhtml
ch147.xhtml
ch148.xhtml
ch149.xhtml
ch150.xhtml
ch151.xhtml
book4p2.xhtml
ch152.xhtml
ch153.xhtml
ch154.xhtml
ch155.xhtml
ch156.xhtml
ch157.xhtml
ch158.xhtml
ch159.xhtml
ch160.xhtml
ch161.xhtml
ch162.xhtml
ch163.xhtml
ch164.xhtml
ch165.xhtml
ch166.xhtml
ch167.xhtml
ch168.xhtml
ch169.xhtml
ch170.xhtml
ch171.xhtml
ch172.xhtml
book4p3.xhtml
ch173.xhtml
ch174.xhtml
ch175.xhtml
ch176.xhtml
ch177.xhtml
ch178.xhtml
ch179.xhtml
ch180.xhtml
ch181.xhtml
ch182.xhtml
ch183.xhtml
ch184.xhtml
ch185.xhtml
ch186.xhtml
ch187.xhtml
ch188.xhtml
ch189.xhtml
ch190.xhtml
ch191.xhtml
ch192.xhtml
ch193.xhtml
ch194.xhtml
ch195.xhtml
ch196.xhtml
ch197.xhtml
book5.xhtml
book5p1.xhtml
ch198.xhtml
ch199.xhtml
ch200.xhtml
ch201.xhtml
ch202.xhtml
ch203.xhtml
ch204.xhtml
ch205.xhtml
ch206.xhtml
ch207.xhtml
ch208.xhtml
ch209.xhtml
ch210.xhtml
ch211.xhtml
ch212.xhtml
ch213.xhtml
ch214.xhtml
ch215.xhtml
ch216.xhtml
ch217.xhtml
ch218.xhtml
ch219.xhtml
ch220.xhtml
ch221.xhtml
ch222.xhtml
ch223.xhtml
ch224.xhtml
ch225.xhtml
ch226.xhtml
book5p2.xhtml
ch227.xhtml
ch228.xhtml
ch229.xhtml
ch230.xhtml
ch231.xhtml
ch232.xhtml
ch233.xhtml
ch234.xhtml
ch235.xhtml
ch236.xhtml
ch237.xhtml
ch238.xhtml
book5p3.xhtml
ch239.xhtml
ch240.xhtml
book6.xhtml
ch241.xhtml
ch242.xhtml
ch243.xhtml
ch244.xhtml
ch245.xhtml
ch246.xhtml
ch247.xhtml
ch248.xhtml
ch249.xhtml
ch250.xhtml
ch251.xhtml
ch252.xhtml
ch253.xhtml
ch254.xhtml
dank.xhtml
author.xhtml
bm2.xhtml