15

Die Tänzerinnen trafen als Erste ein. In den traditionellen Gewändern sahen sie einander zum Verwechseln ähnlich. Aber wenn es auch schwierig war, die eine von der anderen zu unterscheiden, als Gruppe boten sie dem Betrachter ein überwältigendes Bild. Kaniũrũ verschob die formelle Begrüßung auf den Augenblick, in dem die Medien anwesend waren. Den Frauen schien das nichts auszumachen. Sie ließen sich im Hof nieder und bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Die Gäste bestanden in der Mehrzahl aus denjenigen, die sich in Erwartung eines üppigen Geldregens durch Marching to Heaven Protektion erkaufen wollten.

Sikiokuu hatte seine eigenen Regierungsfotografen mitgebracht, aber erst nachdem die Zeitungsreporter und Kameraleute eingetroffen waren, gingen Kaniũrũ und er hinaus in den Hof und nahmen ihre Plätze ein, bereit, von den Tänzerinnen, die sich jetzt zur Formation aufstellten, mit Lobpreisungen überschüttet zu werden. Gerade als sie beginnen wollten, erschien Vinjinia.

Sie erschrak, als sie die Tänzerinnen in den traditionellen Kostümen sah, die sie dem Herrn der Krähen übergeben hatte. Sie hatte viel Geld dafür bezahlt, aber jetzt war sie froh zu sehen, wie beeindruckend diese Kleidung wirkte. Die Anweisungen aus dem Schrein befolgend, versuchte sie, keinerlei Interesse an ihnen zu zeigen, und ging auf kürzestem Weg zur ersten Reihe, in der die Ehrengäste Platz genommen hatten. „Ich möchte Minister Sikiokuu sprechen“, sagte sie laut.

Alle Blicke, auch die der Tänzerinnen, wandten sich der Frau zu. Sikiokuu beugte sich zu Kaniũrũ und fragte, wer diese Frau sei. Eine Verrückte, antwortete Kaniũrũ, aber weil er kein Aufsehen vor der Presse haben wollte, versuchte er die Situation zu entspannen, indem er die Frau laut und freundlich fragte: „Mutter, was wünschst du?“ Vinjinia antwortete ebenso laut, sie wolle nur wissen, wo die Regierung die Leiche ihres Mannes Tajirika vergraben habe. Sikiokuu zeigte keine Reaktion. Er starrte geradeaus, als hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon die Frau sprach. Kaniũrũ gab einigen Polizisten ein Zeichen, sie fortzuschaffen. Vinjinia schrie. Längst machten die Pressefotografen ihre Aufnahmen. Sikiokuu erkannte, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte, und befahl den Polizisten, die Frau in Ruhe zu lassen. Kaniũrũ kochte vor Wut, denn dies war nicht das dramatische Ereignis, das er der Presse versprochen hatte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Vinjinia schrie und verlangte zu wissen, ob ihr Mann noch am Leben sei. Wenn er tot sei, sollten die Oberen sie zu seinem Grab führen. Verzweifelt wandte sich Kaniũrũ an die Tänzerinnen und wies sie an, mit der Vorführung zu beginnen.

Als reagierte sie auf Kaniũrũs flehentliche Bitte, stimmte eine der Frauen ein Lied an, das die anderen mit kreisenden Hüften und Handbewegungen, die sie mit rhythmischen Grunzlauten unterstützten, begleiteten.

Als ich herkam, dem Besucher Lob zu singen

wusste ich nicht, dass dies Haus keinen Frieden kennt

In einem Haus ohne Frieden mag ich nicht singen

weil mein Lied zur Kakophonie werden könnte

und meine Stimme sich in meiner Kehle verliert

obwohl du mich tanzen siehst

Ich habe Mann und Kinder, für die ich zu sorgen habe

Ich will nicht, dass die Kinder den Vater verlieren

denn ein Heim besteht aus Vater, Mutter und Kind

Als er den Text hörte, begriff Sikiokuu sofort, dass er etwas Drastisches unternehmen musste, sonst würde die Situation eskalieren und ebenso schmachvoll enden wie in Eldares. Wie würde der Herrscher reagieren, wenn ihn die Nachricht in Amerika erreichte? Er erhob sich und bat die Frauen, das Singen einzustellen, denn er habe den Medien etwas mitzuteilen.

