I
«Der Widder mit den zwei Hörnern, den du gesehen hast, bedeutet die Könige von Medien und Persien», las der alte Priester laut aus der aufgeschlagenen Bibel auf seiner Kanzel vor. «Der Ziegenbock ist der König von Jawan. Das große Horn zwischen seinen Augen ist der erste König.» Er hielt inne und schaute sich in der überfüllten Kirche um. «Jeder Bibelgelehrte wird euch das Gleiche sagen», fuhr er fort, beugte sich ein wenig vor und senkte seine Stimme. «Der Widder, von dem Daniel spricht, repräsentiert den persischen König Darius. Der König von Jawan repräsentiert Alexander den Großen. Diese Verse erzählen von Alexanders Sieg über die Perser. Und wisst ihr, wann Daniel sie geschrieben hat? Sechshundert Jahre vor Christi Geburt, zweihundertfünfzig Jahre bevor Alexander geboren wurde. Zweihundertfünfzig Jahre! Könnt ihr euch vorstellen, was in zweihundertfünfzig Jahren auf der Welt geschehen wird? Aber Daniel konnte es.»
Nicolas Dragoumis nickte beim Zuhören. Er kannte den Text des alten Priesters Wort für Wort. Einen Großteil hatte er selbst geschrieben, dann hatte er mit dem Priester daran gearbeitet, bis jedes Wort perfekt war. Doch erst, wenn ein Text den Leuten vorgetragen wird, konnte man seine Wirkung auch einschätzen. Dies war ihr erster Abend, und bisher verlief alles gut. Die Atmosphäre, sie war entscheidend. Deshalb hatten sie diese alte Kirche gewählt, auch wenn es kein offizieller Gottesdienst war. Durch die Rauchglasfenster schien der Mond. Auf den Dachsparren saß ein Vogel. Dicke Türen schotteten die Außenwelt ab. Weihrauch zog in die Nasen und überdeckte den Geruch von ehrlichem Schweiß. Die einzige Lichtquelle war eine Reihe dicker weißer Kerzen. In der Kirche war es gerade noch so hell, dass die Gemeindemitglieder diese Verse in ihren eigenen Bibeln nachlesen konnten. Sie sollten sich vergewissern, dass sie tatsächlich aus dem achten Kapitel des Buches Daniel stammten, wie der Priester ihnen versichert hatte. Andererseits war es noch dunkel genug, dass eine mystische Atmosphäre bewahrt blieb. In diesem Teil der Welt wussten die Menschen, dass das Leben unergründlicher und komplexer war, als es ihnen die moderne Wissenschaft weismachen wollte. Wie Nicolas glaubten sie an das Heilige und Übersinnliche.
Sein Blick schweifte über die Kirchenbänke. Diese ausgezehrten Menschen. Menschen mit einem harten Leben, die frühzeitig alterten, die mit vierzehn zu schuften begannen, mit sechzehn Eltern wurden, mit fünfunddreißig Großeltern. Nur wenige wurden älter als fünfzig. Unrasierte, von harter Arbeit gezeichnete Gesichter, verbittert durch Enttäuschung, mit dunkler, lederner Haut von zu viel Sonnenlicht und schwieligen Händen vom endlosen Kampf gegen den Hunger. Außerdem waren sie zornig, in ihnen brodelte der Groll gegen ihre Armut und die als Strafe empfundene Steuer, die sie von jedem Verdienst abgeben mussten. Zorn war gut. Er machte sie empfänglich für zornige Gedanken.
Der Priester richtete sich wieder auf, straffte seine Schultern und las weiter vor: «Das Horn des Ziegenbocks brach ab und vier andere traten an seine Stelle; das bedeutet: Aus seinem Volk entstehen vier Reiche; sie haben aber nicht die gleiche Kraft wie er.» Er betrachtete seine Gemeinde mit den leicht manischen blauen Augen eines Wahnsinnigen und eines Propheten. Nicolas hatte eine gute Wahl getroffen. «‹Das Horn brach ab›», wiederholte er. «Dieser Satz meint den Tod Alexanders. ‹Aus seinem Volk entstehen vier Reiche›. Damit ist der Zusammenbruch des makedonischen Reiches gemeint. Wie ihr alle wisst, zerbrach es durch vier Nachfolger in vier Teile: durch Ptolemäus, Antigonus, Kassandros und Seleukus. Und, erinnert euch, das wurde von Daniel fast dreihundert Jahre früher geschrieben.»
