5
Kaniũrũ war als Arbeiter verkleidet zum Schrein gegangen, in einem ölverschmierten blauen Overall und einer Baseballkappe mit dem verblassten Logo eines amerikanischen Unternehmens.
Er hatte seinen Mercedes einen Kilometer entfernt geparkt und war den Rest zu Fuß gegangen. Er hatte niemandem auch nur ein Wort von dem geplanten Besuch erzählt, und erst als er Santalucia erreicht hatte, erlaubte er sich, nach dem Weg zu fragen. Er hatte es so eingerichtet, dass er in den frühen Abendstunden bei Einbruch der Dunkelheit im Schrein ankam. Kein anderer Kunde wartete. Eine Frau nahm ihn schweigend in Empfang und führte ihn ins Wartezimmer. Ein paar Minuten später war die Frau zurück und brachte ihn – wieder ohne ein Wort – in das Beratungszimmer. Dort ließ sie ihn allein. Er war erleichtert, weil sie ihn nicht nach persönlichen Dingen gefragt hatte, und fühlte sich jetzt, da niemand seinen Namen kannte, in seiner Tarnung sicherer. Er wollte dem Herrn der Krähen einen falschen Namen nennen und sich eine Geschichte ausdenken.
Durch ein winziges Fenster in einer Wand erblickte Kaniũrũ den Herrn der Krähen, der einen kleinen Spiegel in der linken Hand hielt. Der Zauberer schien darin wie in einem Buch zu lesen und hob nicht einmal den Blick, als er jetzt zu dem Bittsteller sprach.
„Du wohnst in Eldares“, stellte der Herr der Krähen fest.
„Ja“, bestätigte John Kaniũrũ.
„Und du möchtest nicht, dass jemand erfährt, dass du meinen Schrein aufgesucht hast.“
„Ja. Das stimmt.“
„Nicht einmal deine Vorgesetzten wissen, dass du hier bist.“
„Richtig.“
„Haben deine Arbeit oder dein Name etwas mit Geruch zu tun?“
Diese Frage brachte Kaniũrũ aus der Fassung, und er zögerte einige Sekunden, bevor er antwortete. Sie kam seinem Namen so nahe, dass es keinen Sinn hatte zu leugnen. Dieser Spiegel besitzt erhebliche Kräfte, dachte er.
„Ja“, gab er schließlich zu.
„Man kann dich also den Riechenden nennen … nein, nein … besser den, der schnüffelt … Warum verschwimmt das Abbild deines Namens auf einmal? … Ah, da ist es wieder. Viel klarer. Hat etwas mit Nase zu tun. Oder mit Nasen, oder so ähnlich.“
Kaniũrũ fiel fast vom Stuhl. Der Herr der Krähen hatte ihn noch nicht ein einziges Mal angesehen. Er hatte die ganze Zeit in das Buch des Spiegels geschaut. Woher weiß er, dass mein Name vom Wort „Nase“ abgeleitet ist?, fragte er sich.
„Ja“, antwortete Kaniũrũ mit leicht zitternder Stimme.
„Und jetzt zu deinem Beruf! Du hast die Schatten von Menschen, Tieren, Pflanzen, Bächen und dem Busch eingefangen.“
„Wie?“, fragte Kaniũrũ, als wüsste er nicht, wovon der Herr der Krähen redete.
„Auf Papier oder in Stein, oder so ähnlich?“
„Ja. Natürlich“, stimmte Kaniũrũ eilig zu.
„Jetzt aber beschattest du Leute, statt ihre Schatten einzufangen.“
„Was?“
„Du weißt, der Herr trug den Fischern auf, von ihren Netzen zu lassen und ihm zu folgen; er wollte sie zu Menschenfischern machen. Auch du musst den Ruf deines Herrn und Meisters vernommen haben, vom Abbild der Dinge zu lassen und sich ihm anzuschließen, damit du ein Fischer von Männern und Frauen werden kannst.“
„Ja, so in etwa“, gab Kaniũrũ zaghaft zu.
„Die Schrift im Spiegel ist verblichen“, fuhr der Herr der Krähen fort, als er nun den Kopf hob und Kaniũrũ ansah. „Ich bin jetzt bereit, mir deine Geschichte anzuhören. Aber einen Moment noch!“, sagte er und sah wieder in den Spiegel. „Hier steht noch etwas geschrieben. Es hat damit zu tun, dass du gefangen gehalten wirst. Ich sehe ein Herz, das eingesperrt ist. Hält jemand dein Herz gefangen?“
„Was meint der Spiegel damit?“
Einen Augenblick lang glaubte Kaniũrũ, der Herr der Krähen würde auf Jane Kanyori anspielen. Bei diesem Gedanken war ihm zum Lachen zumute, weil er sie nur zur Geldwäsche und als Sexobjekt benutzte.
