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Unter all den Fällen, die er behandelt hatte, sollte Kamĩtĩ später rückblickend sagen, gehörte Tajirikas zu den schwierigsten. Normalerweise ergründete Kamĩtĩ, wenn er als Wahrsager arbeitete, das Problem eines Klienten anhand der Art und Weise, wie dieser auf seine Fragen antwortete. Tajirika konnte aber keine Fragen beantworten. Es war, als wäre er taub, als weilte seine Seele in einer anderen Welt und misstraute derjenigen, in der er sich gerade befand. Es war unbefriedigend, aber Kamĩtĩ flüsterte immer wieder vor sich hin: Um einen Patienten zu retten, legt man die eigene Ungeduld in Ketten!
Der Herr der Krähen bat Vinjinia, sich neben ihren Mann zu setzen. Das verblüffte sie, denn sie hatte immer geglaubt, ein Zauberer verkünde seine Weissagungen, ohne vorher Fragen zu stellen. Sie war nicht erpicht darauf, die peinlichen Einzelheiten von Tajirikas Geschichte preisgeben zu müssen. Ein paar Dinge werde ich weglassen, dachte sie. Doch im selben Augenblick hörte sie, wie der Herr der Krähen ihren Gedanken laut wiederholte. Nichts weglassen, warnte sie der Herr der Krähen und sah ihr in die Augen. Wenn sie seine Hilfe wolle, müsse sie ihm die ganze Wahrheit erzählen, sagte er sanft, aber bestimmt. Wie schnell dieser Zauberer meine Gedanken erraten hat, dachte sie ein wenig eingeschüchtert und erzählte ihre Geschichte weitgehend offen und ehrlich.
Sie berichtete, wie Tajirika eines Abends mit drei Säcken Burĩ-Scheinen nach Hause gekommen war, wie er sich an den Wohnzimmertisch gesetzt und das Geld Schein für Schein gezählt, Zwischensummen aufgeschrieben hatte und alle Augenblicke vor lauter Freude aufgesprungen war. Er hatte sie zu sich gerufen, damit sie ihm Gesellschaft leistete, während er addierte. Und er hatte ihr gesagt, dies sei nur der Anfang besserer Zeiten. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie Tajirika sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Füße auf den Tisch gelegt und wie in Trance immer wieder gesagt hatte: „Das ist erst der Anfang“, „das ist erst der Anfang“. Immer wieder.
„Meine liebe Vinjinia, du hast keine Ahnung“, hatte er gesagt. „Heute Morgen ist meine Ernennung zum Vorsitzenden von Marching to Heaven bekannt gegeben worden, und bereits am Abend gehört mir das alles hier. Die nächsten Tage werden noch mehr Geld bringen, weil noch viel mehr Leute vorbeikommen werden. Wenn mir nur ein einziger Tag so viel einbringt, obwohl Marching to Heaven noch nicht einmal begonnen hat, wird sich mein Geld zu riesigen Bergen auftürmen, sobald die Global Bank ihre Kredite freigibt und der Bau wirklich beginnt. Und wenn alles erledigt ist, bin ich der reichste Mann in Aburĩria, der reichste Mann in ganz Afrika, vielleicht der reichste Mann auf der ganzen Welt, und ich werde in der Lage sein, mir alles leisten zu können, was ich nur will, außer … außer …“, und in genau diesem Augenblick erfasste ihn ein heftiger Hustenanfall und er brachte den Gedanken nicht mehr zu Ende. Er lief wie von Sinnen ins Bad und blieb sehr lange dort. Vinjinia erzählte, welche Sorgen sie sich gemacht hatte, und wie sie schließlich ins Bad gegangen war, um nach ihm zu sehen. Dort hatte sie ihn vor dem Spiegel gefunden, wie er immer wieder das Wort „wenn“ vor sich hin sprach. Tag um Tag ging das so weiter, und schließlich hatte sie alle Spiegel im Haus entfernt. Tajirikas Anfälle seien im Laufe der Zeit immer schlimmer geworden, und inzwischen sitze er nur noch da und starre vor sich hin. So, wie ihn der Zauberer jetzt vor sich sehe … „Das ist alles“, sagte sie dann ziemlich abrupt.
