V
«Beweg dich, Arschloch», sagte Costis und stieß Knox den Lauf seiner Kalaschnikow in den Rücken.
Knox schaute über seine Schulter. «Du wirst für die Sache mit Rick bezahlen», versicherte er.
Aber Costis schnaubte nur und stieß noch härter zu. Und tatsächlich war Knox nicht gerade in der Position, Drohungen auszusprechen. Als er im Flackerlicht der Taschenlampen durch den dunklen Gang in den Bauch des Berges ging und immer wieder den Kopf einziehen musste, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen, hatte er das sichere Gefühl, dass dies nicht nur Alexanders Grab war, sondern auch das von Gaille und ihm, wenn er die Situation nicht irgendwie umbiegen konnte.
Der Gang öffnete sich plötzlich in eine große Kammer. Offenbar waren die Griechen bereits hier gewesen, denn sie reagierten ohne Überraschung auf die phantastischen Skulpturen an den Wänden. Für Knox jedoch waren sie so bemerkenswert, dass er für einen Augenblick fast seine missliche Lage vergaß. Seine Handgelenke waren zwar gefesselt, aber nicht auf den Rücken gebunden. Er nahm einem der Griechen die Taschenlampe ab und ging zu der Skulptur, die Alexander dabei zeigte, wie er seine Männer in den Kampf führte. Gaille begleitete ihn, dann kamen auch Elena und Dragoumis hinzu. Für einen Moment schien es, dass dort vier Wissenschaftler friedlich auf einer Konferenz beisammenstanden und über ein seltenes Artefakt diskutierten.
Gaille bückte sich, um die Inschrift zu übersetzen. «Dann schenkte ihm Pallas Minerva die Kraft, alle anderen zu übertreffen. Feuer flammte wie die Sommersonne von seinem Schild und Helm.» Sie drehte sich zu Elena um. «Haben Sie das auch so übersetzt?», fragte sie.
«So ziemlich», meinte Elena nickend. «Es ist aus der Ilias, nicht wahr?», fragte sie dann etwas unsicher.
«Ja», stimmte Gaille zu. «Nur ein bisschen abgewandelt.»
Elena nickte etwas zuversichtlicher. «Auf jeden Fall mag er Homer», sagte sie. «Alle Inschriften stammen aus der Ilias.»
«Nicht alle», korrigierte Dragoumis. Er deutete auf die Wand gegenüber. «Der Gordische Knoten taucht in der Ilias nicht auf.»
«Richtig», pflichtete Knox ihm bei. Er ging zu der Skulptur und las die Inschrift. «Wer diesen Knoten auf diesem Joch löst, wird der Herrscher von Asien werden.» Er schaute sich zu Dragoumis um.
«Sie haben uns Ihr Wort gegeben, ja?», fragte er.
«Ja», sagte Dragoumis.
«Gut», meinte Knox. Er ging zu der Skulptur, in der Alexander den Perser ersticht, und nahm mit beiden Händen die Bronzeaxt. Sie fühlte sich kalt an und war erstaunlich schwer.
«Haltet ihn auf!», rief Nicolas.
«Sei still», sagte Dragoumis gereizt.
Knox ging mit der Axt zum Gordischen Knoten und hackte ohne Umschweife auf den alten Stamm ein. Holz splitterte. Er schlug erneut zu, dann ein drittes Mal. Seine Hände begannen zu zittern. Aber die stumpfe Schneide erfüllte noch ihren Zweck, und nach einer Weile hatte er den Stamm durchtrennt. Das eine Ende lag reglos da, während das andere, gezogen von einem unsichtbaren Gewicht, langsam in der Felswand verschwand. Ein leises Kratzen war zu hören, dann kehrte Stille ein. Sie warteten gespannt, aber die Sekunden verstrichen und nichts geschah.
«War es das?», fragte Nicolas höhnisch. «Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass …»
Doch in diesem Moment ertönte im Fels über ihren Köpfen ein tiefes Grollen, das lauter und lauter wurde. Staub fiel von der Decke, der Boden vibrierte. Jeder schaute nach oben. Was war das? Dann brach das Geräusch ab. Alles war wieder still. Sie schauten sich fragend an, entspannten sich wieder und …
Plötzlich explodierte die Wand rechts von Knox. Steinscherben flogen durch die Kammer. Knox hatte kaum Zeit zu reagieren. Er ließ die Axt fallen, packte Gaille, warf sich mit ihr auf den Boden und drückte ihr Gesicht an seine Brust. Steinsplitter krachten auf seine Beine und seinen Rücken und prallten von seinem Kopf.
