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Die Tänzerinnen trafen als Erste ein. In den traditionellen Gewändern sahen sie einander zum Verwechseln ähnlich. Aber wenn es auch schwierig war, die eine von der anderen zu unterscheiden, als Gruppe boten sie dem Betrachter ein überwältigendes Bild. Kaniũrũ verschob die formelle Begrüßung auf den Augenblick, in dem die Medien anwesend waren. Den Frauen schien das nichts auszumachen. Sie ließen sich im Hof nieder und bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Die Gäste bestanden in der Mehrzahl aus denjenigen, die sich in Erwartung eines üppigen Geldregens durch Marching to Heaven Protektion erkaufen wollten.
Sikiokuu hatte seine eigenen Regierungsfotografen mitgebracht, aber erst nachdem die Zeitungsreporter und Kameraleute eingetroffen waren, gingen Kaniũrũ und er hinaus in den Hof und nahmen ihre Plätze ein, bereit, von den Tänzerinnen, die sich jetzt zur Formation aufstellten, mit Lobpreisungen überschüttet zu werden. Gerade als sie beginnen wollten, erschien Vinjinia.
Sie erschrak, als sie die Tänzerinnen in den traditionellen Kostümen sah, die sie dem Herrn der Krähen übergeben hatte. Sie hatte viel Geld dafür bezahlt, aber jetzt war sie froh zu sehen, wie beeindruckend diese Kleidung wirkte. Die Anweisungen aus dem Schrein befolgend, versuchte sie, keinerlei Interesse an ihnen zu zeigen, und ging auf kürzestem Weg zur ersten Reihe, in der die Ehrengäste Platz genommen hatten. „Ich möchte Minister Sikiokuu sprechen“, sagte sie laut.
Alle Blicke, auch die der Tänzerinnen, wandten sich der Frau zu. Sikiokuu beugte sich zu Kaniũrũ und fragte, wer diese Frau sei. Eine Verrückte, antwortete Kaniũrũ, aber weil er kein Aufsehen vor der Presse haben wollte, versuchte er die Situation zu entspannen, indem er die Frau laut und freundlich fragte: „Mutter, was wünschst du?“ Vinjinia antwortete ebenso laut, sie wolle nur wissen, wo die Regierung die Leiche ihres Mannes Tajirika vergraben habe. Sikiokuu zeigte keine Reaktion. Er starrte geradeaus, als hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon die Frau sprach. Kaniũrũ gab einigen Polizisten ein Zeichen, sie fortzuschaffen. Vinjinia schrie. Längst machten die Pressefotografen ihre Aufnahmen. Sikiokuu erkannte, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte, und befahl den Polizisten, die Frau in Ruhe zu lassen. Kaniũrũ kochte vor Wut, denn dies war nicht das dramatische Ereignis, das er der Presse versprochen hatte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Vinjinia schrie und verlangte zu wissen, ob ihr Mann noch am Leben sei. Wenn er tot sei, sollten die Oberen sie zu seinem Grab führen. Verzweifelt wandte sich Kaniũrũ an die Tänzerinnen und wies sie an, mit der Vorführung zu beginnen.
Als reagierte sie auf Kaniũrũs flehentliche Bitte, stimmte eine der Frauen ein Lied an, das die anderen mit kreisenden Hüften und Handbewegungen, die sie mit rhythmischen Grunzlauten unterstützten, begleiteten.
Als ich herkam, dem Besucher Lob zu singen
wusste ich nicht, dass dies Haus keinen Frieden kennt
In einem Haus ohne Frieden mag ich nicht singen
weil mein Lied zur Kakophonie werden könnte
und meine Stimme sich in meiner Kehle verliert
obwohl du mich tanzen siehst
Ich habe Mann und Kinder, für die ich zu sorgen habe
Ich will nicht, dass die Kinder den Vater verlieren
denn ein Heim besteht aus Vater, Mutter und Kind
Als er den Text hörte, begriff Sikiokuu sofort, dass er etwas Drastisches unternehmen musste, sonst würde die Situation eskalieren und ebenso schmachvoll enden wie in Eldares. Wie würde der Herrscher reagieren, wenn ihn die Nachricht in Amerika erreichte? Er erhob sich und bat die Frauen, das Singen einzustellen, denn er habe den Medien etwas mitzuteilen.
