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Sogar der Herrscher glaubte, seine Augen hätten ihn irregeführt. Wohin waren die schamlosen Tänzerinnen verschwunden? Er erhob sich, um über die Sinnestäuschung hinwegzureden und alle Gemüter zu beruhigen, die durch die Frauen und den Polizeichef in Aufruhr gebracht worden waren. Er bemühte sich, schlagfertig zu sein, und erinnerte die Leute daran, dass sie sich schließlich in Schwarzafrika befänden und alles, was sie gesehen und gehört hätten oder glaubten, gesehen oder gehört zu haben, nichts anderes war als schwarzer Humor aus einem uralten aburĩrischen Ritual. Bevor er sich jedoch über das Ritual und seine Bedeutung ausließ, warf er einen Blick auf seine Gäste, um zu sehen, wie sie seinen Erklärungsversuch aufnahmen, musste aber feststellen, dass alle woandershin starrten. Schiere Verblüffung warf ihn unfreiwillig auf seinen Stuhl zurück. Hörte dieser Albtraum niemals auf?

Die Bühne, auf der er mit seinen Gästen saß, begann, langsam zu sinken, als ob eine Kraft aus dem Schoß der Erde sie hinabzog. Eine schlammige Flüssigkeit sickerte von der Bühne und bildete langsam einen Teich. Hatte man die Bühne auf einem Sumpf errichtet?

Als Erste ergriffen die ausländischen Diplomaten und die Banker die Flucht. Der Herrscher und seine Minister erhoben sich und versuchten, Würde zu bewahren. Machokali reagierte auf eine Geste des Herrschers, griff zum Mikrofon und verkündete, die Zeremonie sei hiermit offiziell beendet. Als sich Machokali danach wieder umblickte, waren der Herrscher und die anderen Minister nirgends mehr zu sehen. Der schlammige Teich war größer geworden, und seine Schuhe schon halb in dem dunkeltrüben Brei versunken. Der Geruch deutete auf eine Mischung aus Urin und Kot, aber er konnte trotzdem nicht mit Gewissheit sagen, woraus diese Substanz bestand. Er rannte zu seinem Auto und scherte sich nicht länger um das, was um ihn herum geschah. Dann sah er den Herrscher und die anderen Minister, die sich in ihren Autos eilig davonmachten.

Einige Erzähler dieser Geschichte behaupten, sie hätten gesehen, wie der Herrscher und die Minister im Morast versanken und Polizisten sie herausziehen mussten. Andere bestreiten das und beharren darauf, dass die Bühne erst versank, nachdem die Würdenträger geflohen waren. Das hätten sie, wie sie versicherten, mit eigenen Augen gesehen. Aber alle Versionen stimmen darin überein, dass es tatsächlich einen mysteriösen, faulig stinkenden Teich gegeben hat.

„Ich selbst habe den Teich nicht gesehen, aber es muss irgendetwas geschehen sein, sonst wäre Seine Allmächtigkeit nicht so plötzlich geflohen“, berichtete Nyawĩra Kamĩtĩ. „Ich kann nur vermuten, dass das von der Kolonialverwaltung angelegte Kanalisationssystem, das nie richtig gewartet oder instand gesetzt worden ist, verrückt gespielt hat.

Aber im Augenblick unseres Triumphes drehten sich unsere Gedanken nicht darum, ob ein Teich da war oder nicht und was das bedeutete; wir sonnten uns einfach im Licht der Tatsache, klargemacht zu haben, dass nicht alle Aburĩrier glücklich darüber sind, von einem herzlosen Despoten regiert zu werden oder für Marching to Heaven weitere Schulden anzuhäufen. Man muss nicht einmal genauer hinsehen, um zu erkennen, dass ein Mann, der seine Frau so in ihrem Haus einsperrt, eine Bestie in Menschengestalt ist. Rachaels Schicksal spricht Bände: Wenn man eine Frau, die sich auf dem Höhepunkt der Macht und damit der öffentlichen Wahrnehmung befindet, einfach verschwinden lassen, sie zu Lebzeiten mundtot machen kann, wie steht es dann um die gewöhnliche Arbeiterfrau oder Bäuerin? Die Lage der Frauen in einem Land sind der wahre Gradmesser seines Fortschritts. ,Du sperrst eine Frau ein und hast eine ganze Nation ins Gefängnis gesteckt‘, haben wir während der Zeremonie gesungen.

Als ich an diesem Abend nach Hause ging, fühlte ich mich, als wären mir Flügel gewachsen. Die Nächte ohne Schlaf, die Tage, die darüber vergingen, waren es wert gewesen. Vertrieben durch die Macht der Frauen, hatten wir gesagt“, erzählte Nyawĩra, und noch immer blitzten ihre Augen vor Stolz bei der Erinnerung an den Mut der Frauen und den verdienten Triumph. „Und in dieser Nacht habe ich immer wieder die Worte vor mich hingesprochen: Die Macht der Frauen hat das erreicht!“

Der Herrscher schloss sich sieben Tage, sieben Stunden, sieben Minuten und sieben Sekunden im State House ein und war für niemand zu sprechen, bis er die Kabinettssitzung einberief, auf der beschlossen wurde, Zuflucht bei Staatsbesuchen im Westen zu suchen.