„Sie meinen die Frau in der Bank?“, fragte Kaniũrũ, als wüsste der Herr der Krähen bereits über sie Bescheid. „Jane Kanyori wird nie mein Herz erobern. Sie ist nicht übel, aber sie ist nicht mein Typ und hat nicht meine Klasse“, fügte er hinzu. Er hatte völlig vergessen, als einfacher Arbeiter hier aufgetaucht zu sein.
„Warum? Hat bereits eine andere, die dein Typ ist und deine Klasse hat, dein Herz gefangen genommen?“
„Ja“, sagte Kaniũrũ schnell und wunderte sich, wie der Herr der Krähen sowohl von Jane Kanyori als auch von Nyawĩra wissen konnte. Es war sinnlos zu leugnen, was der Zauberer ohnehin schon wusste. „Es gibt eine, die schon vor langer Zeit mein Herz erobert hat. Sie ist etwas Besonderes, Mr. Herr der Krähen.“
„Und wo ist sie jetzt?“, fragte der Herr der Krähen.
„Das weiß ich nicht. Ich wünschte, ich wüsste es.“
„Suchst du sie?“
„Tag und Nacht. Aber deshalb bin ich nicht hier.“
„Die Bilder im Spiegel sind weg. Es ist nur noch Dunkelheit zu sehen“, sprach der Herr der Krähen, der jetzt wieder Kaniũrũ anschaute. „Also, sag mir, welch schlechter Wind hat dich zu meinem Schrein geweht?“
„Kein schlechter Wind, ganz und gar nicht“, antwortete Kaniũrũ. „Vielmehr eine gesunde Brise von Wohlstand.“
„Land? Kühe und Ziegen?“
„Nein. Mehr als Land, Ziegen und Kühe. Geld.“
„Neureich also? Neues Geld, das dir plötzlich zugefallen ist?“
„Ja“, sagte Kaniũrũ. „Aber Sie wissen ja, wie unsere Leute so sind. Getrieben vom Neid.“
„Und du fürchtest, dass sie deinen neuen Wohlstand mit einem Fluch belegen könnten? Dass sie deinen Reichtum ebenso schnell verschwinden lassen könnten, wie er gekommen ist?“
„Sie haben meine Gedanken erkannt, Herr der Krähen. Deshalb wünsche ich mir einen Zaubertrank, einen Bann, irgendetwas, das meinen Reichtum für immer schützt, damit ich wieder friedlich schlafen kann.“
„Weiß dein Chef von deinem neuen Reichtum?“
„Nein.“
„Sonst jemand?“
„Herr der Krähen, ein Sprichwort sagt, wer allein isst, stirbt allein. Aber es gibt Delikatessen, die sollte man allein verzehren, auch auf die Gefahr hin, allein zu sterben.“
„Du bist noch so jung und schon so gewandt im Umgang mit Sprichwörtern.“
„Graues Haar ist nicht unbedingt ein Zeichen großer Weisheit“, meinte Kaniũrũ und freute sich über das Kompliment.
Die Schmeichelei ließ ihn glauben, der Herr der Krähen wäre ein echter Wahrsager, ein richtiger Seher nützlicher Wahrheiten, und er fing an, ihn zu mögen.
„In diesem Schrein sollen Kranke behandelt werden – weißt du das?“, sprach der Herr der Krähen. „Wir verhexen das Böse. Deshalb frage ich dich, hat dein Besitz dich bereits krank gemacht?“
„Oh, nein, nein, ich bin kein bisschen krank. Ich meine, es ist keine wirkliche Krankheit.“
„Ich kann nur richtige Krankheiten aus den tiefsten Höhlen des Körpers oder der Seele vertreiben. Darum kann ich dir nicht helfen.“
„Bitte helfen Sie mir“, flehte Kaniũrũ ihn an. „Ich zahle, was immer Sie für Ihre Dienste fordern.“
„Was quält dich denn? Dein Herz, deine Seele oder beides?“
Kaniũrũ erkannte schnell, dass er eine Krankheit erfinden musste. Doch was für eine? Das Video fiel ihm ein und Tajirikas Bericht über die Krankheit, bei der ihm die Worte im Hals stecken geblieben waren. Nun ja, niemand hat ein Monopol auf eine bestimmte Krankheit. Und wenn er Tajirikas Stuhl als Vorsitzender von Marching to Heaven übernehmen konnte, warum nicht auch dessen Krankheit? Kaniũrũ senkte den Kopf, als würden ihn schwerwiegende Dinge bedrücken. Nach einer Weile hob er den Blick und räusperte sich.