Nyawĩra verglich diese Version der Geschichte mit der, die Vinjinia ihr im Büro erzählt hatte und entdeckte einige aufschlussreiche Abweichungen. Von Tajirikas Besessenheit, der reichste Mann in Aburĩria, in Afrika und der ganzen Welt zu werden, hatte Vinjinia damals nichts gesagt. Auch hatte sie nicht erwähnt, dass Tajirikas „Wenn“-Anfälle an genau dem Abend begonnen hatten, an dem er das Geld mit nach Hause gebracht und gezählt hatte. Sie hatte ihr erzählt, die „Wenns“ hätten erst am nächsten Morgen angefangen.
Vinjinia wartete mit klopfendem Herzen auf eine Antwort des Herrn der Krähen. Eigentlich hatte sie ihm alles berichten wollen, es dann aber nicht über sich gebracht zu erzählen, wie Tajirika sich das Gesicht zerkratzte – der eigentliche Grund für die Entfernung der Spiegel.
„Hast du mir die ganze Wahrheit gesagt?“, fragte der Herr der Krähen.
„Ja“, antwortete Vinjinia. Er mochte ja fähig sein, die Krähen vom Himmel zu zwingen, aber auf keinen Fall konnte er wissen, was sie ausgelassen hatte, dachte sie sich.
„Es spielt auch keine Rolle“, sprach der Herr der Krähen jetzt. „Mein Zauberspiegel wird mir offenbaren, was du ungesagt gelassen hast. Jetzt dreh sein Gesicht in diese Richtung und zwinge ihn, in diese Öffnung zu schauen.“
Wieder spürte Vinjinia, wie ihr Herz raste. Woher wusste er, dass sie nicht alles gesagt hatte? Vielleicht sollte ich gestehen … Aber bevor sie diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, war das Gesicht des Herrn der Krähen in der Öffnung bereits durch einen Spiegel ersetzt worden.
Die Wirkung des Spiegels auf Tajirika war unmittelbar. Er erwachte wie aus einem Traum, starrte hinein und begann sich im Gesicht zu kratzen. Vinjinia stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Sie taumelte, packte ihn an der Taille und wollte ihn vom Spiegel wegziehen. Tränen liefen über ihr Gesicht, eine Mischung aus Angst um ihn und das peinliche Eingeständnis, dem Herrn der Krähen nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben. Tajirika setzte die Füße fest auf den Boden und streckte die Hände nach dem Spiegel aus. Vinjinia rang vergeblich mit ihrem Mann. Seine Hände blieben zum Spiegel hingestreckt und er stöhnte immer wieder: „Wenn! Wenn ich bloß!“
Wenn nicht offensichtlich etwas mit Tajirika gewesen wäre, Nyawĩra wäre in Lachen ausgebrochen. Die ganze Szene erinnerte sie an Cartoons aus dem Fernsehen. Als der Herr der Krähen den Spiegel wegnahm, fielen Ehemann und Ehefrau auf den Boden, als ob Tajirika von einem Bann befreit wäre. Nachdem sie sich aus seiner Umklammerung gelöst hatte, gelang es Vinjinia, ihn wieder auf den Stuhl zu setzen. Sie keuchte vor Anstrengung, und Tajirika weinte ungehemmt wie ein Kind, dem man das Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Und während er nach Luft rang, wiederholte er: „Wenn! Wenn! Wenn!“
„Es tut mir leid, ich vergaß, Ihnen zu sagen, dass er sich fortwährend kratzt“, sagte sie verzagt zum Herrn der Krähen. „Dieses Weinen aber ist etwas völlig Neues“, fügte sie hinzu.
„Lass dich davon nicht beunruhigen.“
Sie war erleichtert. Der Herr der Krähen zeigte Verständnis und machte ihr wegen der Auslassung keinen Vorwurf. Umso stärker fühlte sie sich dadurch zu ihm hingezogen und gab sich Mühe, ihm jedes Wort von den Lippen zu lesen.
