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Sie liefen am Ufer des Eldares entlang, bis sie an einen Wasserfall gelangten, und Kamĩtĩ war freudig überrascht, als er den Ort erkannte, zu dem er einst Nyawĩra geführt hatte. Nur hatte diesmal sie die Führung übernommen. Überhaupt war der Unterschied zwischen dem früheren Ausflug und dem jetzigen vor allem an ihrer Person wahrnehmbar. Damals war sie die Schülerin und er der Lehrer gewesen. Jetzt waren sie beide Schüler und Lehrer zugleich.

„Wann hast du das alles gelernt?“, fragte Kamĩtĩ sie an einem anderen Tag, als sie wieder unter dem Baum am Wasserfall saßen. Die Wunde heilte gut und schnell, und er hatte sogar den Verband abgenommen; er konnte die linke Hand besser bewegen und fühlte sich insgesamt stärker, kräftiger und ermutigt.

„Du solltest mich mit Lob überschütten, weil ich eine gute Schülerin war. Glaubst du etwa, ich hätte nicht aufgepasst? Denk dran, dass ich bis zur Brandstiftung der zweite Herr der Krähen war“, erklärte Nyawĩra.

„Und dann wurdest du die Hinkende Hexe?“

„Was soll das heißen? Dass eine Hinkende Hexe weniger mächtig ist als ein Herr der Krähen? Ich fordere dich zum Wettstreit heraus.“

„Wie soll der aussehen?“

„Siehst du den Vogel da drüben auf dem Baum? Bring ihn mit deinen Zauberkäften dazu, dass er auf dem Boden landet. Na los.“

Kamĩtĩ versuchte es mit verschiedenen Melodien in unterschiedlichen Tonhöhen und Rhythmen, die er hin und wieder mit einem „tschilp, tschilp, tschilp“ unterbrach. Der Vogel schien zu ihm herüberzusehen, flog dann auf und ließ sich auf einem Baum nieder, der etwas näher stand. Das ermutigte Kamĩtĩ und er versuchte es weiter, doch diesmal blieb der Vogel seinem Rufen gegenüber gleichgültig.

„Verloren“, sagte sie.

„Nein, nein“, protestierte Kamĩtĩ. „Er ist näher gekommen.“

„Aber du hast es nicht geschafft, dass er auf dem Boden landet.“

„In Ordnung. Du bist dran“, sagte Kamĩtĩ.

Nyawĩra kramte in ihrer Tasche, nahm ein Stück Brot aus ihrem Lunchpaket heraus, murmelte, während sie es zerkrümelte, ein paar Beschwörungen und warf die Brocken auf den Boden. „Ich befehle dir herunterzukommen“, rief sie. Der Vogel landete, gefolgt von anderen, auf dem Boden und suchte im Gras nach den Krumen.

Nyawĩra lachte triumphierend.

„Willst du damit sagen, dass die Magie, die ich dich gelehrt habe, nur Tricks sind?“, fragte Kamĩtĩ.

„Das bedeutet, dass die Schülerin ihren Lehrer überflügelt hat und dieser seine Niederlage mit Würde eingestehen sollte.“

„Du weißt, dass ein erfolgreicher Schüler seinem Lehrer ein Geschenk der Dankbarkeit schuldet“, sagte Kamĩtĩ.

„Was wünscht du dir als Geschenk?“

„Deinen Daumen.“

„Was meinst du damit?“

Er erzählte ihr die Geschichte von Drona und Ekalaivan.

„Du meinst, den Armen selbst das Wenige zu nehmen, was sie besitzen, hat eine lange Geschichte?“, fragte sie.

„Keine Politik. Ich will deinen Daumen“, entgegnete Kamĩtĩ und versuchte, sie mit der rechten Hand zu Boden zu drücken.

Nyawĩra befreite sich aus seinem lockeren Griff und rannte fort. Kamĩtĩ konnte nicht rennen, deshalb ging er und suchte sie unter Sträuchern und Büschen und sogar in den Baumwipfeln. Etwas später entdeckte er ihre Kleider auf dem Boden. Er rief ihren Namen, und als er keine Antwort erhielt, bekam er es mit der Angst zu tun.

Ein Stück flussabwärts hörte er ein Pfeifen. Ihr Anblick ließ ihm das Herz klopfen. Sie badete im Fluss. Schön. Strahlend. Anmutig. Herrlich. Er spielte mit diesen Worten, aber keines beschrieb, was seine Augen sahen, als er sie mitten im Schilf entdeckte.

„Komm, hol dir deinen Daumen. Oder hast du Angst vor meinen Kräften?“

Schnell hatte er seine Kleider ausgezogen und war bei ihr. Sie schwammen nicht. Sie bespritzten einander mit Wasser. Sie schrubbten sich gegenseitig den Rücken – nein, eigentlich nicht, sie strichen darüber. Schließlich fanden sie einander am Ufer im grünen Gras im Schatten eines Busches.

Wegen Kamĩtĩs Narbe mussten sie behutsam sein. Sie waren sanft, tasteten, suchten, aber schließlich spürten sie ihre Körper aufsteigen, vergaßen die Narbe und ließen sich in einem Fluss über eine wunderschöne Hochebene treiben. Der Fluss strömte langsam dahin, fast lautlos, bis auf das leichte Schlagen und Schäumen des Wassers an das Ufer. Und danach fühlte sich Kamĩtĩ, als wäre der Unrat, der an seinem Körper und seiner Seele klebte, seit sie sich zuletzt getrennt hatten, abgewaschen worden. Er roch den Duft frischer Blumen. Er schaute sie dankbar an, doch war sie es, die das Wort aussprach.

„Danke“, sagte sie sanft.

Herr der Krähen
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