Er sei gekommen, begann er, um offiziell diese zwei wichtigen Regierungsbüros zu eröffnen und um eine Erklärung abzugeben. Eigentlich habe er vorgehabt, das, was er zu sagen habe, erst am Ende der Zeremonie mitzuteilen, doch weil er natürlich vom Redaktionsschluss der Presse wisse, wolle er es besser gleich erledigen. Auf keinen Fall wolle er riskieren, dass einige Reporter eher gehen müssten. Zwei Dinge vor allem bewegten ihn:

Erstens gehe es um Nyawĩra, die Gesetzlose. Der Regierung sei klar, dass sie sich im Volk verberge, und er wolle alle daran erinnern, dass es jedermanns Pflicht sei, sie bei der nächsten Polizeiwache anzuzeigen. Wer der Flüchtigen Unterschlupf gewähre, sei ebenso des Hochverrats schuldig wie diese Kriminelle. Gleichzeitig aber wolle er darauf hinweisen, dass Nyawĩra nichts zustoßen werde, wenn sie sich den Behörden stellte, worum ihr Vater sie gebeten habe. Sie würde eine faire Verhandlung nach den Gesetzen des Landes bekommen. Dann lobte er eine Belohnung von fünfzigtausend Burĩ für denjenigen aus, dessen Hinweise zur Verhaftung und erfolgreichen Anklage besagter Nyawĩra wegen Verbrechen gegen den Staat führten.

Zweitens gehe es um Titus Tajirika. Nyawĩras Arbeitgeber befinde sich im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und helfe ihnen bei der Suche nach den Ursachen des Schlangenwahns in Eldares. Er, der Minister, habe nicht gewusst, dass diese Frau hier vor ihnen Tajirikas Frau sei. Er würde veranlassen, dass Vinjinia und ihre Kinder zu Tajirika gebracht würden, damit sie mit eigenen Augen sehen könnten, dass er am Leben sei und es ihm gut gehe. Die Regierung schätze die Informationen, die Tajirika zu Nyawĩra und dem Schlangenwahn habe, doch könne er als Minister aus „Sicherheitsgründen“ keine weiteren Einzelheiten preisgeben.

Sikiokuu beendete seine Erklärung mit der Bitte, Mrs. Vinjinia Tajirika möge sich zu den anderen Ehrengästen, die auf die Aufführung der Tanzgruppe warteten, aufs Podium begeben. Er setzte sich wieder, winkte den offiziellen Polizeifotografen heran und sagte ihm, was er zu tun hatte.

Diese Erklärung überraschte alle. Vinjinia wusste nicht, was sie machen sollte; von einer solchen Entwicklung war im Schrein nicht die Rede gewesen. Sollte sie sich gleichgültig zeigen, wie es der Herr der Krähen geraten hatte? Sollte sie die Einladung ignorieren und einfach gehen? Wie aber konnte sie die Einladung eines Ministers ablehnen? Das könnte als Affront aufgefasst werden und den versprochenen Besuch bei ihrem Mann hinauszögern. So saß sie plötzlich neben den großen Ohren von Silver Sikiokuu auf dem Podium.

Die Tänzerinnen stimmten jetzt ein Lied an, das die Menschen im Land zu Frieden und Einheit aufrief.

Sikiokuu, man hat dir große Ohren gegeben,

damit du Dinge aus weiter Ferne hörst

Und du, Kaniũrũ, hast eine große Nase,

damit du aus weiter Ferne alles riechst

Hört also zu, was wir, die Menschen dieses Landes sagen

Wir wünschen Frieden, Einheit und Fortschritt

Ein guter Führer ist der, der das bewirken kann

Ich werde singen, was ich für den sang, der vorher da war

Ich werde das gleiche Lied für den singen, der heute hier ist

Ich werde das gleiche Lied für den singen, der danach folgen wird

Als ich gegen die Kolonialmacht kämpfte

Glaubte ich, Frieden hieße, eine Kuh, die mich mit Milch ernährt

Gestern hatte ich nichts zu essen

Heute ist es nicht anders

Wer hat Ohren, das Volk zu hören?