Unruhe und Zorn reichten jedoch noch nicht, dachte Nicolas. Wo Armut herrschte, gab es immer Unruhe und Zorn, aber nicht unbedingt eine Revolution. In Makedonien hatte es zwei Jahrtausende Unruhe und Zorn gegeben, da erst die Römer, dann die Byzantiner und die Ottomanen sein Volk unterdrückt hatten. Und jedes Mal, wenn es sich von einem Joch befreit hatte, wurde es in ein neues gezwungen. Vor hundert Jahren hatte die Zukunft einmal rosig ausgesehen. Der Ilindenaufstand 1903 war zwar brutal niedergeschlagen worden, aber 1912 hatten dann hunderttausend Makedonier Seite an Seite mit den Griechen, Bulgaren und Serben gekämpft, um die Türken endlich zu vertreiben. Von Rechts wegen hätte das die Geburtsstunde eines unabhängigen Makedoniens sein müssen. Doch sie waren betrogen worden. Die früheren Verbündeten hatten sich gegen sie gewendet, die so genannten großen Mächte hatten sich schändlich zusammengetan, und Makedonien war durch den erbärmlichen Vertrag von Bukarest in drei Gebiete geteilt worden. Ägäis-Makedonien war an Griechenland gefallen, Vardar-Makedonien an Serbien und Pirin-Makedonien an Bulgarien.
«Aus einem der Hörner ging dann ein anderes Horn hervor. Anfangs klein, wuchs es gewaltig nach Süden und Osten, nach dem Ort der Zierde hin. Das kleine Horn ist Demetrios», behauptete der Priester. «Für all jene von euch, die sich nicht erinnern: Demetrios war der Sohn von Antigonus; er hatte sich selbst zum König von Makedonien erklärt, obwohl er nicht von Alexanders Blut war.»
Der Vertrag von Bukarest! Allein die Bezeichnung verursachte Nicolas Schmerzen. Seit fast hundert Jahren hatten sich die Grenzen, die der Vertrag festgelegt hatte, kaum verändert. Und die verhassten Griechen, Serben und Bulgaren hatten alles getan, um die makedonische Geschichte, Sprache und Kultur auszulöschen. Sie hatten die Redefreiheit verboten und jeden inhaftiert, der auch nur den geringsten Widerstand leistete. Sie hatten die makedonischen Bauern enteignet und Fremde auf deren Land angesiedelt. Sie hatten Dörfer zerstört, Massaker und Vergewaltigungen angeordnet und die Makedonier zu Sklaven gemacht, die sich zu Tode arbeiten mussten. Sie hatten eine ethnische Säuberung im großen Stil durchgeführt, ohne dass die restliche Welt auch nur den leisesten Protest verlauten ließ. Doch all dies hatte nichts genützt. Und das war der Punkt. Die Idee der makedonischen Souveränität war noch immer lebendig. Ihre Sprache, ihre Kultur und Religion hatten voller Stolz in der gesamten antiken Region überlebt. Sie lebten weiter in diesen einfachen, aber stolzen Menschen, in den ruhmreichen Opfern, die sie bereits gebracht hatten und die sie für das große Ziel bald wieder bringen würden. Und dann würde sein geliebtes Land endlich frei sein.
«Es wuchs bis zum Sternenheer am Himmel hinauf und warf einige aus dem Sternenheer auf die Erde herab und zertrat sie. Ja, bis zum Gebieter des Himmelsheeres reckte es sich empor, es entzog ihm das tägliche Opfer und verwüstete sein Heiligtum. ‹Und verwüstete sein Heiligtum›», wiederholte der Priester. «Das ist dieses Land. Das ist Makedonien. Das Land eurer Geburt. Seht ihr, es war Demetrios, der Makedonien ins Chaos stürzte. Demetrios. Im Jahre zweihundertzweiundneunzig vor Christus. Merkt euch dieses Datum. Merkt es euch genau. Zweihundertzweiundneunzig vor Christus.»
In Nicolas’ Tasche summte sein Handy. Er gab nur wenigen Leuten seine Nummer, und seiner Assistentin Katerina hatte er die strikte Anweisung erteilt, an diesen Abend keine Anrufe durchzustellen, es sei denn, es handelte sich um einen Notfall. Er stand auf und ging zur hinteren Tür. «Ja?», fragte er.
