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Die Besucherzahl in Kirchen und Moscheen war damals stark gestiegen, was vor allem daran lag, dass man in vielen religiösen Einrichtungen für die Vertreibung Satans, der inzwischen für alles stand, was im Land schieflief, betete und predigte. Einige religiöse Führer hatten sich vorbildlich für das Recht auf Versammlungsfreiheit eingesetzt und waren Helden der jungen Demokratie-Welle geworden.

Keine religiöse Einrichtung aber zog mehr Menschen so unterschiedlicher Glaubensrichtungen an wie die All Saints Cathedral. Orthodoxe und Nicht-Orthodoxe, Christen und Nicht-Christen, sie alle kamen. Widerstreitende Meinungen über den Ursprung der Popularität dieser Kathedrale gibt es bis heute.

Einige sagten, der Anfang läge in der Zeit, als Maritha und Mariko jede Woche die Geschichten ihrer seltsamen Begierden und ihres Kampfes gegen Satan erzählten, und verwiesen darauf, dass viele derer, die nur in die Kathedrale gekommen waren, um von den Versuchungen des Paares zu erfahren, der Kirche beigetreten waren, auch dann noch, als das Paar bereits nicht mehr sein Herz öffnete.

Andere behaupteten, der Aufstieg dieser Kirche habe einige Zeit vor den Beichten Marithas und Marikos begonnen. Sie datierten den Beginn auf jenen Sonntag, an dem Bischof Kanogori die Dämonen vertrieb, die der Herrscher, der in Nachahmung Christi auf einem Esel geritten kam, in das Gebäude geschleppt hatte.

Wieder andere beharrten darauf, dass man gar nicht über die Person Bischof Kanogoris hinausgehen müsse. Sein guter Ruf, am hellen Tag die Anliegen auszusprechen, die sich andere nur nachts zuflüsterten, sei so sehr in aller Munde, dass mancher glaube, er würde sich mit Gott austauschen.

Viele kamen nur in die Kirche, um seine Auslegung der Bibel zu hören. Zu den populärsten Interpretationen gehörte seine Wiedergabe der Bergpredigt. Wenn er mit leicht bebender Stimme deklamierte, dass die Armen das Erdenreich besitzen sollen, konnte man überall deutlich die zustimmenden Seufzer hören.

Es wird erzählt, dass dem Herrscher diese Freimütigkeit missfiel, und als nun eines Abends einige Schläger Kanogoris Haus überfielen und ihn verprügelten, nahm jeder in Aburĩria an, dass das State House dafür verantwortlich war. Die Schläger hatten ihn aufgefordert zu schweigen.

Aber Bischof Kanogori schwieg nicht; im Gegenteil, er bat seine Gemeinde, für die Angreifer zu beten, damit sie aus der Finsternis ins Licht treten könnten. Seine Kirche würde ihnen immer offen stehen. Diese Erklärung rief Unglauben und Unsicherheit hervor. Denen zu vergeben, die sich gegen einen versündigt hatten, war das eine; das andere war, sie im eigenen Haus willkommen zu heißen.

Inzwischen zog die Kathedrale auch viele Menschen der Volksversammlung vor dem Parlament und dem Gericht sowie aus den Medien an. Kanogoris Predigten wurden, wenn auch gekürzt, in den Zeitungen abgedruckt.

Eines Sonntags, als sich der Bischof gerade mitten im Gebet befand, war von draußen über Megafon eine Stimme zu hören, die eine seltsame Forderung verkündete. Anfangs achteten die Gläubigen nicht auf die Störung; sie blieben auf den Knien mit zum Gebet geschlossenen Augen. Als die Forderung jedoch wiederholt wurde, machten die Leute die Augen auf, und der Bischof beeilte sich, zu Ende zu führen, was er soeben sagen wollte. Als Erstes riefen die an den Fenstern und vor der Tür. Bewaffnete Polizisten hatten die Kathedrale umstellt. Scharfschützen waren auf die Bäume geklettert und zielten auf den Kirchhof. Der kommandierende Officer, Wonderful Tumbo höchstpersönlich, stand auf einem gepanzerten Fahrzeug und befahl allen über sein Megafon, in die Kirche zu gehen; wer zu fliehen versuche, werde ohne weitere Warnung erschossen. Die gesamte Gemeinde solle in der Kathedrale bleiben, bis Bischof Kanogori den Flüchtigen ausgeliefert habe: den Herrn der Krähen.

