18

Nach Arbeitsschluss bat Nyawĩra Vinjinia, sie ausnahmsweise zur Bushaltestelle mitzunehmen. Sie wollte jede mögliche Begegnung mit Kaniũrũ vermeiden und so früh wie möglich zu Hause sein.

Auf der Busfahrt waren ihre Gedanken bei Kamĩtĩ. Sie erinnerte sich, wie sie sich in Tajirikas Büro zum ersten Mal begegnet waren; wie sie mit ihm gefühlt hatte, als er erzählte, über drei Jahre vergeblich nach Arbeit gesucht zu haben; wie sie seine Demütigung durch den herzlosen Tajirika miterlebt hatte; wie A.G. sie später durch das Grasland gejagt und wie sie – am Rande körperlicher Intimität – die ganze Nacht hindurch vertraut geredet hatten.

Inzwischen sprachen sie kaum noch über jenen Augenblick, nicht einmal im Scherz, noch waren sie in Versuchung geraten, ihn zu wiederholen. Andererseits war sie mit Kamĩtĩ im Reinen und von sich selbst überrascht, ihm ihr Herz geöffnet zu haben. Zwar war sie vorsichtig, was Einzelheiten der Bewegung anging: ihre Mitglieder, ihre Führung, ihre Pläne, doch spürte sie gleichzeitig, dass sie alle persönlichen Dinge offen mit ihm besprechen konnte. Er war anders als die meisten Männer, denen sie begegnet war. Er hatte keine festgefahrene Vorstellung, welchen Platz Frauen in der Welt einzunehmen hatten. Sie fühlte sich ihm nahe, obwohl sie die Frage quälte, wer Kamĩtĩ tatsächlich war.

Nyawĩra glaubte nicht an Weissagungen, Prophezeiungen oder die Macht von Zaubertränken, die Herzen und Seelen verwandelten. Sie glaubte nicht an eine materielle Existenz Gottes und böser Geister. Die Menschen schufen sich durch ihre Taten ihren eigenen Himmel oder ihre eigene Hölle. Wenn sie grausam gegen sich selbst oder gegen andere waren, fachten sie lediglich das Feuer einer Hölle an, die sie selbst geschaffen hatten, ein schreckliches Vermächtnis für diejenigen, die nach ihnen kamen. Auf der anderen Seite waren gute Taten ein wertvolles Erbe für künftige Generationen. Sie selbst ließ sich von dem einfachen Grundsatz leiten: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Trotzdem hatte Kamĩtĩ ihre Skepsis gegenüber magischen Riten ins Wanken gebracht. Wie konnte er anderen in die Seele schauen? Wen sahen A.G., der alte Mann und jetzt Tajirika in ihm? Wie war es möglich, dass sich Tajirika ohne das geringste Anzeichen des Bedauerns von drei Geldsäcken trennte? Sie wusste, wie sehr Tajirika Geld anbetete und liebte.

Auch sie musste zugeben, dass Kamĩtĩ ihr Leben berührt hatte. Sie konnte nicht genau sagen wodurch, aber seit sie ihm begegnet war, sah sie das Leben anders. Es war, als gäbe ihr seine bloße Gegenwart einen Grund zu lächeln, selbst angesichts der Skandale und Grausamkeiten des Staates. Sie war stolz auf ihn, wie er Tajirika und Vinjinia behandelt hatte. In seinem Verhalten lag keinerlei Groll, keine Rachelust einem gefallenen Gegner gegenüber. Es sei denn, man wollte es als Rache bezeichnen, dass er Tajirika um die Geldsäcke erleichtert hatte. Während Kamĩtĩ Tajirika zu seiner Erkrankung befragte, hatte sich auch in ihr eine Vorstellung von der Natur dieser Gebrechen herausgebildet, und sie hatte das Gefühl gehabt, als würde Kamĩtĩ sie als Krankheit sehen, die unter den Reichen und Gebildeten von Aburĩria weit verbreitet war. Vielleicht erklärte das zum Teil auch, was mit der Führung des Landes falsch lief und die unglaublichen Wendungen, die das Land seit der Unabhängigkeit durchlaufen hatte.

Ohne es sich eingestehen zu wollen, fühlte sie, wie eine unbestimmbare Wärme ihr ganzes Wesen durchströmte und ihr Herz vor Erwartung höher schlagen ließ, wenn sie an Kamĩtĩ dachte. Aber welche Erwartung? Sie war sich nicht sicher; als sie aus dem Bus stieg und über die Straße ging, wusste sie lediglich, dass er ihr fehlte. Sie waren erst an diesem Morgen auseinandergegangen, aber es kam ihr vor, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

Im Einkaufszentrum von Santalucia entschied sie, wie sie diesen Abend mit ihm feiern wollte. Sie würde kochen. Sie kaufte etwas Reis, zartes Hammelfleisch, verführerisch reife Tomaten, feine Petersilie und zwei Kerzen. Immer wieder malte sie sich aus, wie dieser Abend verlaufen würde. Sie würde kochen, dann würden sie einander am Tisch gegenübersitzen und die Füße zusammenstecken, sie würden am Feuer hocken, sich unterhalten und sich am Spiel der Schatten an der Wand erfreuen. Beim Gedanken an dieses Beisammensein wurde ihr schwindelig. Ihr war nach Singen zumute, aber ihr fiel keine Melodie ein.

In den vergangenen Tagen hatte sie versucht, früh nach Hause zu kommen, um die abendliche auf den Zauberer wartende Schlange zu vermeiden; diese Männer, die mit der Macht des Bösen ausgestattet werden wollten. Kamĩtĩ und sie hatten dadurch mit Ausnahme der Zeit nach Mitternacht kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden. In den letzten Tagen war die Schlange zwar zunehmend dünner und kürzer geworden, dennoch würden die wenigen, die heute Abend auftauchten, ihrem Abendessen bei Kerzenschein in die Quere kommen. Das erregte ihren Trotz: Sie würde sich von denen nicht den Abend ruinieren lassen.

Viermal klopfte sie an die Tür, ihr geheimes Zeichen. Lächelnd wartete sie, dass er öffnete. Schließlich wurde sie ungeduldig und drehte am Knauf. Die Tür war verschlossen. Vielleicht lag er in der Badewanne. Sie schloss auf, blieb stehen und wartete auf ein Lebenszeichen aus dem Haus. Dann schaute sie überall nach und bemerkte, dass auch Kamĩtĩs Tasche nicht mehr da war. Erschöpft ließ sie sich aufs Bett sinken. Wo war Kamĩtĩ? Wohin war er verschwunden?

Herr der Krähen
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