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Die vierte Theorie behauptete, seine Krankheit habe ihren Ursprung in den ungeweinten Tränen, die Rachael, seine rechtmäßige Frau, in ihrer Seele verschlossen hatte, seit sie bei ihm in Ungnade gefallen war.
Der Herrscher und seine Frau hatten sich eines Tages entzweit, als Rachael ihn nach den Schulmädchen fragte, die Gerüchten zufolge häufig ins State House gebeten wurden, um ihm das Bett zu bereiten, in dem er sich dann wie ein „alternder Weißer“ an den jungen Küken erfreute. Selbstverständlich würde der Herrscher niemals zugeben, dass er alterte. Der Vergleich mit dem Weißen dagegen bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten und so änderte er die Aussage dahingehend, dass ein Weißer seine Jugend mit jungen Küken erneuert. Man stelle sich vor, wie er sich gefühlt haben muss, als Rachael ihm diesen Jungbrunnen verbieten wollte! Wie taktlos und ungeschickt von ihr, das Unfragbare zu fragen! Seit wann konnte einem Mann, einem Herrscher zudem, das Recht abgesprochen werden, sich zwischen den Schenkeln einer Frau seinen Weg zu bahnen, seien es nun Schulmädchen oder die Ehefrauen anderer Männer? Was für eine Witzfigur gäbe er ab, wenn er auf sein Recht verzichtete, alle Frauen im Land zu begatten nach Art der Gebieter des Alten Europa, denen das „droit de seigneur“ das Vorrecht auf jede Braut gewährte?
Rachael dachte, sie verhielte sich angemessen. „Ich weiß“, sagte sie, „du nimmst den Titel Vater der Nation ernst. Du weißt, dass ich mich nie über die Frauen beschwert habe, die dir das Bett machen, egal wie viele Kinder du mit ihnen zeugst. Aber warum jetzt Schulmädchen? Sind sie nicht gerade erst so alt wie die von dir gezeugten Kinder? Sind sie denn nicht auch unsere Kinder? Heute zeugst du sie und morgen machst du sie zu deinen Gespielinnen? Weinst du keine Tränen aus Sorge um unsere Zukunft?“
Sie aßen im State House zu Abend und für Rachael war dieser Abend etwas Besonderes, weil sie zum ersten Mal seit langem allein waren. Die Last, einer ganzen Nation vorzustehen, erlaubte ihnen kaum, jemals gemeinsam zu speisen und ein Gespräch als Ehepaar zu führen. Rachael glaubte an das Sprichwort „Kleider machen Frauen“, und deshalb hatte sie an diesem Abend besondere Sorgfalt auf ihr Aussehen verwandt. Sie trug ein weißes Baumwollkleid mit tiefem V-Ausschnitt und kurzen, plissierten Ärmeln, eine Kette, die ihren schlanken Hals zur Geltung brachte, Ringe an den Fingern, und die von ihren zarten Ohren herabhängenden Diamanten ließen sie in funkelndem Glanz erstrahlen.
Wir können uns die Szene genau vorstellen: Die Gabel des Herrschers war zielsicher auf ihrem Weg zum Mund und er gerade dabei, sich einen Bissen Hühnchenfleisch zu genehmigen, als bei Rachaels Worten die Gabel auf halber Strecke in der Luft stehen blieb. Langsam ließ er sie auf den Teller zurücksinken, das Hühnchenfleisch lag noch darauf, nahm die Serviette und wischte sich bedächtig die Lippen. Bevor er die Serviette zurücklegte, wandte er sich an seine Frau und fragte: „Rachael, habe ich richtig gehört, dass du mir vorwirfst, ich hätte mich Schulmädchen aufgedrängt? Dass ich keine Tränen der Sorge über unsere Zukunft vergieße? Hast du jemals von einem Herrscher gehört, der weint? Vielleicht einmal abgesehen von diesem … ach, reden wir nicht weiter über ihn. Und was haben ihm seine täglichen Tränen im erwachsenen Mannesalter gebracht? Er hat den Thron eingebüßt. Willst du etwa, dass es mir ergeht wie ihm?“
Natürlich besteht immer ein Unterschied zwischen einem Gedanken und seiner Beschreibung. Was dem Herrscher tatsächlich durch den Kopf ging, als er die Gabel auf den Teller legte und sich mit einer Ecke der Serviette den Mund tupfte, war nicht etwa das Schicksal eines anderen, der geweint und so seinen Thron verloren hatte, sondern vielmehr, wie er es anstellen sollte, Rachael begreiflich zu machen, dass er, der Herrscher, über Macht verfügte, wirkliche Macht über alles und jeden, einschließlich … ja, tatsächlich … sogar über die Zeit. Ihn schauderte bei diesem Gedanken. Doch noch bevor dieser Schauder ihn vollständig erfasst hatte, stand sein Entschluss fest.
