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Nicht ein Tag verging, an dem Nyawĩra Kamĩtĩ nicht vermisste. Als sie an diesem Morgen erwachte, sehnte sie sich so sehr nach ihm, dass sie sich, um ihren Verlustschmerz zu lindern, die traditionelle Kleidung anzog, die sie an dem Abend getragen hatte, an dem sie nach ihrem Aufenthalt in den Bergen nach Eldares zurückgekehrt waren. Sie dachte unentwegt an diese Rückkehr, um ein bisschen Frieden zu finden. Sie griff zur Gitarre und spielte ein wenig. Die Kombination aus Tradition und der Gitarre als modernem Instrument weckte ihre Phantasie, und als sie das Instrument wieder an die Wand hängte, fühlte sie sich etwas besser.
Am Vormittag sah Nyawĩra eine ebenfalls traditionell gekleidete Frau durch das Tor kommen. Was für ein Zufall, dachte sie. Warum glauben so viele Leute, sie müssten für ihre Besuche im Schrein traditionelle Gewänder tragen?
Nyawĩra erkannte Vinjinia! Was führte sie her?, fragte sie sich. Hat ihr Mann sie wieder verprügelt? Und warum ist sie so gekleidet? Sonst trug sie immer ein einfaches Kleid mit einem kanga und einem Schultertuch.
„Was wünschst du dem Herrn der Krähen heute zu sagen?“, fragte Nyawĩra.
„Hört mich an“, sagte Vinjinia. „Doch gehen wir ins Freie und reden dort, wo wir uns und das, was uns umgibt, sehen können.“
„Keine Angst! Der Herr der Krähen hat viele Augen.“
„Erinnern Sie sich noch an mich?“
„Es kommen viele her und gehen wieder. Aber ich werde den Spiegel befragen“, antwortete Nyawĩra.
Sie hatte keine Ahnung, was Vinjinia wollte. So hatte sie sie noch nie erlebt. Sie sprach gleichzeitig ängstlich und bestimmt. War ihr Mann hinter ihr her? Vinjinias Augen waren auf Nyawĩra geheftet, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihr trauen und aussprechen sollte, was sie zum Schrein geführt hatte.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin dieselbe Person, die vor Kurzem hier war, um der Gewalttätigkeit meines Mannes ein Ende zu bereiten.“
„Hat er etwa nicht aufgehört?“
„Doch, zumindest für den Moment.“
„Er hat also auf die Ältesten gehört, die ich zu ihm geschickt hatte?“
„Deshalb bin ich hier.“
„Hab keine Angst und sag, was dein Herz belastet.“
„Die Angelegenheit ist sehr dringend. Ich will nicht hinter verschlossenen Türen reden, weil sie vielleicht schon auf dem Weg hierher sind.“
„Wer?“
Vinjinia warf einen Blick über die Schulter, dann beugte sie sich nach vorn.
„Kaniũrũ und seine Leute“, sagte Vinjinia in einem Ton, der zu sagen schien: Jetzt ist es raus, komme nun, was wolle.
Nyawĩra wurde von Angst erfasst, reagierte aber nicht panisch, da es sich um eine Falle handeln konnte.
„Kaniũrũ? Wer ist das?“, fragte Nyawĩra, als würde sie den Namen nicht kennen. „Doch lass uns hinausgehen, wenn das deine Zunge befreit.“
Nyawĩra ging nach hinten, um ihre Mitarbeiterinnen zu warnen, Ausschau zu halten. Dann trat sie zu Vinjinia hinaus in den Hof. Die beiden Frauen waren identisch gekleidet. Schweigend gingen sie zum Tor, so als würde die eine die andere hinausbegleiten. Plötzlich blieb Vinjinia stehen und sah Nyawĩra in die Augen. Nyawĩra war vollkommen überrascht.
„Nyawĩra“, sprach Vinjinia sie mit Namen an. „Lass uns keine Spielchen mehr treiben. Ich wollte deinen richtigen Namen nicht im Schrein aussprechen.“
„Wann hast du es herausgefunden?“, fragte Nyawĩra in ihrer normalen Stimme.