Bischof Kanogori bat seine Anhänger, sich geordnet und friedlich zu verhalten. Er sei sicher, es liege ein Missverständnis vor, und alles werde sich aufklären, wenn er mit dem befehlshabenden Officer spreche. Er hatte keine Ahnung, wovon die Polizei redete. Wer war dieser Herr der Krähen? Warum sollte er sich in der Kathedrale aufhalten? Wonderful Tumbo sagte Bischof Kanogori, dass er nicht in der Stimmung für ausweichendes Geplänkel sei. Die Kirche solle den Hexer herausgeben oder sich den Konsequenzen stellen.

Der Bischof ging zurück zum Altar und fragte die Gemeinde, ob sich in ihrer Mitte ein Hexenmeister befinde. Ihr feierlicher Ernst verschwand; sie lachten. Er rief alle Hexenmeister, die sich unter die Gemeinde gemischt haben mochten, auf, ihren Irrtum einzusehen und zu bereuen. Wer ehrlich bereue, sei nicht länger ein Hexenmeister; wenn sie Zauberer gewesen seien, bevor sie den Fuß in diese Kirche gesetzt hätten, dann seien sie jetzt keine mehr, da sie in Christus wiedergeboren seien.

Und zu Wonderful Tumbo sagte er, die Kirche sei das Haus Gottes, das Draußen unterliege den irdischen Mächten. Weder Bischof Kanogori noch Wonderful Tumbo wollten nachgeben, und die Menschen fürchteten, dass diese verfahrene Situation mit Blutvergießen enden würde. Der Officer hatte mit dem Herrscher telefoniert. Als er dann sein Ultimatum verkündete, wusste jeder, dass das State House hinter ihm stand. Der All Saints Cathedral blieb eine Stunde, den Hexenmeister herauszugeben, danach würde die Polizei den heiligen Ort stürmen.

Dann erhoben sich Maritha und Mariko, und Schweigen trat ein. Sie baten darum, den Bischof allein sprechen zu können. Die Menschen glaubten, Maritha und Mariko hätten die Absicht, eine neue Episode aus ihrem Kampf gegen Satan zu erzählen. „Ich dachte, ihr Kampf mit dem großen Versucher wäre zu Ende“, flüsterten einige, und sogar der Bischof bat sie, ihr Selbstzeugnis zu verschieben, bis die Krise vorüber sei. Inzwischen solle jeder die Augen schließen, um den Herrn um einen friedlichen Ausgang bitten zu können.

Mitten im Gebet hörten sie eine Katze miauen. Als sie die Augen öffneten, sahen sie einen Mann, dem eine Katze folgte, aus einer Tür nahe dem Altar am hinteren Ende der Kathedrale treten. Maritha und Mariko schauten sich an: Warum kommt er heraus, wo wir ihn doch gebeten haben, in der Sakristei zu warten? Warum hat er nicht alles uns überlassen?

„Ich bin der, den man den Herrn der Krähen nennt, und ich möchte nicht, dass jemand um meinetwillen verletzt wird. Ich habe, wie andere Obdachlose auch, im Kellergewölbe Zuflucht gefunden. Dafür danke ich euch allen. Ich bin in Frieden hierher gekommen und werde in Frieden von hier fortgehen.“

Alle verfolgten, wie der Mann und die Katze den Mittelgang hinab und aus der Kirche gingen. Wonderful Tumbo höchstpersönlich legte ihm die Handschellen an.

Herr der Krähen
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