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Das Ehepaar Maritha und Mariko war in ganz Santalucia bekannt, weil sie sich nie trennten, gemeinsam zum Markt gingen und gemeinsam Totenwachen, Beerdigungen und Hochzeiten besuchten. Entdeckte man einen von beiden einmal allein, wussten die Leute – und sie irrten sich selten – dass der andere nicht weit war.
Manchmal folgte ihnen ihre Katze, die abgesehen von einem weißen Fleck mitten auf der Stirn vollkommen schwarz war. Und als sie einmal mit in die Kirche ging, dichteten die Kinder sofort ein bekanntes Lied um:
Mari hat ne kleine Katz,
kleine Katz, kleine Katz,
Mari hat ne kleine Katz,
das Fell so schwarz wie Ruß.
Und wo auch immer Mari war,
Mari war, Mari war,
und wo auch immer Mari war,
da war die Katz nicht fern.
Sie ging mit in die Kirch’ einmal …
Maritha und Mariko waren gläubige Gemeindemitglieder von All Saints. Sie wischten auf den Bankreihen Staub, putzten die Fenster und ordneten die Blumen. Als die Gemeinde beschloss, die Obdachlosen zu speisen und ihnen freitags, samstags und sonntags im Kellergeschoss Unterschlupf zu gewähren, meldeten sich Maritha und Mariko freiwillig, um für die Not leidenden Landstreicher zu sorgen. Sie fütterten sogar die Tauben und andere Vögel, die auf dem Dach der Kathedrale nisteten.
Maritha und Mariko waren wie Zwillinge. Häufig kam es vor, dass der eine einen Satz vollendete, den der andere begonnen hatte. Beide waren über sechzig, ihre Körper hatten die Jahrzehnte beachtenswert gut überstanden, und ihre Kinder, die inzwischen junge Männer und Frauen waren, hatten sichere Arbeitsstellen. Alles in allem waren Maritha und Mariko ohne jeden Makel und schienen ein Beispiel für eine erfüllte Ehe und ein gutes Familienleben zu sein. Das erklärt, warum die gesamte Kirchengemeinde so schockiert war, als Maritha und Mariko eines Sonntags, nur wenige Monate nach dem Ereignis mit dem Herrscher und dem geborstenen Glas, vor die Gemeinde traten und beichteten, dass sie eine unwiderstehliche Lust nach dem Fleische anderer plage. Und so, wie sie alles gemeinsam taten, erzählten sie ihre Geschichte, als läsen sie aus demselben Buch vor.
„Sogar durch die Straßen zu gehen, wird eine regelrechte Folter“, gestand Mariko.
„Nicht eine einzige Nacht ist vergangen, in der wir nicht dafür gebetet haben, dass diese schreckliche Last von uns genommen wird, aber unsere Gebete sind noch nicht erhört worden“, fügte Maritha hinzu.
„Unsere Körper verzehren sich nicht mehr nacheinander, aber die anderer Menschen lassen die unseren vor Verlangen brennen.“
„Als locke Satan uns vom Pfad der Rechtschaffenheit und zum Bruch der Zehn Gebote …“
„… in denen es heißt“, und sie sprachen gemeinsam weiter: „Du sollst nicht ehebrechen und Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut!“
„Bis jetzt hat die Wollust nur von unseren Augen Besitz ergriffen“, erklärte Maritha.
„Aber auch das ist eine Sünde“, beeilte sich Mariko hinzuzufügen, als wollte er jeden Zweifel der Zuhörer, wie ernst sie ihren Kampf gegen diese Versuchung nahmen, im Keim ersticken.