«Ibrahim Beyumi möchte Sie sprechen», sagte Katerina.
«Ibrahim wer?»
«Der Archäologe aus Alexandria. Ich hätte Sie nicht gestört, aber er hat gesagt, es wäre dringend. Die Ägypter haben etwas gefunden und brauchen sofort eine Entscheidung.»
«Na schön. Stellen Sie ihn durch.»
«Ja, Chef.»
Nach kurzer Pause ertönte eine andere Stimme am anderen Ende der Leitung. «Herr Dragoumis, hier ist Ibrahim Beyumi. Von der ägyptischen Antiquitäten …»
«Ich weiß, wer Sie sind. Was wollen Sie?»
«Sie waren so großzügig gewesen, uns Unterstützung in bestimmten …»
«Sie haben etwas gefunden?»
«Eine Nekropole. Ein Grabmal. Ein makedonisches Grabmal.» Er holte tief Luft. «So wie es mir beschrieben wurde, scheint es genauso zu sein wie die königlichen Grabmäler in Aigai.»
Nicolas presste das Handy an sein Ohr und drehte sich mit dem Rücken zur Kirche. «Sie haben ein makedonisches Königsgrab gefunden?»
«Nein», sagte Ibrahim hastig. «Bisher habe ich nur die Beschreibung eines Bauleiters. Erst wenn ich es selbst untersucht habe, weiß ich mit Sicherheit, was es ist.»
«Und wann werden Sie das tun?»
«Gleich morgen früh. Vorausgesetzt, ich kann es finanzieren.»
Im Hintergrund sprach noch immer der Priester. «Da hörte ich einen Heiligen reden», intonierte er klangvoll die Bibelverse. «Und ein anderer Heiliger fragte ihn: Wie lange gilt die Vision vom täglichen Opfer, wie lange bleiben die Gräuel der Verwüstung bestehen und werden das Heiligtum und der Ort der Zierde zertreten? Wie lange sollen Makedonien und die Makedonier noch mit Füßen getreten werden? Wie lange noch sollen wir den Preis für die Sünde von Demetrios bezahlen? Erinnert euch, dies wurde dreihundert Jahre vor der Sünde des Demetrios geschrieben, die er im Jahre zweihundertzweiundneunzig vor Christus begangen hat!»
Nicolas hielt sein freies Ohr zu, um sich besser konzentrieren zu können. «Sie brauchen eine Finanzierung, bevor Sie den Fundort untersuchen?», fragte er argwöhnisch.
«Wir sind in einer schwierigen Situation», sagte Ibrahim. «Der Mann, der den Fund gemeldet hat, hat eine sehr kranke Tochter. Er will Geld, bevor er spricht.»
«Aha.» Das unvermeidliche Bakschisch. «Wie viel? Für alles.»
«Sie meinen Geld?»
Nicolas schüttelte genervt den Kopf. Diese Leute! «Ja», erwiderte er übertrieben geduldig. «Ich meine Geld.»
«Kommt darauf an, wie groß die Stätte ist, wie viel Zeit wir haben, welche Artefakte …»
«In amerikanischen Dollar. Tausend, zehntausend oder hunderttausend?»
«Ach so. Normalerweise kostet eine solch dringliche Ausgrabung sechs- oder siebentausend Dollar die Woche.»
«Wie viele Wochen?»
«Das hängt davon ab, ob …»
«Eine? Fünf? Zehn?»
«Zwei. Drei, wenn wir Glück haben.»
«Gut. Kennen Sie Elena Koloktronis?»
«Die Archäologin? Ich habe sie ein-, zweimal getroffen. Wieso?»
«Sie ist bei einer Ausgrabung im Nildelta. Meine Assistentin wird Ihnen ihre Kontaktnummer geben. Nehmen Sie Elena morgen mit. Wenn sie sich für dieses Grabmal verbürgt, wird Ihnen die Dragoumis-Gruppe zwanzigtausend Dollar geben. Ich denke, damit müssten alle Ihre Kosten für die Ausgrabung sowie für jedes weitere kranke Kind, das noch auftaucht, gedeckt sein.»
«Ich danke Ihnen», sagte Ibrahim. «Das ist äußerst großzügig.»
«Reden Sie mit meiner Assistentin. Sie wird Ihnen unsere Bedingungen erklären.»