Mit gekünstelter Ruhe und einem matten Lächeln teilte er Rachael mit, dieses unvollendete Essen sei ihr letztes gemeinsames, er sage sich augenblicklich von ihr los, um ihr Zeit zu geben, über die Ungeheuerlichkeiten ihrer Behauptungen nachzudenken. Und weil sie einen Ort brauche, an dem sie in sich gehen könne, wolle er wahr machen, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Auch für Sünderinnen.
Auf einem drei Hektar großen Landstück ließ er für sie ein Haus errichten, umgeben von einer Steinmauer und einem Elektrozaun; und während er nachdenklich die unüberwindbaren Mauern betrachtete, kam ihm die Idee für ein Bauwerk in den Sinn, das in seiner Vorstellung bis in den … Doch darüber sollten wir später berichten, weil dieser Gedanke von einem seiner treuesten Minister, der ihn vorbehaltlos bewunderte, aufgegriffen wurde. Was jedoch zweifellos Produkt seines eigenen Genies war, sowohl in der Planung als auch in der Ausführung, war der Bau dieses Hauses für Rachael.
Alle Uhren in diesem Haus wurden exakt auf die Sekunde, Minute und Stunde eingestellt, in der Rachael die Frage nach den Schulmädchen gestellt hatte. Die Kalender im Haus wiesen genau diesen Tag, den Monat und das Jahr aus. Die Uhren schlugen, aber die Zeiger bewegten sich nicht. Und der mechanische Kalender sprang immer wieder auf dieses Datum. Das Essen, das ihr aufgetischt wurde, war das gleiche wie bei ihrem letzten Abendessen, die Kleider dieselben, die sie an jenem Abend getragen hatte. Bettbezüge und Vorhänge glichen denen in dem Haus, in dem sie zuvor gewohnt hatte. Radio und Fernseher wiederholten die Sendungen, die zur Zeit des Abendessens ausgestrahlt worden waren. Alles in diesem neuen Haus war eine getreue Nachbildung eben jenes Augenblicks.
Der Plattenspieler war so eingestellt, dass er unablässig eine einzige Hymne abspielte:
Unser Herr kehrt eines Tages wieder
Und führt uns in sein Himmelreich
Dann werd ich wissen, wie sehr er mich liebt
Wenn er eines Tages wiederkehrt
Und wenn er wiederkehrt
Werdet ihr Gottlosen zurückgelassen
Und eure gottlosen Taten beweinen
Wenn unser Herr eines Tages wiederkehrt
Der Gedanke, diese Hymne endlos wiederholen zu lassen, gefiel ihm so gut, dass er in allen vier Ecken des drei Hektar großen Anwesens Verstärker und Lautsprecher aufstellen ließ, damit auch Passanten von der Musik und dem Text profitierten.
Rachael sollte dort auf seine Wiederkehr warten. Erst an dem Tag, an dem er feststellte, dass sie alle Tränen für die Zukunft der Kinder vergossen hatte, die zu missbrauchen sie ihn beschuldigt hatte, erst an dem Tag würde er sie wieder zu sich nehmen und das Leben mit ihr genau an dem Punkt neu beginnen, an dem es angehalten worden war. Und Rachael würde ihr Leben, das auf der Stelle getreten war wie ein Standbild im Film, wieder aufnehmen. Ich bin dein Anfang und dein Ende.
„Was bist du gewesen, bevor ich dich zur Frau nahm?“, fragte er und gab selbst die Antwort: „Grundschullehrerin. Ich bin die Vergangenheit und die Gegenwart, die du gewesen bist.“ Und er fügte, während er sich umdrehte und entfernte, noch hinzu: „I am your tomorrow, take it or leave it.“
Das Gefängnis verfügte über nur einen Eingang. Am Steintor war eine bewaffnete Wache postiert, die darauf achtete, dass Rachael ihr Gefängnis weder verließ noch Besucher empfing – mit Ausnahme der Angestellten, die die Vorräte auffüllten und zugleich als Spione arbeiteten, oder aber ihrer Kinder.