Sikiokuu war von diesem Lied gerührt. Er nahm an, die Damen würden ihn in verschlüsselten Worten bitten, endlich zum Führer des Landes aufzusteigen. Er klatschte enthusiastisch, als wollte er damit andeuten, dass er ihren Aufruf verstanden habe. Kaniũrũ dagegen gefiel überhaupt nicht, was da gesungen wurde, doch weil es Sikiokuu gelungen war, die Situation zu entschärfen, erlaubte er sich ein Lachen. Die Journalisten, die einen großen Knall erwartet hatten, bekamen jetzt nur eine kleine Blase geliefert und fühlten sich um eine gute Geschichte betrogen.

Vinjinia, die Einzige in der Reihe der Würdenträger, die wusste, warum alles so geendet hatte, staunte innerlich über den neuerlichen Beweis für die Kräfte des Herrn der Krähen. Er hatte erreicht, was Rechtsanwälten, Journalisten und all ihren Freunden nicht gelungen war: Die Regierung zu zwingen zuzugeben, dass sie Tajirika in ihrer Gewalt hatten. Wer aber waren diese Tänzerinnen? Sie hatte sie noch nie gesehen. Konnte es sein, dass sich der Herr der Krähen in mehrere weibliche Inkarnationen verwandelt hatte?

Jedenfalls wussten weder Kaniũrũ noch Sikiokuu und auch Vinjinia nicht, dass Nyawĩra die Frauen bei Gesang und Tanz angeführt hatte.