Die Gemeinde betete, dem Paar möge Kraft zuteil und der Teufel der Wollust vernichtet werden. Nach Beendigung des Gottesdienstes führte Bischof Tireless Kanogori, ihr Bruder in Christi, ein offenes Gespräch mit beiden und ermahnte sie, standhaft zu bleiben und immer daran zu denken, dass Satan damals, als Christus allein, hungrig, durstig und erschöpft in der Wüste saß, eben diesen Augenblick wählte, ihn vierzig Tage und Nächte zu versuchen. Jesus musste mit zahlreichen Begierden kämpfen, aber er blieb standhaft, mutig und rechtschaffen, und schließlich besiegte er Satan; und es war dieser große Kampf mit dem Versucher, der Christus darauf vorbereitete, seine Rolle als Erlöser aller Sünder zu übernehmen. „Also bedenkt,“ fuhr er fort, „wie glücklich ihr euch schätzen könnt, nicht vierzig Tage und Nächte lang mit Satan allein in der Wildnis mit heulenden Winden und wilden Tieren zu sein, noch immer füreinander da zu sein, hier in eurem Zuhause in Santalucia, und dass wir alle euch beistehen und dem Versucher zurufen: ,Hebe dich hinweg, Satan!‘“ Und die drei stimmten eine Hymne an:
Die Engel des Bösen werden kommen
Und Satan wird erscheinen
Doch meine Seele ist gewappnet mit dem Glauben
Ich werde ihn zur Strecke bringen
Ich werde zuschlagen und ihm sagen
Hebe dich hinweg, Satan
Niemals werde ich dir folgen
Aber selbst da ließ Satan sie nicht in Ruhe, und jeden Sonntag berichteten Maritha und Mariko der Gemeinde schaurigere Geschichten darüber, wie Satan ihnen in den vergangenen sieben Tagen und Nächten in den unterschiedlichsten Verkleidungen auf Schritt und Tritt gefolgt war und gerissen wie eh und je versucht hatte, ihre Lust nach dem Fleisch anderer Menschen anzustacheln. Die Kathedrale war der einzige Ort, an dem sie sich vor ihm sicher fühlten. An jedem anderen Ort tauchte er auf, vor allem, wenn einer von beiden allein zu Hause schlief oder allein durch die Stadt ging. Sie fochten einen heldenhaften Kampf, und Zeugnis über Satans Taktik abzulegen, war eine Möglichkeit, ihm zu begegnen. Wenn Satan ihnen mit schwerem Geschütz kam, so wollten sie sich wenigstens mit diesen bescheidenen Mitteln zur Wehr setzen. Es war ihre größte Angst, dass Satan einen von ihnen allein in einer dunklen Gasse erwischen könnte, weshalb sie unzertrennlicher waren als je zuvor.
Die Geschichte war sehr bewegend, und jeden Sonntagmorgen kamen mehr Menschen in die All Saints Cathedral, um der jüngsten Episode über das tägliche Ringen von Maritha und Mariko mit Satan zu lauschen. Die Kathedrale wurde zu einem beliebten Ort, der sich jeden Sonntag bis auf den letzten Platz mit Menschen füllte, die begierig auf die pikanten Einzelheiten aus dem wollüstigen Leben des Paares und seines Kampfes mit Satan waren. Die Kathedrale war so voll, dass man nicht einmal mehr stehen konnte und viele sich deshalb einfach vor der Tür und den Fenstern versammelten, um wenigstens den einen oder anderen Blick auf das heldenmütige Paar zu erhaschen, wenn es seine Geschichte erzählte.
Natürlich landete diese Geschichte auch auf den Schreibtischen der Nachrichtenredakteure, und einer Zeitung, dem Daily Gossip, gelang es, die Auflage beträchtlich zu steigern, indem sie Versionen von Marithas und Marikos Fortsetzungsbeichte abdruckte. So wurde der Krieg gegen Satan das vorrangige Gesprächsthema in den Straßen, auf den Märkten, in den Einkaufszentren und Bars. Wann und wo immer sich junge Männer und Frauen begegneten, begrüßten sie einander halb im Scherz: O, mein Lieber, du hast mich mit einem ernsten Fall von Maritha und Mariko infiziert, oder: Ich empfinde Maritha und Mariko für dich, meine Liebe – was sagst du dazu?
Für die Einwohner von Eldares, vor allem für die aus Santalucia, wurde die Geschichte von Maritha und Mariko und ihres heldenhaften Kampfes gegen den Satan der Wollust wichtiger als die Ankunft der Global-Bank-Delegation zur Prüfung der Finanzierbarkeit von Marching to Heaven. Wie ein einfacher Mann und eine einfache Frau sich dem mächtigen Satan entgegenstellten, an dieser Geschichte entzündete sich ihre Phantasie, und sie waren begierig darauf zu erfahren, wie alles enden würde.