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Doch nun hatte er nichts mehr zu besiegen, klagte er. Keine Widersacher mehr, die er überwinden musste. Nachdem er seine Lieblingsminister Tajirika und Kaniũrũ zu Gesprächen mit dem Global Ministry of Finance, der Global Bank und der amerikanischen Regierung nach Amerika geschickt hatte, zog sich der Herrscher in seine Privatgemächer im State House zurück, ließ seinen Tränen freien Lauf und haderte mit dem Schicksal. Sogar die offizielle Nationalhostess konnte ihm keinen Trost schenken. Er schäumte, weil er sich nach Angriffen gleichwertiger Widersacher sehnte.
In seiner Betrübnis fielen ihm die Tränen ein, die zu sehen er vergeblich gehofft hatte. Rachael, seine Frau, hatte allen Versuchen, sie zu brechen, widerstanden und noch immer nicht um Gnade gebettelt. Sein Kummer über fehlende Herausforderungen wandelte sich bei dem Gedanken an eine Frau, die sich ihm widersetzte und damit erfolgreich war, in Wut. Er rief den Wachmann an, der ständig am Eingang zu Rachaels Drei-Hektar-Plantage stand und verwickelte ihn in ein Gespräch. Er erfuhr, was schon seit Monaten als Gerücht umging, dass man Rachael bei Nacht, wenn die Leute eigentlich in ihren Betten schnarchen sollten, über den Hof oder durch das Haus gehen sah, wobei sie wie ein Geist eine Laterne trug. „Los, wir fahren zur Plantage“, rief er eines Abends seinem treuen Biographen zu. Er wollte, dass dieser Moment festgehalten wurde, weil er zu einem Kernstück seiner offiziellen Biographie werden sollte.
Was wirklich geschah, als der Herrscher in jener Nacht Rachael in Begleitung von Luminous Karamu-Mbu besuchte, ist umstritten. Der Wachmann, der den Schlüssel zum Eingangstor des umzäunten Geländes hatte, war nirgends zu sehen. Manche behaupten, der Herrscher habe sich durch einen Spalt zwischen der Mauer und dem Tor gezwängt, und weil er neuerdings so schlank war, habe ihm das keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Demzufolge robbte er vorsichtig die restliche Strecke, um Rachael zu überraschen, noch bevor sie sich die Tränen abwischen konnte. Als er schließlich das Haus erreichte, lugte er durch ein Fenster. Rachael, die noch immer das Kleid trug, das sie an jenem Abend getragen hatte, als sie sich wegen seiner Vorliebe für kleine Mädchen stritten, dachte, sie hätte ein langhalsiges Etwas mit einem winzigen Kopf und einer gespaltener Zunge gesehen, und warf ihre Laterne nach diesem Etwas. Das Paraffin floss aus, das Haus fing Feuer und der Herrscher und Luminous Karamu-Mbu rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Andere Berichte besagen: Nein, ganz so war es nicht, der Wächter war zwar verschwunden, aber als der Herrscher das Haus erreichte, sei Rachael an die Tür gekommen und habe gesagt, ich weiß, dass du es bist, und statt zu weinen, habe sie ihm ins Gesicht gelacht. Weil sie aber schon lange nicht mehr gelacht hatte, brachen ihr beim Lachen die Rippen und sie fiel in sich zusammen zu einem Haufen trockener Knochen. Die Laterne landete auf dem Knochenhaufen, der Feuer fing. Die Flammen griffen schnell auf das Haus über und erfassten die gesamte Plantage. Dem Brand entsprang ein Feuerball, der den Herrscher und seinen treuen Biographen den langen Weg zurück bis vor die Tore des State House verfolgte.