„Um die Wahrheit zu sagen, es fällt mir schwer, über meine Erkrankung zu reden. Die Situation ist Folgende: Manchmal, wenn ich zu sehr über meinen neuen Wohlstand nachdenke, bleiben mir die Worte in der Kehle stecken, Herr der Krähen, und wenn ich versuche, sie herauszuzwingen, kann ich nur ‚wenn‘ sagen.“
„Nur ein einziges Wort?“
„Ja, das aber wiederholte Male.“
„Und wann überkommt dich diese schreckliche Plage? Wodurch wird sie ausgelöst? Bleiben die Worte nur dann stecken, wenn du an deinen Reichtum denkst?“
„Manchmal, aber manchmal auch dann, wenn ich an gar nichts Bestimmtes denke.“
„Und was willst du nun?“
„Zunächst brauche ich eine Medizin, die verhindert, dass mir die Worte im Hals stecken bleiben.“
„Wann hattest du den letzten Anfall?“
„Oh, heute Morgen. Ich wollte sagen, am späten Nachmittag. Deswegen bin ich im Dunkeln hergekommen. Ein Notfall sozusagen.“
„Aber jetzt ist die Krankheit wieder weg, sie hat nachgelassen.“
„Ja. Es kommt und geht. Immer völlig überraschend.“
„Und ist es schlimmer als sonst?“
Kaniũrũ versuchte sich zu erinnern, was Tajirika im Video gesagt hatte, aber ihm fielen nicht mehr alle Einzelheiten ein. Er musste improvisieren.
„Meistens passiert es abends zu Hause, nach der Arbeit im Büro. Und wenn ich in einen Spiegel sehe, wird es schlimmer.“
„Was siehst du im Spiegel.“
„Mein Gesicht.“
„Sicher?“
„Ja doch. Mein Gesicht. Ich kenn doch mein Gesicht.“
„Und das Spiegelbild bringt dich dazu, ‚wenn‘ zu sagen?“
„Genau.“
„Die Krankheit schlägt also nur dann zu, wenn du dich selbst im Spiegel siehst?“
„Ja, genau. Das stimmt. So ist es.“
„Auch im Büro? Ich meine, wenn du dich im Büro im Spiegel betrachtest?“
„Überall, das kann ich Ihnen sagen“, antwortete Kaniũrũ und ließ seiner Phantasie freien Lauf, um dem Herrn der Krähen ein Höchstmaß an Mitgefühl zu entlocken. „Es ist eine schreckliche Krankheit, Mr. Herr der Krähen. Wo immer ein Spiegel ist, lauert die Krankheit. Auf den Toiletten der großen Hotels und Nachtklubs. In Bussen und Taxis. Es ist, als würden meine Feinde mir die Krankheit immerzu aufs Neue auferlegen, wo ich auch bin. Mr. Herr der Krähen, ich habe sogar Angst, meine Wohnung zu verlassen.“
Auf einmal machte der Herr der Krähen etwas, worauf Kaniũrũ nicht vorbereitet war. Er drückte ihm einen Spiegel in die Hand.
„Hier! Nimm. Er sieht alles“, sprach der Herr der Krähen. „Sogar das, was am verborgensten ist.“
Kaniũrũs Hände zitterten, als er nach dem Spiegel griff. Unzählige Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Einen Moment dachte er daran, einen Anfall vorzutäuschen und zahllose „Wenns“ herauszusprudeln, doch bekam er es mit der Angst zu tun. Angenommen, der Spiegel kann wirklich meine Geheimnisse sehen? Nein, ich werde mich nicht in dem Spiegel betrachten, auf keinen Fall. Kaniũrũ tat nicht einmal so, als sähe er hinein.