„Jedes Mal, wenn ich hier war, ging ich mit dem Gefühl nach Hause, dich zu kennen. Aber als mir mein Mann heute Morgen erzählte, dass er den Herrn der Krähen im Gefängnis zurückgelassen hat und er sich immer noch in Sikiokuus Händen befindet, dämmerte es mir, dass du es gewesen sein musstest, die die Rolle des Herrn der Krähen gespielt hat. Und ich musste einfach herkommen, um dir zu sagen, in welcher Gefahr du dich befindest. Ich wollte, dass du mit mir nach draußen gehst, weil auch die Wände Ohren haben, wie es so schön heißt. Und ich wollte meinen Verdacht bestätigen, indem ich deinen Gang beobachte, wie du gehst, wie du dich bewegst.“
Und als sie nun ihren Spaziergang fortsetzten, erzählte Vinjinia Nyawĩra die ganze Geschichte ihrer zweiten Entführung durch Kaniũrũ und seine Schergen. Und ohne zu zögern, berichtete sie auch, wie sie sich selbst gerettet hatte.
Nyawĩra fühlte sich ermutigt und deprimiert zugleich. Was, fragte sie sich bitter, hatte sie einst an Kaniũrũ gefunden?
„Ich bin nur hier, um dich vor der Gefahr zu warnen, in die ich dich gebracht habe, weil Kaniũrũ und seine Leute, auch wenn dein Gefährte noch im Gefängnis ist, hierherkommen und klären wollen, wer dieser Zauberer ist, den ich konsultiert habe. Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst, das musst du selbst entscheiden. Ich muss jetzt gehen. Aber vorher will ich dir noch sagen, dass ich dir sehr dankbar bin für alles, was du für mich getan hast. Du hast sogar dein Leben für mich riskiert. Trotzdem halte ich nicht viel von deinen politischen Vorstellungen. Doch wenn es etwas gibt, das ich für dich tun kann …“
Nyawĩra schwieg lange. Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen zurückhalten. Vinjinias Großherzigkeit rührte sie. Sie hatte die Müdigkeit nach einer schlaflosen Nacht der Folter bekämpft, um hierherzukommen und sie vor der drohenden Gefahr zu warnen. Sie war aus dem Dunkel in das Licht getreten: Nyawĩra war gerade Zeugin geworden, wie eine neue und selbstbestimmte Vinjinia zur Welt gekommen war.
Vinjinia verabschiedete sich und ging. Wie bei früheren Besuchen hatte sie ihr Auto in einiger Entfernung vom Schrein am Straßenrand geparkt. Nyawĩra lief ihr nach und sagte: „Bitte denk nicht, dass ich geschwiegen habe, weil ich wütend auf dich bin. Ich bin dir dankbar für das, was du getan hast: dich in Gefahr zu bringen, um mich zu warnen. Ich bin gerührt, dass du deinen Verdacht für dich behalten hast. Und mach dir wegen der Ereignisse letzte Nacht am Red River nicht allzu viele Gedanken. Ich kann auf mich aufpassen, aber dein Angebot, mir zu helfen, werde ich mir merken. Lass uns einen Code vereinbaren.“
Sie diskutierten welchen Namen sie benutzen könnten, um miteinander in Verbindung zu treten, wenn es nötig war. Vinjinia war nicht mehr länger die passive Empfängerin von Vorstellungen anderer, sie nahm aktiv teil.
„Nehmen wir den Namen Taube“, schlug Vinjinia schließlich vor.
„Das ist gut“, stimmte Nyawĩra zu. „Die Taube ist die Überbringerin von Frieden und Erlösung.“
„Ich muss dich etwas fragen“, fühlte sich Vinjinia ermutigt. „Und es ist auch nicht schlimm, wenn du mir nicht antworten willst.“
„Nur zu.“
„Der andere Herr der Krähen. Ist er noch im Gefängnis?“
„Nein. Er war im Gefängnis, als Tajirika im Gefängnis war. Nun ist er in Amerika.“
Vinjinia blieb vor Unglauben und Verwunderung für einen Moment der Mund offen stehen.
„In Amerika?“
„Der Herrscher ist krank geworden. Er hat nach dem Herrn der Krähen geschickt.“