Der Herr der Krähen begann zu reden, als führte er in ihrer Gegenwart ein Selbstgespräch. Seine Stimme war voll und sanft, beschwichtigte und fing den Zuhörer ein. Auch Nyawĩra fühlte ihr Herz zu der Stimme hingezogen, als hätte sie sie nie zuvor gehört. Vinjinia kam die Stimme besonders machtvoll vor, weil sie körperlos war. Sogar Tajirika reagierte auf ihren besänftigenden Ton und beruhigte sich langsam, und zum ersten Mal seit Langem schien er jemandem zuzuhören. Vinjinia blieb diese Veränderung nicht verborgen und war der geheimnisvollen Stimme umso dankbarer.
„… und an dieser Stelle sind wir Wahrsager gefragt“, fuhr der Herr der Krähen fort, als würde er weiter mit Vinjinia reden. „Wörter sind Nahrung, Leib, Spiegel und Klang des Denkens. Erkennst du die Gefahr, die in Wörtern liegt, die herauswollen, aber nicht können? Du möchtest dich übergeben, aber das ganze Zeug bleibt dir in der Kehle stecken – du könntest daran ersticken. Die Krankheit deines Gatten ist noch nicht todbringend, weil ihre Heilung nicht außerhalb unserer Macht steht. Eine Krankheit zu erkennen, ist der erste Schritt zur Genesung, und ich bin überzeugt, das Problem deines Mannes liegt in der Differenzierung seiner ‚Wenns‘. Sie beschreiben negative und positive Wünsche. Die Gedanken deines Mannes stecken in seinem Kopf fest. Seine Wünsche können weder erfüllt noch verweigert werden. Sie sind Wortsplitter, die ihm im Hals stecken geblieben sind. Seine Feinde sitzen in ihm selbst und wollen ihn mit seinen unausgesprochenen Wünschen ersticken …“
Vinjinia spürte eine Mischung aus Furcht und Erstaunen.
„Und was wollen wir jetzt dagegen unternehmen?“, fragte sie den Herrn der Krähen.
„Für die Weissagung berechne ich nichts, aber für die Heilung muss man unter Umständen tief in die Tasche greifen.“
„Wie viel wird es kosten, diese Gedanken zu befreien?“
„Wie viel ist sein Leben wert?“, stellte der Herr der Krähen die Gegenfrage. Als Kamĩtĩ hatte er beschlossen, zwar keine Rache zu nehmen, Tajirika aber ganz bestimmt um die drei Säcke Bestechungsgeld zu erleichtern.
„Es gibt nichts, was ich nicht geben würde, um ihn von dem zu befreien, was ihn innerlich tötet. Herr der Krähen! Räuchern Sie seine Feinde aus! Treiben Sie sie bis vor die Tore der Hölle!“
„Nun, es liegt ganz an dir zu entscheiden. Der Fluch liegt auf dem Geld, das er erhalten hat. Bring die drei Säcke mit den Burĩ-Scheinen, damit wir herausfinden können, wo sich das Böse versteckt. Geh nach Hause und denk darüber nach. Komm morgen wieder, oder wann immer du willst. Dann können wir über meinen Lohn für die Befreiung deines Manns von seinen Wünschen reden.“
Vinjinia war von der Glaubwürdigkeit des Zauberers überzeugt, doch dass er aussprach, was sie selbst gedacht hatte, das Böse stecke in den Geldsäcken, ließ sie noch mehr an seine Kräfte glauben.
Sie wollte Tajirika sofort, noch an diesem Morgen, geheilt sehen und versprach, mit den drei Geldsäcken wiederzukommen, ja noch mehr mitzubringen, um zu bezahlen, was er für die Ausrottung des Bösen verlangte.
Der Herr der Krähen forderte sie auf, ihren Patienten mitzunehmen und zurückzukehren, noch bevor andere Klienten kämen. Besser noch wäre, sie ließen die junge Frau hier zurück, um den Platz freizuhalten. Er sei ein Heiler mit dem Motto: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.