Herr der Krähen
titlepage.xhtml
cover.xhtml
copy.xhtml
titel.xhtml
wid.xhtml
zitate.xhtml
inhalt.xhtml
book1.xhtml
ch01.xhtml
ch02.xhtml
ch03.xhtml
ch04.xhtml
ch05.xhtml
ch06.xhtml
ch07.xhtml
ch08.xhtml
ch09.xhtml
ch10.xhtml
ch11.xhtml
ch12.xhtml
ch13.xhtml
ch14.xhtml
ch15.xhtml
book2.xhtml
book2p1.xhtml
ch16.xhtml
ch17.xhtml
ch18.xhtml
ch19.xhtml
ch20.xhtml
ch21.xhtml
ch22.xhtml
ch23.xhtml
ch24.xhtml
ch25.xhtml
ch26.xhtml
ch27.xhtml
ch28.xhtml
ch29.xhtml
ch30.xhtml
ch31.xhtml
ch32.xhtml
book2p2.xhtml
ch33.xhtml
ch34.xhtml
ch35.xhtml
ch36.xhtml
ch37.xhtml
ch38.xhtml
ch39.xhtml
ch40.xhtml
ch41.xhtml
ch42.xhtml
ch43.xhtml
ch44.xhtml
ch45.xhtml
ch46.xhtml
ch47.xhtml
ch48.xhtml
ch49.xhtml
ch50.xhtml
ch51.xhtml
ch52.xhtml
ch53.xhtml
book2p3.xhtml
ch54.xhtml
ch55.xhtml
ch56.xhtml
ch57.xhtml
ch58.xhtml
ch59.xhtml
ch60.xhtml
ch61.xhtml
ch62.xhtml
ch63.xhtml
ch64.xhtml
ch65.xhtml
ch66.xhtml
ch67.xhtml
ch68.xhtml
book3.xhtml
book3p1.xhtml
ch70.xhtml
ch71.xhtml
ch72.xhtml
ch73.xhtml
ch74.xhtml
ch75.xhtml
ch76.xhtml
ch77.xhtml
ch78.xhtml
ch79.xhtml
ch80.xhtml
ch81.xhtml
ch82.xhtml
ch83.xhtml
ch84.xhtml
ch85.xhtml
ch86.xhtml
ch87.xhtml
book3p2.xhtml
ch88.xhtml
ch89.xhtml
ch90.xhtml
ch91.xhtml
ch92.xhtml
ch93.xhtml
ch94.xhtml
ch95.xhtml
ch96.xhtml
ch97.xhtml
ch98.xhtml
ch99.xhtml
ch100.xhtml
ch101.xhtml
ch102.xhtml
ch103.xhtml
ch104.xhtml
ch105.xhtml
ch106.xhtml
ch107.xhtml
ch108.xhtml
ch109.xhtml
ch110.xhtml
book3p3.xhtml
ch111.xhtml
ch112.xhtml
ch113.xhtml
ch114.xhtml
ch115.xhtml
ch116.xhtml
ch117.xhtml
ch118.xhtml
ch119.xhtml
ch120.xhtml
ch121.xhtml
ch122.xhtml
ch123.xhtml
ch124.xhtml
ch125.xhtml
ch126.xhtml
book4.xhtml
book4p1.xhtml
ch127.xhtml
ch128.xhtml
ch129.xhtml
ch130.xhtml
ch131.xhtml
ch132.xhtml
ch133.xhtml
ch134.xhtml
ch135.xhtml
ch136.xhtml
ch137.xhtml
ch138.xhtml
ch139.xhtml
ch140.xhtml
ch141.xhtml
ch142.xhtml
ch143.xhtml
ch144.xhtml
ch145.xhtml
ch146.xhtml
ch147.xhtml
ch148.xhtml
ch149.xhtml
ch150.xhtml
ch151.xhtml
book4p2.xhtml
ch152.xhtml
ch153.xhtml
ch154.xhtml
ch155.xhtml
ch156.xhtml
ch157.xhtml
ch158.xhtml
ch159.xhtml
ch160.xhtml
ch161.xhtml
ch162.xhtml
ch163.xhtml
ch164.xhtml
ch165.xhtml
ch166.xhtml
ch167.xhtml
ch168.xhtml
ch169.xhtml
ch170.xhtml
ch171.xhtml
ch172.xhtml
book4p3.xhtml
ch173.xhtml
ch174.xhtml
ch175.xhtml
ch176.xhtml
ch177.xhtml
ch178.xhtml
ch179.xhtml
ch180.xhtml
ch181.xhtml
ch182.xhtml
ch183.xhtml
ch184.xhtml
ch185.xhtml
ch186.xhtml
ch187.xhtml
ch188.xhtml
ch189.xhtml
ch190.xhtml
ch191.xhtml
ch192.xhtml
ch193.xhtml
ch194.xhtml
ch195.xhtml
ch196.xhtml
ch197.xhtml
book5.xhtml
book5p1.xhtml
ch198.xhtml
ch199.xhtml
ch200.xhtml
ch201.xhtml
ch202.xhtml
ch203.xhtml
ch204.xhtml
ch205.xhtml
ch206.xhtml
ch207.xhtml
ch208.xhtml
ch209.xhtml
ch210.xhtml
ch211.xhtml
ch212.xhtml
ch213.xhtml
ch214.xhtml
ch215.xhtml
ch216.xhtml
ch217.xhtml
ch218.xhtml
ch219.xhtml
ch220.xhtml
ch221.xhtml
ch222.xhtml
ch223.xhtml
ch224.xhtml
ch225.xhtml
ch226.xhtml
book5p2.xhtml
ch227.xhtml
ch228.xhtml
ch229.xhtml
ch230.xhtml
ch231.xhtml
ch232.xhtml
ch233.xhtml
ch234.xhtml
ch235.xhtml
ch236.xhtml
ch237.xhtml
ch238.xhtml
book5p3.xhtml
ch239.xhtml
ch240.xhtml
book6.xhtml
ch241.xhtml
ch242.xhtml
ch243.xhtml
ch244.xhtml
ch245.xhtml
ch246.xhtml
ch247.xhtml
ch248.xhtml
ch249.xhtml
ch250.xhtml
ch251.xhtml
ch252.xhtml
ch253.xhtml
ch254.xhtml
dank.xhtml
author.xhtml
bm2.xhtml