E R S T E R  T E I L

1

Benommen und mit vor Hunger schmerzendem Magen stand Kamĩtĩ auf dem Bürgersteig, um sich zu sammeln. Hinlegen wollte er sich nicht, weil er fürchtete, es könnte sich das, was ihm vorhin an der Müllhalde widerfahren war, wiederholen.

Es war nicht das erste Mal, dass er das Gefühl hatte, sich aus seinem Körper zu lösen. Er hatte diese Erfahrung bereits nachts in der Wildnis gemacht. Wenn er dort im Freien auf dem Rücken lag und zum Mond und zu den Sternen aufsah, erlebte er, wie er den Körper verließ und in den Himmel aufstieg; als zöge ihn eine Kraft mit der Absicht, ihn mit der Größe und dem Mysterium eines Universums zu beeindrucken, das weder Anfang noch Ende hat. Er dachte dann an die Propheten aus alter Zeit, an Konfuzius, Gautama Buddha, an Moses und Johannes den Täufer und Mũgo wa Kĩbĩru, die sich in die Wildnis zurückgezogen hatten, um in vollständigem Schweigen einzugehen in die Ordnung, die das Universum zusammenhielt. War ihr Leben durch das, was sie auf ihrer Wanderung erfahren hatten, nicht reicher geworden? Die ganze Nacht pflegte er frei und ungebunden das Universum zu durchstreifen, vom Sein der Dinge unendlich fasziniert, und wenn er morgens in seinen Körper zurückkehrte, fühlte er seinen Geist von neuer Energie belebt, bereit, einen weiteren Tag in den Straßen von Eldares herumzulaufen und an Türen zu klopfen, in der Hoffnung, dass etwas sein Leben verbesserte. Auf diese Weise blieb er zuversichtlich und freute sich über seine freien Flüge ins Universum, die die Wunden der fruchtlosen Suche linderten.

Niemals jedoch hatte er an einem helllichten Tag erfahren, was er an diesem Tag zur Mittagszeit durchlebte, weder an einem Müllberg noch sonst irgendwo. Er verstand es als Warnung, sich künftig von Müllhalden fernzuhalten und andere Wege zu gehen. Der Große Allgegenwärtige, der für die fliegenden und kriechenden Lebewesen sorgt, konnte sich schließlich für diejenigen, die nach seinem Bilde geformt waren, nicht weniger verantwortlich fühlen.

Er entdeckte ein Stück chapati, das der Wind durch die Luft trug, und folgte ihm mit seinem Blick. Gerade schwebte der Brotfetzen genau über seinem Kopf. Instinktiv griff er mit der letzten Energie, die ihm geblieben war, zu und steckte ihn in den Mund. Oh, nein – es war nur ein Stück Papier. Er fühlte sich elend. Hastig nahm er das Papier wieder aus dem Mund, doch anstatt es wegzuwerfen, betrachtete er es, als hätte er es ohnehin lesen wollen. Es war ein Stück Zeitungspapier.

Auf der einen Seite befand sich ein Bild des Herrschers. Der Kopf fehlte und nur der Torso mit den Händen, die einen Stab und einen Fliegenwedel hielten, war übrig geblieben. Es sah ein wenig grotesk aus und ihm war nach Lachen zumute, doch das erforderte Kraft.

Auf der anderen Seite war eine vierköpfige Delegation der Global Bank zu sehen, die nach Aburĩria gekommen war, um über das nationale Bauprojekt eines Palastes zu beraten, der bis zum Himmelstor reichen sollte. Außenminister Machokali werde einen Empfang und ein Abendessen geben, im …

Ein Abendessen? Essen? Offensichtlich gab es auf dieser Welt Menschen, die noch etwas zu essen hatten. Wo sollte dieses Abendessen stattfinden? Wieder sah er sich den Papierfetzen an, aber diese Worte fehlten. Er warf das Papier weg, aber es fiel nicht auf den Boden; ein leichter Windstoß griff es auf und es taumelte wieder durch die Luft, höhnisch etwas zum Essen vorgaukelnd, das so greifbar nah und gleichzeitig so fern war, und machte aus ihm einen Tantalos in Eldares. Ihm wurde wieder schwindlig. Er lehnte sich beim nächsten Laden an eine Säule und blickte auf die Menschenmassen auf der Straße. Um den Gestank in der Luft nicht ertragen zu müssen, hielt er den Atem an.

Kamĩtĩ hatte schon immer einen äußerst feinen Geruchssinn und konnte bereits als Kind Dinge aus großer Entfernung riechen. Sein Geruchssinn war, wie bei einem Tier, so stark ausgeprägt, dass er jemanden häufig schon wahrnahm, bevor dieser überhaupt auftauchte. Wenn er sich genügend konzentrierte, konnte er der Spur eines Menschen folgen. Auf die verschiedenen Gerüche in einer Menschenmenge reagierte er sehr empfindlich.

