12

Sie saß zwischen zwei Männern, die nach Alkohol stanken. Im hinteren Teil des Wagens war es dunkel, und sie konnte nicht sagen, wie viele Leute im Fahrzeug saßen. Wie damals Tajirika dachte sie zunächst, es handle sich um einfache Kriminelle, die sie in Erwartung eines Lösegeldes entführten. Angenommen aber, ihr Mann weigerte sich, das Lösegeld zu zahlen? Oder war es gar seine Rache?

In Aburĩria gab es viele Geschichten über den Mord an Ehepartnern: Ehemänner, die den Tod ihrer Frauen planten und anschließend Krokodilstränen vergossen und schworen, den Mörder zur Strecke zu bringen; Ehefrauen, die ihren Mann mitsamt Haus verbrannten und darauf achteten, dass sie mit ein paar oberflächlichen Brandwunden davonkamen, als Beweis, dem Feuer selbst nur mit knapper Not entkommen zu sein. War es Tajirika in den Sinn gekommen, Gangster anzuheuern, um sie für immer zum Schweigen zu bringen? Oder war alles vielleicht nur ein Traum, ein Albtraum, und wenn sie daraus erwachte, würde alles wieder normal sein? Aber es war kein Traum, und Vinjinia schauderte bei dem Gedanken, man werde sie vergewaltigen. „Wohin bringen Sie mich?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Mrs. Tajirika“, antworte Kaniũrũ vom Beifahrersitz. „Mein Name ist John Kaniũrũ. Ich glaube, wir beide begegnen uns nicht zum ersten Mal. Doch für den Fall, dass Sie es vergessen haben, will ich Ihre Erinnerung auffrischen. Ich bin der Stellvertreter Ihres Mannes von Marching to Heaven. Sie beehrten die Eröffnung unserer Büros mit Ihrer Gegenwart. Ich bin zudem der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum Schlangenwahn, vom Herrscher in dieses Amt berufen. Außerdem bin ich in dieser Region der Anführer der Jugendbrigade Seiner Allmächtigkeit. Ich sage Ihnen das alles, damit Sie wissen und begreifen, dass Ihr Leben in meinen Händen liegt und davon abhängt, ob Sie mir die Wahrheit sagen. Nur Sie allein bestimmen, ob Sie wieder nach Hause und Ihre Kinder bekochen wollen oder im Red River als Krokodilfutter enden.“

„Junger Mann, warum tun Sie mir das an? Was habe ich Ihnen getan? Oder ist mein Mann Ihnen zu stark und Sie haben beschlossen, es an mir auszulassen? Schämen Sie sich!“

„Ihr Mann? Der soll sich nur nicht zu früh freuen. Mit dem bin ich noch nicht fertig. Aber heute, besser gesagt, heute Abend, sind wir nicht hinter Ihrem Mann her. Man könnte sogar sagen, er und ich stehen auf derselben Seite. Wir wollen nämlich, dass Sie uns von den Frauen erzählen, mit denen Sie verkehren, den Frauen, die diese Kampagne losgetreten haben, Männer zu terrorisieren. Die Tänzerinnen und Richterinnen: Woher kennen Sie die?“

„Ich kenne sie nicht“, antwortete Vinjinia, ohne zu zögern, obwohl sie Kaniũrũs Behauptung schmerzte, er und Tajirika würden zusammenarbeiten. Wie konnte sich ihr Mann mit seinem Feind zusammentun, nur um sie zu vernichten?

„In Ordnung. Damit haben Sie Ihr Schicksal besiegelt. Nicht eine Seele in Aburĩria weiß, wo Sie heute Abend sind. Fahrer, weiter geht’s. Sie haben es selbst gehört. Die Frau hat sich entschieden, die Krokodile im Red River zu füttern.“

Das Auto beschleunigte. Nach ungefähr einer Stunde hielt es an, und drei Männer zerrten sie aus dem Wagen. Sie befanden sich im Busch, und trotz des Mondlichts war es ziemlich dunkel. Die Männer schleppten sie über eine Lichtung zum Fluss. Kaniũrũ und der Fahrer folgten ihnen. Am Ufer des Flusses, der jetzt im hellen Mondschein lag, sah sie Krokodile, die im Schilf ihre hässlichen Köpfe hoben. Sie, die sich bis dahin geradezu stoisch verhalten und kaum ihre Stimme erhoben hatte, schrie nun so laut, dass sie glaubte, ihr Kopf müsste zerspringen. Aber zu ihrem Entsetzen bekam sie nur ihr eigenes Echo als Antwort. „Niemand kann Sie hören“, sagte Kaniũrũ, der ein oder zwei Schritte hinter ihr ging. „Kennen Sie diesen Fluss? Er heißt deshalb Red River, weil die Krokodile das Blut von all denjenigen schätzen gelernt haben, die sich irgendwelche Torheiten gegen den Herrscher erlauben. Ist Ihr Mann dumm genug gewesen, Ihnen zu versprechen, Sie zur Mama Aburĩria zu machen? Will Tajirika die Regierung stürzen? Er täuscht Sie. Er ist nicht einmal fähig, einen Stein über einen Fluss zu werfen, wenn er weiß, dass sich Krokodile darin befinden. Solche wie diese hier. Sie sind sehr hungrig, weil sie, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, nicht mehr ihre gewohnte Ration Menschenfleisch bekommen haben, seit der Herrscher nach Amerika abgereist ist.“

Sie konnte nicht sagen, ob es an den Worten lag oder an der Art, wie er sie sprach, oder einer Mischung aus beidem, aber Vinjinia war sich sicher wie noch nie: Kaniũrũ versuchte nicht nur, ihr Angst zu machen; er meinte, was er sagte. Und möglicherweise freute er sich sogar darauf, sie den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen. Wie sollte sie sich aus diesem Wahnsinn befreien? Die Furcht, die sie mit der Todesgewissheit vollständig erfasste, verdeutlichte ihr die Notlage. Wenn sie sich vor diesen Halsabschneidern retten wollte, musste sie sich schnell etwas einfallen lassen, irgendetwas, das ihr Zeit verschaffte. Sie hörte auf zu schreien. Sie sprach ein schnelles Gebet, bat Gott um Hilfe, ihre Nerven zu beruhigen. Und sie entschied für sich: Der Herr der Krähen würde sie retten.

„Ich bin ein bisschen durcheinander. Sie haben mich nach zwei Gruppen von Frauen gefragt: Tänzerinnen und Richterinnen.“

„Ja, das stimmt.“

„Die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, wer die Tänzerinnen waren. Ich bin zu der Eröffnungsfeier gekommen, um Minister Sikiokuu zu sprechen. Ich entdeckte sie im Hof vor den Büros. Ich nahm an, sie waren wegen der Feier da.“

„Stimmt, ich habe sie eingeladen“, sagte Kaniũrũ knapp, der nicht näher darauf eingehen wollte, wie sie ihn betrogen hatten. „Und was ist mit den Frauen, die ihren Mann verprügelt haben?“

„Was wollen Sie über die wissen?“, fragte Vinjinia ruhig, als wäre sie zur Zusammenarbeit bereit.

„Wer sind sie? Wo wohnen sie? Und welche Verbindung haben Sie zu ihnen?“

„Ich kenne sie nicht.“

„Sie machen Witze?“

„Die gibt es in Wirklichkeit nicht“, sagte sie schroff.

„Was meinen Sie damit, die gibt es in Wirklichkeit nicht?“

„Sie sind einfach Schatten. Virtuelle Wesen. Sie existieren nur im Spiegel des Herrn der Krähen.“

Herr der Krähen
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