Ihrer Kinder? Abgesehen von den zahllosen anderen Kindern, die er mit seinen jungen Bettgefährtinnen gezeugt hatte, hatte er vier Söhne mit Rachael. Im Unterricht gehörten sie nicht gerade zu den Hellsten, und er hatte sie vor ihrem Abschluss von der Schule genommen und in die Armee gesteckt, damit sie ihr Handwerk von Grund auf lernten. Dort waren sie schnell zu höchsten Dienstgraden aufgestiegen. Zu Beginn der eingefrorenen Gegenwart ihrer Mutter war Rueben Kucera, der älteste Sohn, Drei-Sterne-General im Heer; Samwel Moya, der Zweitgeborene, Zwei-Sterne-General bei der Luftwaffe; Dickens Soi, der dritte, Ein-Sterne-General der Marine; und der jüngste, er hieß Richard Runyenje, war Hauptmann im Heer. Neben ihren militärischen Verpflichtungen waren sie im Aufsichtsrat verschiedener halbstaatlicher Organisationen, die allesamt eng mit ausländischen Firmen verflochten waren, besonders mit denen, die mit der Erschließung von Erdölvorkommen und dem Abbau von Edelmetallen zu tun hatten. Außerdem saßen sie in mehreren Kontrollräten. Dort bestand ihre Hauptaufgabe darin, alle gegen die Regierung gerichteten Pläne in den drei Waffengattungen der Armee auszuspionieren und Schmiergelder entgegenzunehmen. Das einzige Problem war, dass alle vier dermaßen dem Alkohol und Drogen verfallen waren, dass es ihnen schwerfiel, sich darüber auf dem Laufenden zu halten, was in der Armee oder den Aufsichtsräten überhaupt vor sich ging. Der Herrscher war darüber ziemlich enttäuscht, denn er hatte gehofft, zumindest einer ihrer gemeinsamen Söhne käme für den Thron in Frage und würde eine mächtige Familiendynastie begründen. Deshalb schimpfte er oft mit ihnen wegen ihres mangelnden Ehrgeizes und fehlenden Machthungers. An den Tagen aber, an denen sie ihre gesammelten Informationen bei ihm ablieferten, herrschte stets die festliche Stimmung einer Familienfeier.
Das Leben ihrer Mutter in dem Drei-Hektar-Käfig erschien ihnen nicht als besonders strenge Haft, und wenn sie nicht gerade zu betrunken waren, riefen sie bei ihr an, um zu fragen, wie es ihr gehe. Denn Rachael konnte zwar Gespräche entgegennehmen, selbst jedoch niemanden anrufen. Und wenn sie ihnen antwortete, es gehe ihr gut, nahmen sie das wörtlich und widmeten sich schleunigst wieder den Dingen, mit denen sie sich am besten auskannten: Alkohol, Drogen und Bestechungsgelder.
Tatsächlich legten die Söhne durch ihre Anrufe – auch wenn das nur ab und zu geschah – mehr Menschlichkeit an den Tag als ihr Vater, der sie nicht ein einziges Mal besuchte, um im Guten oder im Bösen ein Wort mit ihr zu wechseln. Trotzdem beschäftigte sich der Herrscher in Gedanken ständig mit Rachael. Täglich erhielt er Berichte über ihre Stimmungen und Unternehmungen, womit sie ihre Tage verbrachte, wie sie schlief, den Inhalt ihrer Selbstgespräche, einfach über alles.
Wonach er sich sehnte, waren Berichte über Tränen, ein untrügliches Zeichen für ihren nahen Zusammenbruch und ihren Wunsch nach Erlösung. Aber die bekam er nicht. Und die Anhänger der vierten Theorie behaupteten, Rachael hätte sich in Kenntnis seines unersättlichen Hungers, diejenigen, die bereits am Boden lagen, noch mehr zu demütigen, geschworen, dass er ihre Tränen niemals zu sehen bekommen oder von ihnen erfahren werde, auch nicht durch ihre Kinder oder die zahlreichen Spione. Und je länger sie standhielt, desto mehr gierte er nach ihrer Unterwerfung. Ihre Tränen waren zum Schlachtfeld ihrer beider Willenskräfte geworden.
Diese Besessenheit von dem Wunsch, sie weinen zu sehen, führte, wie die Urheber der vierten Theorie meinten, zu der seltsamen Krankheit des Herrschers.
Das Problem mit dieser Theorie bestand darin, dass sie entweder auf bloßen Gerüchten aufbaute oder sich aus dem ableitete, was man aus dem Verhalten der Kinder des Herrschers glaubte schließen zu können.
Es war zugleich die am wenigsten bekannte der fünf Theorien, da sie nur im Flüsterton an Vertraute weitergegeben wurde. Denn wer war schon so dumm, öffentlich über derlei Dinge zu sprechen. Es sei denn, er liebäugelte mit dem Tod.