Der Geruch aber, den er vor einiger Zeit entdeckt hatte, unterschied sich von allem, was ihm bislang in die Nase gestiegen war. Zunächst hatte es sich nur um einen Hauch unter vielen gehandelt, der dann aber so intensiv geworden war, dass er sich mittlerweile von allen Seiten von ihm angegriffen fühlte. Er konnte nicht sagen, ob dieser süßliche Duft von den nicht abgeholten Müllbergen ausging, von den Fabriken in den Industriegebieten oder einfach von menschlichem Schweiß. Er roch nicht ganz so wie modernde Blätter; er ähnelte mehr dem Gestank von faulendem Fleisch – allerdings nicht von totem Fleisch, sondern von einem menschlichen Körper, der lebte und gleichzeitig verfaulte und doch … nicht ganz; er war zugleich vertraut und auch wieder nicht. In manchen Menschen herrscht stärkere Fäulnis als in anderen. Als er diesen Geruch zum ersten Mal wahrnahm, fragte er sich, ob dieser aufgrund seines Hungers oder seiner Schwäche aus seinem eigenen Bauch aufstieg. Draußen jedoch in der freien Natur, tief in den Wäldern weit entfernt von Eldares, war der Geruch verschwunden, egal wie hungrig, durstig oder müde er war. Wenn er in kleineren oder großen Städten unter Menschen war, versuchte Kamĩtĩ oft, seinen Geruchssinn zu unterdrücken und die Übelkeit als Einbildung abzutun; auf diese Weise konnte er weiter Arbeit suchen, ohne ständig an die Ausdünstungen denken zu müssen. Auch jetzt, während er an der Säule lehnte, versuchte er seinen überempfindlichen Geruchssinn zu beruhigen, indem er die Namen und Schilder an den Läden las. Die meisten waren in Hindi, Kiswahili und Englisch: NAMASTE. KARIBU. WELCOME. SHAH DRAPERIES, SHA KA HŨRĨ KHANA.

Der indische Ladenbesitzer kam heraus und schmiss Orangenschalen auf die Straße, und als er wieder hineinging, warf er Kamĩtĩ einen bösen Blick zu, als wollte er ihn warnen, dass er die Polizei rufen würde, wenn er nicht sofort von dieser Säule verschwände. Kamĩtĩs Augen waren unverwandt auf die Schalen gerichtet, als ob sie ihn zu locken schienen. Vielleicht würden sie, wenn er sie nur stark genug presste, noch ein paar Tropfen Süße abgeben. Eine innere Stimme warnte ihn: Was hast du dir heute Morgen bezüglich Dinge-vom-Müll-aufsammeln geschworen? Hast du schon vergessen, welches Schicksal du fast erlitten hättest, als du deinen Schwur gebrochen hast?

Die Auseinandersetzung in seinem Inneren zwischen der Stimme, die das Aufsammeln von Abfall verteidigte, und der Stimme, die das Anbetteln Fremder rechtfertigte, brach erneut mit unverminderter Härte los. Was von beidem war weniger verachtenswert? Die zweite Stimme gewann schließlich die Oberhand, weil sie sich mehrfach auf die Heilige Schrift beziehen konnte. Das Gebet ist letztlich auch nur eine Form des Bettelns und bildete den Grundstein aller Religionen. Bitte und dir wird gegeben. Jeden Tag fallen die Anhänger der verschiedenen Religionen, ob im Namen Jesu, Muhammads oder Buddhas, auf die Knie und bitten Gott um dieses oder jenes. Sie beten, dass ihr Herr und Gott sie erhören möge. Ja, Gebete sind heilig. Das Betteln ist heilig. Unter Buddhas Anhängern sind die am heiligsten, die Armut geschworen haben, und das Betteln stärkt sie auf ihrem Pfad der Heiligkeit. Hat nicht Buddha selbst den Verlockungen des Wohlstands zugunsten eines Lebens in Entsagung und Reinheit widerstanden? Im Mittelpunkt von Sangha, der klösterlichen Gemeinschaft, die er nach seinem Nirwana gründete, das den neunundvierzig Tagen des Kampfes gegen die Versucherin Mara folgte, standen die Bhikkhus, die Bettelmönche.

Almosen, gib mir Almosen. Was Kamĩtĩ kurz zuvor an der städtischen Müllhalde widerfahren war, als man ihn beinahe lebendig im Moder vergraben hatte, war ein klares Zeichen dafür, dass es richtiger war zu betteln. Er erwog, den nächstgelegenen Laden mit ausgestreckten Händen zu betreten, als ihm bewusst wurde, dass der graue Anzug, den er wegen seiner Stellensuche trug, nicht die angemessene Ausstattung für das Betteln um Almosen war. Ihm war nach Lachen zumute, aber er beherrschte sich, weil ihm klar wurde, dass auch die Bewerbung um einen Job eine Art Bettelei war. Das Betteln hatte, wie alles andere auf dieser Welt, eine bestimmte Zeit, einen Ort und spezielle Kleidung. Die Abendstunde des Bettelns war noch fern, also blieben ein paar Stunden für die Jagd nach einer Arbeitsstelle. Wer weiß, vielleicht wendete sich das Schicksal zu seinen Gunsten und es blieb ihm erspart, sich wie ein buddhistischer Mönch aufführen zu müssen.

Und dann konnte er seinen Augen nicht trauen. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, entdeckte er ein Schild: ELDARES MODERN CONSTRUCTION AND REAL ESTATE, und daneben einen Anschlag. Ein Job! Dieses eine Wort blendete alle anderen aus. Auferstanden von den Toten, war er mit einem Mal außer sich vor Hoffnung.

Herr der Krähen
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