Die Erinnerung an diesen Feuerball, der ihn gnadenlos jagte, verursachte Schlaflosigkeit, und um Ruhe zu finden, forderte der Herrscher seinen treuen Biographen Luminous Karamu-Mbu auf, ein Kapitel aus dem Buch vorzulesen, das er schrieb. Die Biographie sei noch nicht abgeschlossen, sei ein Werk im Entstehen, erwiderte der Schreiber, aber der Herrscher befahl ihm, aus den umfangreichen Aufzeichnungen, die er gemacht hatte, zu lesen. Jede Nacht wurde nun ein Kapitel vorgetragen, was dazu führte, dass der Herrscher die Herausforderungen, Schlachten und Siege vergangener Tage noch einmal durchlebte; ein seltsames Gefühl, fast so, als lebte er sein Leben ein zweites oder drittes Mal. Es gab Abschnitte, die der Herrscher immer wieder vorgelesen haben wollte, wobei er ihm öfter sagte, was er weglassen oder einfügen sollte. Eines Nachts befahl er Luminous Karamu-Mbu, den Abschnitt vorzulesen, der sich mit seinem jüngsten Triumph beschäftigte. Ergeben las der Biograph vor, wie Donnerschläge aus jeder der sieben Leibesöffnungen des Herrschers geschossen waren wie getarnte Raketen, die nacheinander explodierten; er hatte in allen Einzelheiten beschrieben, wie der zweite Donnerschlag die ausländischen Ärzte in die Luft gewirbelt hatte und wie er, Luminous Karamu-Mbu, mutig ausgehalten habe, bis schließlich auch er vom fünften oder sechsten Donnerschlag als menschliches Geschoss in den Himmel gejagt worden war und deshalb über den siebten keine Einzelheiten mehr kenne, aber …
Der Herrscher hörte nicht bis zum Ende zu, denn sein Kopf war mit der plötzlichen Erkenntnis beschäftigt, dass sein treuer Biograph zu viel wusste. Wenn dieser der Wahrheit entsprechend und bildgewaltig aufschreiben konnte, was geschehen war – ein Bericht, der der offiziellen Version über die Heldentaten des Herrschers und seiner Generäle völlig widersprach, – so konnte er unfreiwillig auch etwas über die Geschichte mit Rachael und dem Feuer auf der Plantage preisgeben. Dieser Mann besaß nicht genügend Phantasie, die Wirklichkeit zu beschönigen und schmackhafter zu machen. Wie hatte er einen solchen Dummkopf einstellen können?
Wie auch immer, Luminous Karamu-Mbu, der als treuer Biograph wiedergeborene Ex-Kommunist, wurde nie wieder gesehen, wobei Gerüchte behaupteten, der Mann sei unter dem Gewicht des riesigen Stiftes und des ausladenden Buches zusammengebrochen.
Einige erklärten, es sei die offizielle Nationalhostess gewesen, die die Saat für das SIV des Biographen legte, weil der Krieg, den sie in ihrer Zeit als Revolutionäre gegeneinander führten, unheilbare Wunden geschlagen habe, die noch schwärten, obwohl sie dem Kommunismus abgeschworen hatten. Nach der Smogkatastrophe sei Yunique McKenzie gebeten worden, ihr Büro ins State House zu verlegen, was sie abgelehnt habe, solange Luminous Karamu-Mbu im Palast ein- und ausgehe. Es wurde bemerkt, dass Dr. Yunique Immaculate McKenzie, PhD, ONH, kurz nach dem Verschwinden des Biographen ihr Büro ins State House verlegte und der Herrscher sich die Dienste eines gewissen Morton Stanley sicherte, eines weißen Royalisten aus London, der anhand des ihm großzügig überlassenen Materials eine ungekürzte, unabhängige und objektive Biographie des Herrschers aus Sicht eben dieses Herrschers schreiben sollte.
Rachaels Auslöschung mochte nicht unbedingt seinem Wunsch nach Widerstand entsprechen, der seinen neu erworbenen Kräften entsprach, doch wertete er sie trotzdem als Erfolg, vor allem, als er sah, dass dem weder Vorhaltungen von seinen Söhnen noch wütende Demonstrationen der Frauen folgten.
Die Krönung seines unverwässerten Erfolges aber war, dass seine Minister Tajirika und Kaniũrũ mit handfesten Ergebnissen aus Amerika zurückkehrten.
Der Verteidigungsminister und Kriegsheld Kaniũrũ hatte eine Kreditvereinbarung unterzeichnet, die es Aburĩria ermöglichte, im Westen Waffen zu kaufen, und der Finanzminister und Held der Geschäftswelt Tajirika hatte mit mehreren Mineralölgesellschaften und Bergbauunternehmen Verträge zur Erkundung von Öl- und Gasvorkommen vor der Küste und der Lagerstätten von Gold, Diamanten und anderen Edelmetallen im Norden Aburĩrias geschlossen.
Der herausragende Teil der Erfolgsgeschichte war aber, dass das Global Ministry of Finance und die Global Bank der Freigabe der eingefrorenen Gelder zugestimmt hatten, nun, da der Plan für Marching to Heaven aufgegeben und durch Baby D ersetzt worden war.
„Gut gemacht“, lobte der Herrscher seine beiden Minister.
„Sie sind die Macht, mein Herr und Gebieter“, rief Tajirika aus.
„Und der Ruhm“, fiel Kaniũrũ ein.
„Lang lebe Baby D“, sagten sie im Chor. Doch das war Zufall, denn beide hatten gehofft, bei dieser Speichelleckerei das letzte Wort zu haben.