„Ich will nicht behaupten, dass die Worte völlig stecken bleiben“, setzte er an und versuchte, sich aus dem Dilemma zu befreien, in das er sich gerade hineinmanövriert hatte. „Ich meine, es ist mehr eine Art Flüstern, ein Echo, kein klarer Laut. Das Wort flüstert sich sozusagen in mein Gehirn. Ach, Mr. Herr der Krähen, wenn es im Hirn wispert, ist das schlimmer, als würde man normale Geräusche hören, weil es den Gedankenfluss behindert. Ich brauche eine Schutzmedizin um meinen gesamten Besitz herum, sie wird meine Angst eindämmen, die ganz offensichtlich die Ursache dieses Wisperns ist. Ich brauche auch Schutz vor meinen Feinden, eine fortdauernde Heilmethode. Hier haben Sie den Spiegel zurück.“
Der Herr der Krähen nahm den Spiegel nicht. Er sah Kaniũrũ lange und fest an.
„Ist das alles, was du willst?“, fragte er Kaniũrũ.
„Ja.“
„Dann mach dir keine unnötigen Sorgen“, sprach der Herr der Krähen. „Du bist jung. Du kannst dein Leben noch retten. Es ist notwendig, dass du dich von den Dingen befreist, die dir diese Angst einflößen und einem neuen Selbst, einem anderen Selbst, im Weg stehen. Sie sind der Feind.“
„Vielen Dank, Mr. Herr der Krähen. Sie haben meine Gedanken vollkommen richtig gelesen. Mich von den Feinden befreien, die sich mir in den Weg stellen oder zumindest die Macht neutralisieren, die sie über mich haben. Ich glaube an Sie und Ihre Medizin.“
„Halt den Spiegel vor dich“, forderte der Herr der Krähen ihn auf. „Halt ihn fest. Jetzt sieh direkt hinein, ohne abzuschweifen. Konzentriere all deine Gedanken, deine Sehnsüchte, deine Bedürfnisse in deinem Blick. Wenn du lügst, belügst du dich selbst. Wenn du die Wahrheit sprichst, sagst du dir selbst die Wahrheit. Wenn du dich bereit fühlst, die Magie heilender und schützender Worte zu empfangen, lass es mich wissen.“
„Ich bin bereit. Ich bin bereit für Schutz und Heilung“, sagte Kaniũrũ schnell, weil er fürchtete, der Herr der Krähen könnte seine Meinung ändern.
„Siehst du auch direkt in den Spiegel?“
„Ja, ja.“
„Dann sprich mir nach: Nimm von mir den Feind des Lebens; die Tage der Diebe und Räuber sind gezählt.“
„Nimm von mir den Feind des Lebens; die Tage der Diebe und Räuber sind gezählt.“
„Ich möchte, dass du das sieben Mal aufsagst.“
Kaniũrũ tat, wie ihm gesagt wurde, und sprach die magischen Worte sieben Mal. Seine Augen und ihr Spiegelbild schauten sich an, seine Lippen und ihr Spiegelbild ahmten einander sieben Mal nach.
„Jetzt entferne all den Schmalz aus deinen Ohren und alles andere, das meine Worte abwehren könnte“, sprach der Herr der Krähen voller Autorität. „Hör zu! Stell dich jeden Morgen vor einen Spiegel, schau hinein und sprich sieben Mal die Formel. Mach das sieben Monate lang jeden Tag.“
„Ist das alles?“, fragte Kaniũrũ.
„Das ist alles“, antwortete der Herr der Krähen und nahm ihm den Spiegel ab.
„Und das wird einen schützenden Zauber über mein Leben und meinen Besitz legen?“
„Ja, wenn du es richtig machst.“
„Was habe ich zu bezahlen?“
„Nichts, denn ich habe dir weder Kräuter noch Pulver oder Flüssigkeiten gegeben. Du hast eine Krankheit des Reichtums und des Besitzes, und die Medizin dagegen sitzt im Herzen. Deine Seele und alles, was du besitzt, wird gesunden, wenn du dich mit den richtigen Worten gegen die Feinde deiner Seele wappnest.“
„Mit Worten?“
„Ja, mit Worten. Und Taten, die aus den richtigen Worten entspringen. Also achte genau darauf, was du von jetzt an sagst. Was einen Menschen vergiftet, geht durch seinen Mund. Und ich will nichts davon erfahren, dass du das, was du im Schrein des Herrn der Krähen gesehen oder gehört hast, anderen Ohren weitergibst. Hast du mich verstanden?“
„Ja.“
„Sprich mir nach: Und wenn ich ausspreche, was ich nicht sagen darf, mögen die Worte mich verraten.“
„Und wenn ich ausspreche, was ich nicht sagen darf, mögen die Worte mich verraten.“