Warteschlangen, die aus mehr als fünf Personen bestanden, wurden mit sofortiger Wirkung verboten. Unabhängig von Zeit und Ort und Anliegen war es künftig illegal, wenn mehr als fünf Menschen in einer Reihe standen, ob sie nun eine Kirche oder Moschee betraten, an einer Bushaltestelle ausharrten oder sich in einem Büro trafen. Wenn zum Beispiel mehr als fünf Personen an einer Bushaltestelle warteten, durften sie mehrere Schlangen zu je fünf Personen bilden, aber keine fortlaufende. Nach Aussage des Herrschers waren Warteschlangen eine marxistische Erfindung und hatten mit afrikanischer Kultur nichts zu tun, die schließlich vom Geist der Spontaneität beseelt sei. Massenchaos – Schieben und Drängen – war nun an der Tagesordnung.

Das Verbot vermehrte die vielen Geschichten im Land, die über diesen Tag bereits im Umlauf waren, und rief viele Witze über das Fiasko hervor. Der Bauplatz sei mit Pisse geweiht und gesegnet worden, erklärten manche. Andere fügten hinzu, das Regime wäre beinahe im Morast untergegangen, und lachten so laut, dass ihnen das Zwerchfell wehtat, wenn sie darauf hinwiesen, sämtliche nachfolgenden Bemühungen, die Stelle mit Sand und Steinen zu füllen, seien erfolglos geblieben. Sie berichteten, dass die Flüssigkeit anstieg und über Sand und Steinen einen neuen Teich bildete. Die Stadtverwaltung bemühte sich um Schadensbegrenzung. Sie beauftragte ein Unternehmen, rund um den Teich Blumen zu pflanzen. Ein zweites sollte Parfüm in den Teich kippen. Aber was die Firmen auch taten, die Blumen wollten nicht anwachsen, und das Parfüm konnte den Gestank nicht überlagern. Zuletzt sah sich die Stadtverwaltung gezwungen, dieselben Unternehmen zu beauftragen – ihre Eigentümer waren Soi, Runyenje, Moya und Kucera –, Plastikblumen und -bäume aufzustellen und regelmäßig Parfüm in den Teich zu kippen.

„Wer waren diese Frauen?“, war die häufigste Frage unter den Leuten. Ob sie nun von denen gestellt wurde, die nicht dabei gewesen waren oder denen, die behaupteten, dabei gewesen zu sein, sie war nichts weiter als die rhetorische Einleitung für neue Geschichten. Wer nicht dabei gewesen war, gab wieder, was er von anderen gehört hatte. Wer dabei gewesen war, sprach mit der Autorität des Augenzeugen. Sie erzählten, dass sie beim Verlassen des Schauplatzes neben dem Abfall, den leeren Büchsen und Flaschen, auch Plastikschlangen gesehen hätten, und von da an wussten alle, dass diese Plastikreptilien das Erkennungsmerkmal der Bewegung für die Stimme des Volkes waren. „Ihr meint, diese Frauen gehörten zur Bewegung?“, fragten einige. „Was glaubt ihr denn?“, gaben die anderen darauf zurück und fuhren fort, wie diszipliniert die Frauen aufgetreten und wie sie auf wunderbare Weise in der Menge untergetaucht seien, nachdem sie dem Herrscher zu verstehen gegeben hatten, dass er sie am Arsch lecken konnte. Das war ihr Tag; das war ihr Triumph. Frauen? Sie mögen vielleicht still sein, aber wie bei stillen Wassern weiß man nie, wie tief sie sind.

„Die ersten zwei oder drei Nächte konnte ich kaum schlafen“, erzählte Nyawĩra weiter. „Mein Kopf war vollgestopft mit all dem, was passiert war. Ich ging wie auf Wolken. Was die Bewegung so vielen Widerständen und Hindernissen zum Trotz erreicht hatte, wühlte mich auf. Ich schwebte immer noch auf einer Wolke der Freude, als ich wieder zur Arbeit bei Eldares Modern Construction and Real Estate musste. Du kannst dir vorstellen, wie schockiert ich war, als A.G. und seine Bande vom M5 einschließlich Kaniũrũs auf mich warteten!“, erzählte sie Kamĩtĩ und durchlebte noch einmal den Schrecken, der sie durchfahren hatte, als Arigaigai Gathere sie auf der Straße angehalten und ihr aus Versehen von dem Hinterhalt erzählt hatte. „Zum Glück, oder sollte ich sagen, dank des Zaubers, irrtümlicherweise für den Herrn der Krähen gehalten worden zu sein, mussten die Häscher mit leeren Händen abziehen.“

Damals wusste Nyawĩra noch nichts von Vinjinias Verhaftung, und wie viele andere, die nicht Bescheid wussten, erfuhr sie erst viel später davon, dass der Herrscher Vinjinias Freilassung auf der gleichen Kabinettssitzung verfügt hatte, auf der auch die Idee einer Reihe von Staatsbesuchen in Europa und Amerika aufgekommen war.

Herr der Krähen
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