Aber bevor ihnen überhaupt klar wurde, was geschah, war es auch schon wieder vorbei. Der Steinschlag beruhigte sich, der donnernde Lärm erstarb, ihre Ohren dröhnten. Hustend und würgend kamen die Leute zu sich, klopften den Staub und die Steinsplitter von ihren Sachen und untersuchten sich vorsichtig nach Verletzungen. Einer der Griechen fluchte, er hatte sich offenbar einen Knöchel verstaucht. Alle anderen waren jedoch mit ein paar Schnitten und blauen Flecken davongekommen. Es dauerte eine Weile, bis Knox klar wurde, welche Gelegenheit es für Gaille und ihn war, einfach davonzulaufen. Doch als er sich umschaute, sah er sofort, dass Costis ihn angrinste und sein Gewehr auf ihn richtete.
Er rappelte sich auf und half Gaille hoch. Jemand nahm eine Taschenlampe und leuchtete an die Stelle, an der vorher die Wand gewesen war. Dort klaffte nun ein großes Loch. Die Finsternis dahinter ließ einen noch größeren Raum erahnen, auf dem Boden funkelten metallische Gegenstände. Als sie vorsichtig näher traten, knirschten Sandsteinschotter und Marmorsplitter unter ihren Füßen.
Knox schaute hinauf in einen runden Schacht, der fast senkrecht über ihn in den Berg führte und sich dann in der Dunkelheit verlor. Als er den Gordischen Knoten durchtrennt hatte, war offenbar der Steinschlag ausgelöst worden. Aber dann hatte sich Knox durch das Loch gezwängt, wo andere Dinge seine Aufmerksamkeit erregten. Der in den Fels gehauene Gang führte im Zickzack am Schacht vorbei, sodass keine Steine hineingestürzt waren. Er wurde immer breiter. In die Wände waren Nischen geschlagen, in denen lebensgroße, bemalte Alabasterstatuen von Nymphen und Satyren standen, von einem sich aufbäumenden Pferd und von Dionysos auf einer Liege, den Kopf zurückgeworfen, aus einem Kelch trinkend, umgeben von Efeuranken und roten Weintrauben. Sie kamen an weiteren Objekten vorbei. Braune, rote und schwarze attische Vasen, die mit Szenen aus Alexanders Leben bemalt waren, zu unbeholfen, um das Werk von Kelonimos zu sein, sodass es sich vielleicht um die persönlichen Huldigungen der Schildknappen handelte. Das Holzmodell eines Streitwagens. Ein paar primitive Tonfiguren. Eine silberne Weinkaraffe mit passenden Trinkgefäßen. Ein Bronzekessel. Eine goldene Schüssel mit ungeschliffenen Edel- und Halbedelsteinen: Rubine, Türkise, Lapislazuli, Amethyste, Diamanten, Saphire. Ein goldener Kelch mit einem eingravierten sechzehnzackigen Stern und daneben ein goldenes Glöckchen, das Knox schmerzhaft an Rick erinnerte. Und dann, an der rechten Wand, das Bild von Alexander mit einem goldenen Zepter in seinem Streitwagen, das jenem Fries ähnelte, das Diodorus Siculus als Teil des Katafalks beschrieben hatte. Jetzt konnte Knox endlich die Frage beantworten, wie Kelonimos und die Schildknappen all ihre Bemühungen hatten finanzieren können. Der Katafalk hatte sich in ihren Händen befunden. Vielleicht waren diese Schildknappen genau die Einheit gewesen, die Ptolemäus beauftragt hatte, den Leichenwagen zurück nach Ägypten zu bringen. Als ihnen klar geworden war, dass Ptolemäus Alexanders letzten Wunsch missachten wollte, hatten sie ihre Pläne jedoch geändert.
Costis stieß ihn wieder in den Rücken. Sie gingen weiter. Woran sie nun vorbeikamen, konnte man nur als antike Bibliothek bezeichnen: an Elfenbeinhalter gebundene Schriftrollen, die in loculi in den Sandsteinwänden lagerten, Bücher in offenen Silber- und Goldkästchen, deren Handschrift auf dem gelben Pergament und Papyrus noch schwach zu lesen war, sowie Zeichnungen von Kräutern, Blumen und Tieren.
«Mein Gott!», murmelte Gaille, die Knox mit großen Augen ansah. Ihr war der materielle und historische Wert dieses Fundes völlig bewusst. Der Gang öffnete sich erneut, und sie gelangten in eine riesige Kammer mit einer Gewölbedecke, die doppelt so groß war wie die erste. Auf dem Boden glitzerten metallische Artefakte, die Wände und die Decke waren mit goldenen Blättern verziert, sodass das Licht der Taschenlampen von allen Seiten reflektierte. Außerdem befanden sich hier auf zwölf Altären Grabbeigaben wie Ringe, Halsketten, Amphoren, Münzen und Schmuckkästchen. Dazu Waffen: ein Schild, ein Schwert, ein Brustpanzer, ein Helm mit Federbusch. Und im Zentrum der Kammer, im Herzen der Altäre und im Fokus ihrer Taschenlampen stand eine hohe Pyramide. Auf jeder Seite führten Stufen zur Spitze, auf der ein prächtiger, goldener Sarkophag ruhte.
Jetzt zweifelte niemand mehr daran, was sie gefunden hatten.