«Bedingungen?»
«Glauben Sie, wir stellen Kapital in dieser Größenordnung ohne Bedingungen zur Verfügung?»
«Aber …»
«Wie gesagt, reden Sie mit meiner Assistentin.» Und damit klappte er sein Handy zu.
«Und er sagte zu mir: Zweitausenddreihundert Tage wird es dauern; dann erhält das Heiligtum wieder sein Recht. ‹Zweitausenddreihundert Tage!›», rief der Priester frohlockend. «Zweitausenddreihundert Tage! Aber das ist nicht der Originaltext. Der Originaltext spricht von den ‹abendlichen und morgendlichen Opfern›. Und diese Opfer finden einmal im Jahr statt. Zweitausenddreihundert Tage bedeuten deshalb nicht zweitausendreihundert Tage. Keineswegs. Sie bedeuten zweitausenddreihundert Jahre. Und wer kann mir sagen, welches Jahr zweitausenddreihundert Jahre nach der Sünde des Demetrios ist? Keiner? Dann sage ich es euch. Es ist das Jahr zweitausendundacht nach Christus. Jetzt. Es ist dieses Jahr. In diesem Jahr wird unser Heiligtum endlich gereinigt. So steht es in der Bibel, und die Bibel lügt nicht. Und erinnert euch, das alles hat Daniel genau vorausgesagt, sechshundert Jahre vor Christi Geburt.» Er hob mahnend und warnend einen Finger. «So steht es geschrieben, Leute. So steht es geschrieben. Unsere Zeit ist gekommen. Unsere Zeit ist gekommen. Ihr seid die auserwählte Generation, auserwählt von Gott, um sein Gebot zu erfüllen. Wer von euch will sich seinem Ruf widersetzen?»
Zufrieden beobachtete Nicolas, wie die Leute Blicke wechselten und ein erstauntes Raunen vernehmen ließen. Ihre Zeit war tatsächlich gekommen, dachte er, und das war kein Zufall. Sein Vater hatte seit vierzig Jahren darauf hingearbeitet, er selbst seit fünfzehn. Sie hatten Anhänger in jedem Weiler, Dorf und in jeder Stadt. In den Bergen hatten sie gewaltige Waffen- und Proviantlager angelegt. Veteranen der Balkankriege hatten ihnen Geschütztechnik und Guerillataktiken beigebracht. Sie hatten Schläfer in regionalen und nationalen Regierungen, Spione in der Armee, Freunde in der internationalen Gemeinschaft und der makedonischen Diaspora. Außerdem war der Propagandakrieg bereits in vollem Gange. Die Programme der Fernseh- und Radiosender der Dragoumis-Gruppe waren randvoll mit Sendungen, die einzig darauf abzielten, die Makedonier aufzurütteln, ihre Zeitungen waren voll von Artikeln über makedonische Heldentaten und Opfer, voll von Berichten über den luxuriösen Lebensstil und die unglaubliche Grausamkeit ihrer Athener Unterdrücker. Und es funktionierte. Zorn und Hass breiteten sich in ganz Nordgriechenland aus, selbst unter jenen, die wenig Sympathie für die separatistische Bewegung hatten. Die Bürger begehrten auf, es gab Unruhen und immer mehr ethnische Übergriffe. Alles deutete auf eine bevorstehende Eskalation hin. Aber noch waren sie nicht am Ziel. Sosehr es Nicolas auch ersehnte, noch waren sie nicht so weit. Für eine Revolution mussten die Menschen so aufgestachelt sein, dass sie zum Märtyrer werden wollten. Wenn man jetzt die Waffen verteilte, würde es für eine Weile hoffnungsvoll aussehen, aber dann würde alles im Sande verlaufen. Der Gegenschlag würde kommen. Die griechische Armee würde aufmarschieren, Familien würden bedroht und Untersuchungen durchgeführt werden. Es würde willkürliche Verhaftungen, Rückschläge und Gegenpropaganda geben. Ihre Sache würde um Jahre zurückgeworfen, vielleicht sogar unwiderruflich lahmgelegt werden. Nein. Sie brauchten noch etwas mehr, bevor es beginnen konnte. Etwas Besonderes. Ein Symbol, für das das makedonische Volk bis zum Tode kämpfen würde.
Und nach dem Anruf aus Ägypten war es immerhin möglich, dass sie dieses Symbol bald haben würden.