Er sei gekommen, begann er, um offiziell diese zwei wichtigen Regierungsbüros zu eröffnen und um eine Erklärung abzugeben. Eigentlich habe er vorgehabt, das, was er zu sagen habe, erst am Ende der Zeremonie mitzuteilen, doch weil er natürlich vom Redaktionsschluss der Presse wisse, wolle er es besser gleich erledigen. Auf keinen Fall wolle er riskieren, dass einige Reporter eher gehen müssten. Zwei Dinge vor allem bewegten ihn:
Erstens gehe es um Nyawĩra, die Gesetzlose. Der Regierung sei klar, dass sie sich im Volk verberge, und er wolle alle daran erinnern, dass es jedermanns Pflicht sei, sie bei der nächsten Polizeiwache anzuzeigen. Wer der Flüchtigen Unterschlupf gewähre, sei ebenso des Hochverrats schuldig wie diese Kriminelle. Gleichzeitig aber wolle er darauf hinweisen, dass Nyawĩra nichts zustoßen werde, wenn sie sich den Behörden stellte, worum ihr Vater sie gebeten habe. Sie würde eine faire Verhandlung nach den Gesetzen des Landes bekommen. Dann lobte er eine Belohnung von fünfzigtausend Burĩ für denjenigen aus, dessen Hinweise zur Verhaftung und erfolgreichen Anklage besagter Nyawĩra wegen Verbrechen gegen den Staat führten.
Zweitens gehe es um Titus Tajirika. Nyawĩras Arbeitgeber befinde sich im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und helfe ihnen bei der Suche nach den Ursachen des Schlangenwahns in Eldares. Er, der Minister, habe nicht gewusst, dass diese Frau hier vor ihnen Tajirikas Frau sei. Er würde veranlassen, dass Vinjinia und ihre Kinder zu Tajirika gebracht würden, damit sie mit eigenen Augen sehen könnten, dass er am Leben sei und es ihm gut gehe. Die Regierung schätze die Informationen, die Tajirika zu Nyawĩra und dem Schlangenwahn habe, doch könne er als Minister aus „Sicherheitsgründen“ keine weiteren Einzelheiten preisgeben.
Sikiokuu beendete seine Erklärung mit der Bitte, Mrs. Vinjinia Tajirika möge sich zu den anderen Ehrengästen, die auf die Aufführung der Tanzgruppe warteten, aufs Podium begeben. Er setzte sich wieder, winkte den offiziellen Polizeifotografen heran und sagte ihm, was er zu tun hatte.
Diese Erklärung überraschte alle. Vinjinia wusste nicht, was sie machen sollte; von einer solchen Entwicklung war im Schrein nicht die Rede gewesen. Sollte sie sich gleichgültig zeigen, wie es der Herr der Krähen geraten hatte? Sollte sie die Einladung ignorieren und einfach gehen? Wie aber konnte sie die Einladung eines Ministers ablehnen? Das könnte als Affront aufgefasst werden und den versprochenen Besuch bei ihrem Mann hinauszögern. So saß sie plötzlich neben den großen Ohren von Silver Sikiokuu auf dem Podium.
Die Tänzerinnen stimmten jetzt ein Lied an, das die Menschen im Land zu Frieden und Einheit aufrief.
Sikiokuu, man hat dir große Ohren gegeben,
damit du Dinge aus weiter Ferne hörst
Und du, Kaniũrũ, hast eine große Nase,
damit du aus weiter Ferne alles riechst
Hört also zu, was wir, die Menschen dieses Landes sagen
Wir wünschen Frieden, Einheit und Fortschritt
Ein guter Führer ist der, der das bewirken kann
Ich werde singen, was ich für den sang, der vorher da war
Ich werde das gleiche Lied für den singen, der heute hier ist
Ich werde das gleiche Lied für den singen, der danach folgen wird
Als ich gegen die Kolonialmacht kämpfte
Glaubte ich, Frieden hieße, eine Kuh, die mich mit Milch ernährt
Gestern hatte ich nichts zu essen
Heute ist es nicht anders
Wer hat Ohren, das Volk zu hören?
Sikiokuu war von diesem Lied gerührt. Er nahm an, die Damen würden ihn in verschlüsselten Worten bitten, endlich zum Führer des Landes aufzusteigen. Er klatschte enthusiastisch, als wollte er damit andeuten, dass er ihren Aufruf verstanden habe. Kaniũrũ dagegen gefiel überhaupt nicht, was da gesungen wurde, doch weil es Sikiokuu gelungen war, die Situation zu entschärfen, erlaubte er sich ein Lachen. Die Journalisten, die einen großen Knall erwartet hatten, bekamen jetzt nur eine kleine Blase geliefert und fühlten sich um eine gute Geschichte betrogen.
Vinjinia, die Einzige in der Reihe der Würdenträger, die wusste, warum alles so geendet hatte, staunte innerlich über den neuerlichen Beweis für die Kräfte des Herrn der Krähen. Er hatte erreicht, was Rechtsanwälten, Journalisten und all ihren Freunden nicht gelungen war: Die Regierung zu zwingen zuzugeben, dass sie Tajirika in ihrer Gewalt hatten. Wer aber waren diese Tänzerinnen? Sie hatte sie noch nie gesehen. Konnte es sein, dass sich der Herr der Krähen in mehrere weibliche Inkarnationen verwandelt hatte?
Jedenfalls wussten weder Kaniũrũ noch Sikiokuu und auch Vinjinia nicht, dass Nyawĩra die Frauen bei Gesang und Tanz angeführt hatte.